Der überforderte Sozialwohnungsbau

Frankreich: wachsende Wohnungsnot und die Trennung der Schichten

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"Wie soll ich meine Miete bezahlen und wie soll ich das später im Alter schaffen?" Die bange Frage ist in der reichen Stadt München, bekannt für exorbitante Mieten, häufig zu hören; gestellt wird sie nicht nur von Personen, die offensichtlich arm sind oder keine Arbeit haben, sondern von Angestellten mit Tariflohn. Aus Paris, seit Jahrzehnten für spektakuläre Mietpreise bekannt, kam in der jüngsten Zeit (nicht nur eine) Meldung von Mietern, die aus einer 4 qm-Abstellkammer unter dem Dach geworfen wurden, die für 200 Euro monatlich vermietet wurden. Dass dies nur ein bezeichnendes scharfes Schlaglicht auf eine größere, landesweite Misere ist, offenbart nun der neue Jahresbericht (PDF) der Fondation Abbé Pierre, die sich insbesondere durch ihr Engagement für Obdachlose einen Namen gemacht hat.

Die landesweite Rufnummer, an die sich Personen wenden können, wenn ihnen die Räumung droht, ist überlastet. Le Monde berichtete kürzlich von einer Zunahme der Anrufe im Dezember 2012 von über 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Als absolute Zahl gab die Zeitung 15.516 Bitten um ein Obdach an. Der Jahresbericht fügt dem an, dass 78% der Anrufer im vorgängigen Monat November keine positive Antwort auf ihr Hilfsgesuch erhalten haben. Und bei einem von zwei Fällen fand sich nur für eine Nacht eine Unterkunft.

Das ist nur ein Ausschnitt der Lage im Land, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Hilfssysteme und das soziale Netz überfordert sind. Dass es immer mehr Haushalte gibt, denen selbst die Angebote des sozialen Wohnungsbaus zu teuer werden. Die Paris, aber auch andere Städte, die reicheren, die an der Mittelmeerküste liegen, als Zentrifugen schildert, die die Ärmeren nach draußen ins Land schleudert, extra muros.

Obwohl der Sozialbau in Frankreich weit über deutschen Vergleichszahlen, kommt er mit der in den letzten Jahre gestiegenen Nachfrage bzw. der Verarmung der unteren Einkommensklassen nicht mehr zurecht, so die Beobachtung der Fondation Abbé Pierre. Dort spricht man von einer sichtbaren Segregation der ärmeren Bevölkerung von den Bessergestellten und davon, dass es nicht danach aussieht, als ob sich dieses Phänomen bald ändern würde.

Im Zahlenüberblick sieht der Lagebericht zur Wohnmisere in Frankreich so aus:

150.000 Personen sind obdachlos.
411.000 sind bei Dritten untergebracht. 100.000 wohnen das ganze Jahr über auf einem Campingplatz. 85.000 wohnen in Gelegenheitsunterkünften. 1.220.000 warten auf eine Sozialwohnung 354.000 Wohnungen haben keine ausreichenden sanitären Einrichtungen. 1. 340.000 Wohnungen sind ohne Zentralheizung.

33.000 Personen schlafen in Kellern, unter Treppen, auf Baustellenb, auf Parkplätzen, in Zelten, U-Bahnstationen, Bahnhöfen, Einkaufzentren oder in Notunterkünften, präzisiert der Nouvel Observateur. 66.000 sind in sozialen Notunterkünften, die längere Aufenthalte gestatten, untergebracht und 34.000 in Einrichtungen, die Schlafgelegenheit nur für eine kürzere Zeit zur Verfügung stellen.

In rund 15.000 Fällen wurde obdachlos gewordenen Personen ein kurzer Hotelaufenthalt als Notlösung angeboten. Das ist in Frankreich üblich, ist aber wegen der höheren Kosten ein Mittel, auf das nicht leicht zurückgegriffen wird.

Insgesamt zählt man 3,6 Millionen Personen, die nicht oder nur schlecht untergebracht sind. Der Bericht schätzt die Zahl derjenigen, die mit der Wohnungskrise in Berührung kommen, auf 10 Millionen. Als Warnzeichen für die Verschlechterung der Verhältnisse wird auf die steigende Zahl der Wohnungszwangsräumungen hingewiesen. Im letzten Jahr sollen es 119.000 gewesen sein, 3.000 mehr als im Vorjahr.

Zum Vergleich: die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe meldete für 2010 354.000 Wohnungsnotfälle in Deutschland, 248.000 Personen ohne Wohnung und 106.000, bei denen der Verlust der Wohnung bevorstand. Das Ausmaß der Wohnungslosigkeit sei zwischen 2008 und 2010 deutlich gestiegen, warnt man auch dort.