Brüderle-Debatte: Die passive Revolution im Journalismus

Das journalistische Feld hat sich selbst enteignet. Die Entpolitisierung des Politischen in den Medien schreitet weiter voran

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Der stern-Artikel "Der Herrenwitz", aber vor allem auch die sich anschließende "Berichterstattung", zeigen: Im journalistischen Feld hat eine passive Revolution stattgefunden. Der über viele Jahre andauernde Akt der inneren Umwälzung im journalistischen Kosmos hat zu radikalen Veränderungen geführt. Wir befinden uns jetzt in der Ära des Postjournalismus. Darüber muss gesprochen werden, denn vielleicht ist noch etwas zu retten von dem, was früher einmal als Journalismus bekannt war. Viel dürfte es nicht mehr sein.

Bezeichnender Weise war es ein Erlebnis am 11. September 2001, aus dem ich schloss, dass das journalistische Feld bald vor einem großen Problem stehen würde. Aber der Reihe nach.

Ich stand am Schreibtisch eines Kollegen und blickte fassungslos, wie alle in der Redaktion, auf den Bildschirm, wo Aufnahmen zu sehen waren, die ein schwer beschädigtes World Trade Center zeigten.

Plötzlich fiel mir, im hinteren Teil des Raums sitzend, unsere Praktikantin auf, die ihren Kopf über den Schreibtisch gesenkt hatte und auf etwas starrte und offensichtlich am Nachdenken war. Ich fragte sie, was sie da tue, sie antwortet mir, dass sie sich gerade ihre Notizen anschaue, die sie bei einem Termin gemacht habe - wegen eines Artikels für den nächsten Tag. Ich fragte sie, ob sie überhaupt mitbekomme, was gerade passiert. Sie sagte: "Ja." Ich fragte Sie: "Und?", weil ich wissen wollte, wie Sie darüber dachte. Sie antwortet: "Krass!" und und senkt ihren Kopf wieder in ihre Unterlagen.

Das war ein Schlüsselerlebnis.

Die Praktikantin war, wie wir alle, Zeuge eines historischen politischen Ereignisses, dessen Auswirkungen zu dem Zeitpunkt noch niemand einschätzen konnte. Selbst die Vermutung, die Anschläge in den USA könnten zu einem 3. Weltkrieg führen, standen im Raum. Doch das einzige, was einer möglicherweise angehenden Journalistin zu den Geschehnissen einfällt war das Wort "krass!". Eigentlich hätte der für die Praktikanten verantwortliche Redakteur sofort sagen müssen: "Lassen Sie das mal mit dem Artikel, hier sind die kleinen Geschenkartikel, wie ein Kugelschreiber und ein Block, den alle Praktikanten bei uns bekommen. Es war nett, dass Sie da waren, Sie dürfen jetzt gehen, aber bitte, tun Sie der Welt einen Gefallen, überlegen Sie sich nochmal gut, ob Sie wirklich vorhaben, Journalistin zu werden." Das ist leider nicht passiert.

An den Namen der Praktikantin kann ich mich nicht mehr erinnern, ihr Gesicht, ihr Aussehen, habe ich weitestgehend vergessen. Aber die Merkmale ihres Verhaltens, das, was sie verkörpert, das habe ich von da an immer wieder angetroffen, und es sind jene Verhaltens- und Einstellungsmerkmale, die die passive Revolution im journalistischen Feld mitgetragen haben.

Zeitsprung - ein "politisches Porträt" und der Geist des Journalismus

Laura Himmelreich, 29 Jahre, Journalistin beim Stern, begleitet den FDP-Politiker Rainer Brüderle ein Jahr lang bei seiner Arbeit als Spitzenpolitiker. Das Resultat ihrer Arbeit ist ein vierseitiges "politisches Porträt" des FDP-Mannes. Der Inhalt ist bekannt. Es geht um Brüderle als Mann, der sich Frauen gegenüber, angeblich, zu anzüglich verhält, es geht um Sexismus-Vorwürfe. Kaum hat Stern-Online am 23. Januar unter dem Titel "Der spitze Kandidat" einen ersten Vorgeschmack auf den eigentlichen Artikel geliefert, der im gedruckten Stern veröffentlicht wurde, bahnte sich ein Medien-Furor seinen Weg in die Meinungsöffentlichkeit, der Schlimmes offenbart.

Längst haben sich die älteren, erfahreneren Journalisten in den Redaktionen mit den Vertretern der Generation "Irgendwas mit Medien", deren politisches-kritisches Verständnis allzu häufig zwischen den populärkulturellen Leitplanken von Keinohrhasen, Zweiohrküken, Lady Gaga und "Wir sind Papst" zu finden ist, arrangiert und verbunden.

Die derzeitige "Mediendebatte" zum Thema Brüderle und Sexismus, die den Namen Debatte noch nicht mal im Ansatz verdient, ist nur das Destillat einer passiven Revolution im journalistischen Feld, bei der unternehmerisch kalkulierende und auf Effizienz getrimmte Subjekte, die im Geiste der neoliberalen "Wettbewerbsfähigkeit" ihre Sozialisation erfahren haben, das Ruder übernehmen.

Unter dem Begriff passive Revolution verstand der marxistische Philosoph Antonio Gramsci einen Umsturz der bestehenden Ordnung, der nicht, wie bei einer klassischen Revolution, in einem zeitlich eng begrenzten Rahmen abläuft, sondern über Jahrzehnte und über Generationen hinweg, sich vollzieht.

Wir erleben seit längerem eine Journalistengeneration, die über ein hohes Maß an bildungskulturellem Kapital verfügt und, was die formalen Anforderungen an das journalistische Feld angeht, kaum höher qualifiziert sein könnte. Doch neben ihren Bescheinigungen über Praktika in den USA und Großbritannien, einem halben Dutzend weiterer Medien in Deutschland, Spitzenzensuren und Exklusivempfehlungen ihrer Professoren, fehlt ihnen das, was man etwas pathetisch als "Geist des Journalismus" bezeichnen könnte, also der tiefen Bereitschaft (die übrigens mit großer Verantwortung verbunden ist), gegen alle Widerstände, Missstände aufzudecken und den Mächtigen, wie man so sagt, genau auf die Finger zu schauen.

Der Unterschied zwischen den "vom Geist beseelten" und den "geistlosen" ist leicht zu erkennen: Die, die das Erbe eines kritischen politischen Journalismus forttragen möchten, schauen den Mächtigen auf die Finger, um zu erkennen, wie viel Dreck sie daran haben und woher dieser Dreck kommt. Am Ende steht dann, je nachdem, die Aufdeckung einer echten Sauerei.

Die anderen, deren "politisches" Koordinatensystem perfekt mit den Ansprüchen des neuen journalistischen Feldes korrespondiert, schauen erstaunlicherweise den Mächtigen auch auf die Finger. Doch ihr "politischer" Blick ist entpolitisiert, er Blick begnügt sich damit zu sehen, wohin die Hände um Mitternacht an einer Bar in einem Hotel wandern, ob in Richtung Weinglas oder vielleicht sogar in Richtung einer Frau. Skandal! Daraus wird dann eine große "politische Story".

Der "Journalismus", wie er dieser Tage in Sachen "Sexismus-Debatte" zu beobachten ist, ist das Produkt eines journalistischen Feldes, das überhaupt nicht bemerkt, wie es sich selbst enteignet hat und somit dazu beigetragen hat, dass es durch das ersetzt wird, was man nur noch als Scheinjournalismus bezeichnen kann.

Die Ursachen für die Situation in den Medien, wie sie vorzufinden ist, sind zahlreich: Das Internet als Konkurrenz- und Ausgleichsmedium, diverse Anzeigenkrisen, erhebliche finanzielle Probleme selbst bei großen, reputierten Medien, Entlassungen, ein enormer Arbeitsdruck auf die noch festangestellten Journalisten, Führungspersonen in vielen Chefetagen, für die der ökonomischen Nutzwert einer Geschichte an oberster Stelle steht und schließlich, und hier kommt die passive Revolution ins Spiel, eine durch den "neuen Zeitgeist" vorherrschendes verändertes Selbst- und Berufsverständnis der nachrückenden Generation an Journalisten.

Kurzum: Das journalistische Feld ist seit vielen Jahren schwersten Verwerfungen ausgesetzt, in ihm hat ein Umsturz stattgefunden, der sowohl von außen, als auch von innen erfolgt ist. Und ja, vielleicht sollte man es einfach wiederholen: erfolgt ist! Der Revolution ist bereit gelaufen. Das journalistische Feld hat sich neu formiert, re-organisiert und sich der neuen, durch den Umsturz etablierten, Ordnung, angepasst.

Um im Bilde zu bleiben: Vereinzelt gibt es, glücklicherweise, noch "Unruheherde", getragen von einzelnen Journalisten und Medien, die sich der zunehmenden Entdifferenzierung der Realität, die den neuen "Journalismus" in einem erschreckenden Maße kennzeichnet, entgegenstellen.

Musterbeispiel für die Entpolitisierung des Politischen

Der Artikel von Laura Himmelreich ist ein Beispiel für einen (politischen) Journalismus, der über "Politisches" vorgibt zu berichten, ohne dass er über Politisches berichtet, der vorgibt, Informationen zur Politik zu übermitteln, ohne dass er tatsächlich Informationen zur Politik übermittelt, er kann geradezu als Musterbeispiel für die Entpolitisierung des Politischen betrachtet werden.

Man muss sich diesen Vorgang einmal genau anschauen: Da ist eine Journalistin, die sich offensichtlich für "Politik" (was auch immer dann darunter verstanden wird) zu interessieren scheint. Nicht nur, dass sie mit Unterstützung ihres Magazins, einen Artikel schreibt, der in der Kategorie "Politik" im Heft platziert ist, aber nahezu jede ernsthafte Berührung zu politischen Inhalten umschifft, nein, sie tritt dabei eine "Debatte" los und entzieht sich dann (wohlgemerkt: als politische Journalistin!) eben völlig dieser Debatte.

stern-Chefredakteur Andreas Petzold schreibt bei stern-Online und im Editorial der Printausgabe, offensichtlich nicht ohne Stolz, dass Himmelreich eine "Langzeit-Beobachtung" vorgenommen habe.

Wer sich die Mühe machen möchte, möge einmal die Artikel eines Siegfried Kracauers, wie sie in den 20er Jahren in der Frankfurter Allgemeinen erschienen sind, lesen und dabei über die eigentliche Bedeutung des Wort Beobachtung nachdenken. Ethnografische Reportagen, brillante Analysen, eine sprachliche und inhaltliche Tiefe, die sich in den Artikeln wiederfindet, die wie aus einer anderen Welt stammen.

Man kann einwenden, dass 80, 90 Jahre eine lange Zeit sind. Viel hat sich verändert. Gewiss. Doch die Artikel sind wie ein Kontrastmittel und sie zeigen auf, wie groß, wie unfassbar groß, der Qualitätsabfall in den Medien tatsächlich ist.

Aber es geht nicht um die Lobpreisung der Standards einer längst vergangenen Zeit. Es geht um die Frage, nein, nicht ob grundlegende journalistische Standards im 21. Jahrhundert noch zu halten sind, denn diese sind, zu einem beträchtlichen Teil zumindest, längst Opfer der stillen Revolution geworden. Es geht um die Frage, ob die Akteure im journalistischen Feld bereit sind, diese Standards wieder neu einzuführen. Doch das wäre nur durch eine Konterrevolution möglich.

Wer in der Lage ist, sich in Form eines journalistischen Erzeugnisses am öffentlichen und veröffentlichten Diskurs zu beteiligen (oder ihn gar anzustoßen), hat eine enorme Verantwortung. Worte haben Konsequenzen.

Ein minimaler "Schaden" wird mit der Macht des Journalismus durch einen maximalen Schaden quittiert

Laura Himmelreich, und wir nehmen an, dass der stern nicht mit Vorsatz Brüderle beschädigen wollte und dass die Reporterin sich tatsächlich aus ihrer subjektiven Perspektive "bedrängt", "nicht ernst genommen" gefühlt hat, hat einen aus journalistisch-ethischer Sicht schwerwiegenden Schritt unternommen. Sie hat eine persönliche, vielleicht tatsächlich für sie unschöne Erfahrung, zu einer öffentlichen Angelegenheit gemacht und damit auf eine perfide Weise ihre publizistische Macht missbraucht.

Der stern dürfte an dieser Stelle wohl schnell einwenden wollen, dass der Artikel keine "persönliche" Sache, sondern ein zu respektierendes Produkt eines über jeden Zweifel erhabenen objektiven Journalismus ist.

Aber wenn bereits über der Überschrift im Artikel steht: "stern-Reporterin Laura Himmelreich über ihre ganz eigene Erfahrungen…", das Lead, also der Teil eines journalistischen Artikels, der prägnant den wesentlichen Inhalt des Artikels zusammenfasst, beginnt mit: "Für mich ist es nicht immer angenehm, 29 Jahre alt zu sein, eine Frau und Politik-Journalistin." Und wenn dann direkt daneben auch noch ein liebliches Foto der Reporterin zu finden ist, dann ist es schon schwer, den Artikel nicht als eine persönliche Abrechnung zu verstehen.

Der erste Schritt, um die Angelegenheit zu klären und das von Himmelreich als Sexismus empfundene Verhalten zu thematisieren, hätte darin bestanden, zusammen mit einem Vertrauensmann aus der Redaktion das Gespräch mit Brüderle zu suchen. Das wäre eine vernünftige, dem Sachverhalt angemessen und schließlich auch menschliche Variante gewesen.

Der publizistische Tabubruch, der in der Tat erfolgt ist, besteht darin, dass eine ganze Redaktion bewusst in Kauf genommen hat, einen minimalen "Schaden" mit der Macht des Journalismus durch einen maximalen Schaden auszugleichen.

Auf der einen Seite steht eine Reporterin, die sich offensichtlich in ihrem Wert als Frau bei der Ausübung ihres Berufs "verletzt" gefühlt hat (wohlgemerkt: es geht hier noch nicht mal im Ansatz um einen strafrechtlich relevanten Vorfall), auf der anderen Seite steht dann, verursacht durch den Artikel, ein Politiker, dessen Karriere und Reputation schlimmstenfalls für immer ruiniert ist.

Erschreckenderweise, und auch das ist ein klarer Hinweis, wie umfassend der Umsturz im journalistischen Feld war, haben sich nur vereinzelt Stimmen von Journalisten zu Wort gemeldet, die den stern-Artikel entsprechend kritisiert haben. Stattdessen zeigte sich in vielen "journalistischen" Erzeugnissen ein Beißreflex, dem ein journalistisch-analytisches Reflexionsvermögen und journalistische Distanziertheit, weichen mussten.

Von einer für das neue journalistische Feld geradezu symptomatischen Eindimensionalität, war ein Artikel, der bei Spiegel Online erschienen ist. Die Chefin vom Dienst bei Spiegel Online, Patricia Dreyer, verfasste einen Artikel zur "Debatte", dessen Überschrift, sich im Prinzip auf das Wort "Stopp" und ein Ausrufezeichen reduzieren lässt. In dem besagten Beitrag macht sich Dreyer Luft und schreibt:

Wenn ich, Chefin vom Dienst bei SPIEGEL ONLINE, im Büro ans Telefon gehe, höre ich nicht selten "Verbinden Sie mich bitte mit dem Chef vom Dienst" - weil ich eine Frau bin, ist es wohl unvorstellbar, dass ich im SPIEGEL-Verlag Führungsverantwortung trage. Stopp!

Artikel dieser Art, wie sie in den letzten Tagen erschienen sind, bilden das "Rückgrat" dessen, was dann als "Debatte" über Sexismus bezeichnet wird. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat bereits 1998 in seinem Buch "Die männliche Herrschaft" die Mechanismen der symbolischen Gewalt oder Herrschaft im Geschlechterverhältnis freigelegt und so auch den tiefen, inneren sozialen Code der Gesellschaft identifiziert, der die bestehenden Hierarchieverhältnisse zwischen Männer und Frauen ein ums andere Mal zementiert. Echter Sexismus ist ein Übel, aber die Wurzel dessen, was überhaupt erst echten Sexismus entstehen lässt, liegt viel tiefer als es die kaum mehr oberflächlicher zu gestaltende "Mediendebatte" erahnen lässt.

Ausgezeichnete, reflektierte Auseinandersetzungen zum stern-Artikel, finden sich auf diversen Blogs im Internet oder, vereinzelt, auch noch in den Leitmedien, wie etwa dieser sehr gute Artikel in der FAZ.

Doch solche Beiträge, die sich durch Inhalt und durch eine echte Argumentation kennzeichnen, sind nicht mehr als Störfeuer in der Ära des Postjournalismus.