Ein Quantum Chaos bei JP Morgan

Im von JP Morgan Chase vorgelegten Bericht über die Verluste in Zusammenhang mit dem "London Whale" zeigt sich selbst die "mächtigste Bank der Welt" von den "quantitativen" Methoden der Finanzmärkte überfordert

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Der Report der JP Morgan Chase & Co. Management Task Force Regarding 2012 CIO Losses über die Verluste des Londoner "Chief Investment Office" (CIO) gewährt einen beunruhigenden Blick hinter die Kulissen der führenden Banken der Welt.

Allerdings dürfte der von Michael Cavanagh, Co-CEO der JPM-Investmentbank, verantwortete 130 Seiten starke Bericht vermutlich erstmals einen derartigen Fall aus der Sicht der betroffenen Bank darstellen, bei dem sich angesichts der Sensibilisierung von Behörden und Öffentlichkeit JPM wohl auch kaum gewagt haben wird, die Fakten allzu plump im Sinne von JPM zu verdrehen. Wäre die Geschichte zudem nicht von Anfang an über die Medien gelaufen, würde JPM die Spekulationsverluste dank letztlich mehr als 20 Milliarden Dollar an ausgewiesenem Jahresgewinn wohl ohnehin in der Bilanz vergraben haben.

Dafür war die mediale Aufregung allerdings viel zu groß, da sich Chairman Jamie Dimon genau zu diesem Zeitpunkt offensiv darum bemüht hatte, die US-Gesetzgeber zu überzeugen, dass gut geführte Banken sich selbst besser und vor allem effizienter kontrollieren könnten, als die Behörden. Nachdem JPM im Mai des Vorjahres jedoch 50 Milliarden Dollar an Börsenwert verloren hatte, ein Rating-Downgrad erhielt und letztendlich mehr als 6,2 Milliarden Dollar an Verlusten eingestehen musste, tat Dimon sich schwer zu begründen, warum die zu diesem Zeitpunkt heftig umstrittenen Volker-Rule, die eine strikte Trennung von Einlagengeschäft und Investmentbanking fordert, überflüssig wäre.

Noch eine Woche, nachdem das Wall Street Journal den JPM-Trader Bruno Iskil als "London Whale" geoutet hatte, sprach er während eines Conference-Calls von einem "Sturm im Wasserglas". Alle Banken hielten entsprechend ihrer Größe derartige Positionen und im Übrigen könnten die Regulatoren ja stets alles einsehen. Sein Chief Financial Officer Doug Braunstein hatte zuvor erklärt, dass diese "langfristigen" und "für JPM sehr komfortablen" Positionen allesamt nur bestünden, um Risiken aus anderen Kreditbereichen abzusichern, und sie somit absolut Volker-konform wären.

The strategy was flawed, complex, poorly reviewed, poorly executed, and poorly monitored.

Jamie Dimon

Wenige Wochen später klang das schon ganz anders. Dimon bekannte sich zerknirscht als "letztverantwortlich" und gestand ein, "wirklich blöde" gewesen zu sein, die gescheiterte Strategie sei "fehlerhaft, komplex, schlecht geprüft, schlecht ausgeführt und schlecht überwacht" gewesen. Abgespielt hatte sich die Angelegenheit ohnehin nicht am Hauptsitz in New York, sondern in London, wo JPM rund 350 Milliarden Dollar seines Vermögens von 2,3 Billionen Dollar über das Chief Investment Office (CIO) veranlagt hatte.

Das zeitigte lange mit Erfolg, denn so war das CIO maßgeblich daran beteiligt, JPM unbeschadet durch die Finanzkrise zu bringen, weswegen Dimon behaupten konnte, niemals Staatshilfen benötigt zu haben. JPM war stets profitabel geblieben und hatte Quartal für Quartal Dividenden ausgeschüttet, was den unter den Fittichen von City Group-Gründer Sandy Weill groß gewordenen Dimon regelmäßig die diversen Banker-Rankings anführen ließ. Das war, wie Dimond heute noch betont, vor allem der Person geschuldet, die jetzt für das 6-Milliarden-Dollar-Desaster mit dem "London Whale" verantwortlich gemacht wird: Chief Investment Officer Ina Drew, der Chefin des Londoner Büros, die in den letzten Jahren jeweils rund 14 Millionen Dollar an Erfolgfsprämie kassiert hatte. Denn als sie sich am Höhepunkt des Booms 2007 mit Dimon einig war, dass ein fürchterlicher Absturz drohe, hatte ihre Abteilung zwecks Absicherung 200 Milliarden Dollar in US-Staatsanleihen gesteckt, die in der Krise enorm an Wert gewannen und alle sonstigen Verluste ausglichen.

Diese erfolgreiche Absicherung gegen die Weltfinanzkrise erfolgte also noch auf Basis der klassischen Investmentmethoden, während sich an der Wall Street allerdings längst eine "quantitative" Herangehensweise durchgesetzt hatte, bei der mathematisch-statistische Methoden im Vordergrund stehen. Hier hatte Drew schon Kämpfe auszufechten, als Chase Manhattan, wo Drew für das Treasury verantwortlich war, im Jahr 2000 mit JPM fusionierte. Anders als Chase befand sich JPM in Hinsicht auf quantitative Methoden an vorderster Front, war führend in der Entwicklung von Kreditderivaten und managte das eigen Treasury längst nach diesen Methoden.

Die konservative Drew konnte sich jedoch durchsetzen und behielt die Leitung des Treasury und die "sicheren" Veranlagungen, während die Quants die Produktentwicklung und den spekulativen Eigenhandel am "proprietary-trading desk" übernahmen. Allerdings entschied sie gemeinsam mit Dimon 2007, künftig gleichfalls quantitative Produkte einzusetzen, um die zunehmend komplexen Risiken der Bank abzusichern. Dazu engagierte sie ein Team von quantitativ orientierten Tradern, deren Namen "aufgrund des britischen Datenschutzes" in dem Bericht aber nicht genannt werden.

Mit der Absicherung gegen Verluste sollte gleichzeitig Gewinne realisiert werden

Geleitet wurden die Quants von Achilles Macris, den Drew von Dresdner Kleinwort Wasserstein abgeworben hatte. Der engagierte als Senior-Trader den Spanier Javier Martin-Artajo, der wiederum den Trader Trader Bruno Iksil holte), der fünf Jahre später als "London Whale" geoutet wurde. Die offizielle Aufgabe des CIO war es, "den Überschuss der Depositen über die vergebenen Kredite zu investieren, um künftigen Liquiditätsbedarf zu decken und um eine vernünftige Rendite zu erzielen".

Daran arbeiteten 140 Trader, die einerseits traditionelle Investitionen in Anleihen vornahmen und seit Anfang 2007 auch ein quantitatives "Synthetic Credit Portfolio" (SCP) führten, das nicht mit realen Krediten, sondern mit Kreditderivaten operierte. Es war primär zur Absicherung unternehmensweiter Risiken gedacht, wobei, um im Krisenfall Gewinne zu erzielen, JPM allerdings auch einfach nur bei einem passenden Index "short" gehen oder direkt über Kreditderivate Schutz vor Kreditverlusten hätte kaufen können. Dann hätte JPM allerdings regelmäßige Prämie zahlen müssen, die wie bei jeder Schadensversicherung ohne Verschlechterung der Lage völlig umsonst gewesen wäre. JPM wollte aber nicht nur Risiken absichern, sondern dabei auch Erträge erzielen, also letztlich dafür kassieren, versichert zu sein.

Da derlei im Versicherungsgeschäft ganz undenkbar ist, wurden also die Quants engagiert, die seit den 1980er Jahren an den Finanzmärkten ja bereits einige Wunder bewirkt hatten. Da zudem Unternehmen von allen Kreditnehmergruppen am schnellsten auf allgemeine Wirtschaftskrisen oder Booms reagieren, arbeiteten Trader, die solche Risiken absichern wollen, weltweit vor allem mit Kredit-Derivaten, die sich auf Indizes beziehen, die die Kreditqualität einer Reihe von Unternehmen abbilden. Dieses wiederum bemisst sich an der Prämie, die es kostet, sich mit einem so genannten "CDS" ("Credit Default Swap") gegen einen Kreditausfall dieses Unternehmens zu versichern, also nach der Höhe des "CDS-Spread" des Unternehmens.

Da hier zwei Indexbereitsteller (CDX für Nordamerika/Emerging Markets und iTraxx für Europa und Asien) eine Reihe von Indizes etabliert haben, lässt sich sehr einfach auf fallende Kurse spekulieren. Zudem herrscht ein sehr reger Handel sowohl mit CDS wie mit Indexprodukten, wobei das insgesamt ausstehende Volumen an CDS Ende Juni 2012, bezogen auf das abgesicherte Kreditvolumen, nominell übrigens bei 37 Billionen Dollar lag. Die halbjährlich revolvierenden Indizes werden dabei nach der Bonität der Unternehmen in Kategorien von "Investment Grade" bis "High Yeald" (Junk) unterteilt, wobei die Indexanbieter diese Indizes auch noch nach den Zahlungsströmen bzw. Verlustzuweisungen in Tranchen gliedern.

Eine Hochrisiko-"Equity"-Tranche absorbiert dabei die ersten Verluste (die entstehen, wenn ein im Index enthaltenes Unternehmen pleite geht und der CDS auszahlen muss), was beispielsweise beim CDX North American Index drei Prozent des Gesamtvolumens abdeckt. Die darüber liegende "Mezzanin"-Tranch trägt weitere drei bis sieben Prozent, dann kommen noch "Senior"- und "Super Senior"-Tranchen, die sukzessive immer weniger an Prämie bringen und an Risiko tragen. Aufgrund dieser Vielzahl an Produkten und der Tiefe des Marktes sollte es den Quants nun mit mathematischen Methoden gelingen, den Widerspruch zwischen den Kosten der Absicherung und dem Wunsch, Gewinne zu erzielen, zu überwinden.

Theoretisch wäre das möglich wenn gleichzeitig "Long"- wie "Short" - Positionen eingegangen werden könnten aus denen unter dem Strich zwar die erwünschte Netto-Positionierung resultiert, aufgrund der Unvollkommenheit der Märkte, die die Quants aufspüren und ausnutzen sollten, die Erträge aus den Long-Positionen aber die Kosten der Short-Positionen mehr als kompensieren. Denn bei einer "Long"-Positionen übernimmt JPM ein Kreditrisiko und generiert positive Zahlungsströme, während über "Short"-Positionen Risiken abgesichert werden, was zu Auszahlungen führt. Wenn Trader A also an Trader B in der Form eines CDS gegen laufende Prämien Schutz vor einem bestimmten Kreditausfall verkauft geht er "long risk", während die Position von Trader B als "short risk" bezeichnet wird.

Insgesamt sollte das strukturierte Portfolio also im Sinne der Risikoeinschätzung des Vorstandes positioniert werden, dabei gleichzeitig aber mit den Long-Positionen mehr einnehmen, als für die Short-Positionen aufgewendet werden musste. Es sollte also Anomalien und Unschärfen ausnutzen, indem die Trader gut bezahlte Risiken übernahmen und sich selbst billiger gegen diese Risiken absicherten, etwa indem sie sich selbst mit einzelnen CDS gegen einen Ausfall der am stärksten gefährdeten Unternehmen aus einem Index absicherten, den sie als Ganzes teuer verkauft hatten. Zu diesem Zweck beobachten die Trader also, wie sich einzelnen Kategorien und Tranchen bezogen auf Kursentwicklung und Zahlungsströme verhalten, woraus Modelle entwickelt und an realen Daten kalibriert, statistische Korrelationen ermittelt und Mittelwerte gefunden werden sollten, in deren Richtung sich die realen Kurse letztendlich entwickeln müssten.

Auf diesem Weg hatte das "Synthetic Credit Portfolio" bis Ende 2011 immerhin rund zwei Milliarden Dollar verdient, wobei hier einerseits das Saldo der Cash-flows aus realen Ein- und Auszahlungen für den Erfolg des Portfolios relevant war, gleichzeitig aber auch der Marktwert des Portfolios täglich "mark to market" von einem Junior-Trader bewertet wurde. Dazu musste für alle Positionen jeweils den aktuellen Marktpreis eruiert werden, was nicht ganz einfach war, da für einen Großteil der Positionen kein täglicher Handel stattfand und die Bewertungen oft auf Basis eigener Modelle oder der von Brokern gestellten Preise erfolgen musste. Um den tatsächlichen Marktpreis zu erfahren, mussten die Trader oft selbst in den Markt gehen, womit sie freilich auch die Marktpreise beeinflussen konnten, was sie als "unsere Positionen verteidigen" bezeichneten. Gleichzeitig boten die Unschärfen auch große und für Außenstehende undurchschaubare Bewertungsspielräume, die später bewusst genutzt wurden, um an bestimmten Stichtagen die gewünschten Ergebnisse auszuweisen.

Die Quants bekommen Probleme