Gefühlte Bedrohung und intuitive Reaktion

Der Fall einer Münchenerin, die durch die Faustschläge eines Polizisten schwere Verletzungen erlitt, führt zu vielen Fragen. Doch die Antworten auf diese Fragen werfen noch mehr Fragen auf.

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Ein Beziehungsstreit und seine Folgen - Rückblick

Am 23. Januar 2012 rief eine 23-jährige Frau bei der Polizei in München an. Sie bat diese um Hilfe. Zu diesem Zeitpunkt befand sie sich am Regerplatz - zusammen mit ihrem Freund, der sie nicht gehen lassen wollte. Auch soll es zu Schlägen gekommen sein. Die junge Frau wollte nach Hause, sie war nach eigenen Angaben müde. Als die Polizei ihr zu Hilfe eilte, bestanden die Beamten darauf, sowohl die Frau als auch den Freund mit zur Wache zu nehmen - obgleich, so die Aussage der 23-Jährigen, ihnen bereits mitgeteilt worden war, dass der Streit geschlichtet sei und es auch keine Anzeige geben würde.

Eine zweite Streife wurde gerufen, sodass die 23-Jährige und ihr Freund in getrennten Wagen zur Wache gefahren werden konnten. Die junge Frau wollte ihre Mutter telefonisch bzw. per Kurzmitteilung darüber informieren, was geschieht, doch die Polizisten versagten ihr den Anruf. Das Handy wurde konfisziert und die junge Frau, die nunmehr sehr harsch und teilweise beleidigend auf das Verhalten der Beamten reagierte, wurde mit Handschellen hinter dem Rücken gefesselt. Ein Polizist drückte ihren Kopf in den Fußraum des Wagens, zwischen die Knie der Frau. Die Reaktion der Frau war, so sagt sie selbst, von Panik geprägt. Sie beleidigte die Polizisten, verwahrte sich gegen die gesamte Behandlung.

Wie es nun auf der Wache weiterging, darüber gibt es widersprechende Aussagen. Die Frau selbst sagt, sie wäre permanent gefesselt gewesen. Die Polizei gibt an, die Handschellen wären kurz entfernt, danach jedoch wieder angelegt worden, da die 23-Jährige weiterhin durch unflätiges Vokabular sowie auch durch panische Reaktionen auffiel. Die Frau versuchte zu treten, zu beißen und spuckte einen Polizisten an. "23-Jährige randaliert in Polizeiinspektion" lautet die offizielle Beschreibung des Vorfalles im Polizeibericht.

Einig sind sich sowohl die 23-Jährige als auch die Polizei darüber, dass die Frau in einer Zelle auf eine Pritsche gelegt wurde. Sie wurde durch mehrere Polizisten an den Füßen festgehalten, ihren Kopf drückte man in Seitenlage auf die Pritsche. Als der Kopf losgelassen wurde, versuchte sie nach Aussage der Polizei einen Polizisten mit einem Kopfstoß zu verletzen, woraufhin dieser ihr einen Faustschlag versetzte. Die 23-Jährige erlitt dadurch schwere Verletzungen im Gesicht - u.a. brach ihre Nase. Sie blutete stark. Die Polizisten verließen gemeinsam die Zelle und benachrichtigen einen Notarzt, der die 23-Jährige ins Krankenhaus bringen ließ. Sie erstattete anschließend Anzeige gegen die Polizei, die ihrerseits die Frau wegen Körperverletzung, Widerstand und Beleidigung gegen Polizeibeamte vor Gericht bringen will.

Soweit die Fakten, die im Wesentlichen unstrittig sind. Doch der Fall wirft etliche Fragen auf.

"Sie kommen mit zur Wache!"

Die Ungereimtheiten beginnen bereits damit, dass die Frau überhaupt zur Wache gebracht wurde. Beziehungsstreitigkeiten, zu denen die Polizei zu Hilfe gerufen wird, sind nicht selten. Doch in vielen Fällen reicht bereits das Auftauchen der Polizei, um die Sache zu bereinigen. In diesen Fällen entfernt sich die Polizei wieder. Insbesondere dann, wenn keine Anzeige durch die Beteiligten vorgesehen ist. Im vorliegenden Fall war die Situation bereits geklärt. Eine Anzeige wurde nicht erwogen. Es scheint also insofern nicht notwendig gewesen zu sein, die Streitparteien noch zum Revier mitzunehmen.

Intuitive Reaktion eines erfahrenen Polizisten

Die 23-Jährige war, als sie den Faustschlag bzw. die Faustschläge erhielt, gefesselt. Die Hände waren auf dem Rücken durch Handschellen zusammengehalten. Ferner befanden sich mehrere Polizisten im Raum, die sie festhielten. Sollte es einem Polizisten in so einer Situation nicht ein Leichtes sein, einem Kopfstoß durch die Frau auszuweichen, indem er einfach ein paar Schritte zurückweicht?

Der Beamte beharrt jedoch darauf, dass er in Notwehr gehandelt habe und sich intuitiv gegen etwas wehrte, was er als direkte Bedrohung empfand. Bei der Beurteilung dieses Aspektes sind zwei Dinge wichtig. Zum einen die Statur der Frau: Die 23-Jährige, die laut Aussage ihres Anwaltes fast wie ein größeres Kind wirkt, ist ca. 1.62m groß und wiegt 50 Kilo. Insofern konnte die Bedrohung, die der Polizist empfand, kaum durch die Statur der Frau zustande kommen. Zudem ist zu bedenken, dass die Frau gefesselt war und weitere Beamte zugegen waren - es wäre also selbst bei einem ausgeführten Kopfstoß wahrscheinlich kaum zu ernsthaften Verletzungen gekommen.

Doch war es tatsächlich ein Kopfstoß, den die 23-Jährige plante? Wie Polizei und Verletzte einhellig aussagten, war die Frau zunächst auf der Liege "fixiert" worden. Neben den Handschellen waren es die Hände der Beamten, die dafür sorgten, dass ihre Beine ebenso wie ihr Kopf in einer bestimmten Lage blieben. Wenn in so einer Situation der Kopf losgelassen wird, dreht ein Fixierter den Kopf instinktiv herum, um die Situation zu erfassen.

Hinzu kommt, dass ein Kopfstoß, der den Beamten auch treffen soll, letztendlich nur dann möglich wäre, wenn die Frau den Kopf sowie den mit den Händen auf den Rücken gefesselten Oberkörper (trotz der sie bereits festhaltenden Beamten) soweit anheben könnte, dass der Kopf in die Reichweite des sich bedroht fühlenden Beamten heranreicht. Hierbei müssten einerseits die anderen Beamten nicht eingreifen (bzw. die Frau sogar loslassen) und andererseits müsste die Frau sehr sportlich sein. Und selbst dann wäre von einem "erfahrenen" Polizeibeamten zu erwarten gewesen, dass er auch in solchen Augenblicken nicht intuitiv einer gefühlten Bedrohung antwortet und jemanden schwer verletzt.

Wir gehen dann mal...

Nach den Schlägen, so sagte die Frau ihrem Anwalt, sei es in der Zelle totenstill geworden. Die Polizisten hätten sich kurz darauf alle entfernt und sie in der Zelle alleine gelassen. Dies wirft die Frage einer möglichen unterlassenen Hilfeleistung auf. Das Bild, welches die Frau von sich selbst im Krankenhaus machte, zeigt, welche Verletzungen sie erlitten hat. Laut Angaben ihres Anwaltes wurden sowohl die Nase als auch eine Augenhöhle gebrochen. Auf dem Foto ist darüber hinaus zu sehen, dass es auch zu Blutungen kam.

Dennoch wurde weder Erste Hilfe geleistet, noch blieb einer der Polizisten bei der Frau, um sicherzustellen, dass es durch die Blutungen, die Knochenverletzungen und ihren psychischen Zustand nicht zu einem Atemstillstand kommt. Da die 23-Jährige auf dem Rücken lag und gefesselt war, konnte sie das Blut selbst nicht entfernen oder die Blutung stoppen. Gerade im Zustand einer Panik wäre möglich gewesen, dass das Blut die Atmung durch die Nase unmöglich macht, diese Situation dann die Panik weiter anfacht und es zu Selbstverletzungen oder zum bereits erwähnten Atemstillstand kommt. Von Hyperventilation bis hin zu Erbrechen mit anschließendem Ersticken am Erbrochenen gibt es weitere Szenarien, die eintreten hätten können.

"Die stand unter Drogen"

In vielen Berichten über den Vorfall wird angegeben, die Frau hätte unter Drogen gestanden. Wäre dies der Fall gewesen, so wären die Risiken beim Alleinlassen der Frau noch größer gewesen. Ferner hätte man dies dem Notarzt und dem Krankenhaus mitteilen müssen - schon um bestimmte Reaktionen auf Medikamente, Spritzen usw. sowie Gegenanzeigen auf Medikamente zu vermeiden. Doch es gibt bisher keinerlei Hinweise darauf, dass die Frau Drogen eingenommen hatte. Ein Bluttest wurde nicht vorgenommen.

Filme, Videos und Taschenlampen

Eine weitere Merkwürdigkeit hat sich im Laufe der Ermittlung ergeben. Wie der Anwalt der 23-Jährigen sagte, habe die Frau gemeint, sie sei von einem der Polizisten gefilmt worden: Er habe dazu ein Handy benutzt und es habe eine LED geleuchtet. Eine Videokamera, die die Vorgänge innerhalb der Zelle festhielt, gab es nicht, aber auf Nachfrage teilte die Polizei dem Anwalt mit, es gäbe wohl ein Video, jedoch "habe man die Zugangsdaten dazu nicht". Wie, wer wann und warum nun ein Video aufgenommen hat, bleibt also unklar. Im weiteren Verlauf der Ermittlung wurde mitgeteilt, das Leuchten, das die 23-Jährige wahrgenommen habe, sei eine Taschenlampe gewesen, die einer der Polizisten benutzt habe. Wieso von mehreren Polizisten, die gemeinsam eine ihrer Meinung nach "randalierende" Frau fixieren, einer eine Taschenlampe nutzen sollte, bleibt ein Rätsel.

Die fünf bis sechs Beamten, die während des Vorfalls zugegen waren, bestätigten, es habe sich seitens des Beamten, der die Faustschläge ausgeteilt habe, um Notwehr gehandelt. Eine interne Ermittlung wegen Körperverletzung im Amt wurde eingeleitet. Da jedoch keine Rechtswidrigkeit seitens des Beamten festgestellt werden konnte, ist er weiterhin in seiner bisherigen Funktion tätig.