Mali, das Militär und der Hunger

Der ehemalige UNO-Sonderberichterstatter Jean Ziegler mahnt angesichts der Mali-Krise ein Umdenken in der Politik des Westens an

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Die Krise in Mali hat ein Schlaglicht auf die Beziehungen zwischen den industriellen Zentren und den Staaten des Südens geworfen. Die Militärintervention Frankreichs wurde zwar mit dem Schutz der Souveränität des westafrikanischen Landes begründet. Doch souverän ist der Staat auf dem Gebiet des ehemaligen Soudan français nie geworden. Im Gespräch mit Telepolis erklärt der ehemalige UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung (2000-2008), Jean Ziegler, die Hintergründe der Krise.

Ziegler, der Afrika von zahlreichen Reisen kennt, fordert ein radikales Umdenken Europas. Erst wenn die faire Wirtschaftsbeziehungen zu Staaten wie Mali aufgebaut würden, hätten die entsprechenden Regierungen die Chance, ein funktionierendes Staatswesen aufzubauen, sagt der Experte, um die These am Beispiel des Uran-Handels zu begründen. Zugleich warnt Ziegler vor weiteren Auswirkungen der Spekulation mit landwirtschaftlichen Nutzflächen und Nahrungsmitteln. Das Thema steht im Zentrum seines jüngsten Buches: Wir lassen sie verhungern - Die Massenvernichtung in der Dritten Welt.

An seiner Analyse lässt Ziegler kein Zweifel. Der Westen sei der Hauptverantwortliche für die schwierige Situation Malis. Immerhin sei der westafrikanische Staat einer der ärmsten der Welt, obwohl es reichhaltige Bodenschätze besitze, darunter Uran und Gold. "In meinem Buch 'Wir lassen sie verhungern' habe ich einige Zahlen genannt: Nur ein Viertel aller malischen Mütter sind im Stande, ihre Kinder zu stillen, 62 Prozent der malischen Bevölkerung ist nach Angaben Welternährungsorganisation schwer und permanent unterernährt", sagt der emeritierte Soziologie-Professor. Seit der Kolonisierung sei Mali zudem in der absurden Situation, dass es als großes, mächtiges Bauernland Hunger erleidet. "Die Bambara-Kultur und andere Ethnien haben eine lange landwirtschaftliche Tradition", führt er aus. Dennoch habe Mali im vergangenen Jahr 71 Prozent seiner Nahrungsmittel importieren müssen, weil die Regierung wegen der Auslandsverschuldung keine Investitionen in die Subsistenzlandwirtschaft tätigen konnte.

Plädoyer gegen die Nahrungsmittelspekulation

In dieser Lage habe Mali vor allem Reis aus Vietnam und den Philippinen importieren müssen:

Nun sind die Reispreise wegen der Börsenspekulation mit Grundnahrungsmitteln explodiert. Nach 2009 sind die größten Banken und Hedgefonds auf die Rohstoffbörsen umgestiegen, nachdem sie die Finanzbörsen ruiniert haben. Sie machen seitdem an der Chicago Commodity Stock Exchange und anderen Rohstoffbörsen astronomische Profite auch mit Getreide. In Folge steigen die Preise. Länder wie Mali können nicht genug Nahrungsmittel mehr importieren. Mehr Menschen sterben.

Eine Folge der schweren sozialen Krise des Landes sei der steigende Einfluss bewaffneter Akteure. So stellten die Tuareg im Norden des Landes die Mehrheit. Seit der Unabhängigkeit 1962 seien sie, ebenso wie im benachbarten Niger, von der landesweit schwarzafrikanischen Mehrheit unterdrückt worden. "Viele Tuareg sind vor dem Elend nach Libyen geflohen und wurden dort von Muammar al-Gaddafi rekrutiert. Nachdem die libysche Diktatur vor zwei Jahren zusammengebrochen ist, sind sie schwerstbewaffnet zurückgekommen", erklärt Ziegler die Lage vor Ort: "Ihre Nationale Bewegung für die Befreiung des Azawad, die NMLA, wurde dann von dschihadistischen Truppen unterwandert, die nun in der Region die absolute Macht haben." Diese Gruppen gelte es nun schnellstmöglich zu stoppen. Dann aber sei es wichtig, dass Frankreich die Kontrolle an die westafrikanische Ecowas-Gemeinschaft übergibt: "Die Intervention ist dann juristisch und moralisch legitim, wenn sie keine imperialistischen Fernziele hat."

Nach den laufenden Auseinandersetzungen müsse die Dekolonisierung vorangetrieben werden - auch von Frankreich, sagt Ziegler, um ein konkretes Beispiel anzuführen: Die Uranvorkommen in Niger und Mali würden von dem französischen Staatskonzern AREVA ausgebeutet, der lebenswichtig für die starke französische Atomindustrie sei. Der Eingriff von Frankreichs Präsident François Hollande sei auch durch die Bedrohung dieser Versorgung motiviert gewesen. "Die Beziehung zwischen den Regierungen in Bamako und (der nigrischen Hauptstadt) Niamey ist aber eine neokoloniale Ausbeutungsbeziehung", kritisiert Ziegler.

Niger und Mali gehörten zu den ärmsten Ländern der Welt und hätten zugleich mit die größten Uranvorkommen der Welt. "Da müsste es einen absoluten Bruch mit dieser neokolonialen Erbschaft geben", sagt der Schweizer: "AREVA müsste endlich einen vernünftigen Preis für das Uran zahlen. Dann gäbe es in einem Jahr keinen Hunger mehr, keine Epidemien. Dann würden Mali und Niger ein blühendes Staatswesen aufbauen können."

Mahner gegen das "tägliche Massaker des Hungers"

Auch in seinen Büchern kommt der ehemalige UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung immer wieder auf dieses Thema zu sprechen und zählt die Daten auf:

Nach Angeben der Welternährungsorganisation verhungert alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren. Rund 57.000 Menschen sterben jeden Tag am Hunger. Und eine Milliarde Menschen von uns sieben Milliarden sind permanent in schwerstem Maße unterernährt und oft verkrüppelt, verstümmelt, oder invalid durch diese permanente Unterernährung.

Und diese Zahlen steigen. Ziegler nennt das den "absoluten Skandal unserer Zeit". Immerhin sage selbst der World-Food-Report der Welternährungsorganisation, dass die globale Landwirtschaft in ihrer heutigen Entwicklungsphase der Produktionskräfte problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren könnte, also fast das Doppelte der derzeitigen Weltbevölkerung. "Das heißt, es gibt keinen objektiven Mangel mehr", fügt Ziegler an. Vor hundert Jahren habe es diesen Mangel gegeben, als Menschen aus dem Tirol oder Baden-Württemberg ausgewandert sind, um dem Hunger zu entkommen: "Doch ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet".

Die Politik der Vereinten Nationen gegen den Hunger sei in den vergangenen Jahrzehnten ins Leere gelaufen, weil es eine Reihe mörderischer Mechanismen gebe:

85 Prozent aller gehandelten Grundnahrungsmittel in der Welt - und dabei geht es meist um Mais, Getreide und Reis, die gut drei Viertel des Konsums abdecken - werden von zehn transkontinentalen Gesellschaften kontrolliert.

Diese Konzerne funktionierten eben wie alle transkontinentalen Gesellschaften nach dem Prinzip der Profitmaximierung. Sie beherrschten den Transport, maritime Flotten, die Silos zur Lagerung, die Preisbildung an den Nahrungsmittelbörsen: "Diese Akteure entscheiden jeden Tag, wer isst und lebt oder wer hungert und stirbt."

Die Monopolisierung auf ökonomischer, finanzieller und politischer Ebene führe dazu, dass diese Oligarchie der globalen Nahrungsmittelmärkte, "eine Macht hat wie sie nie in der Geschichte der Menschheit ein Kaiser, ein König oder ein Papst innehatte", beklagt Ziegler, der vor allem von den europäischen Regierungen Gegenmaßnahmen fordert.

Geldberge im Norden, Leichenberge im Süden

Die Vereinten Nationen seien heute gespalten, konstatierte er im Telepolis-Gespräch, die "neoliberale Wahnidee" dominiere. Das hat durchaus politische Folgen:

Jeder US-amerikanische Botschafter, und ich habe fünf von ihnen aus verschiedenen Regierungen sukzessive erlebt, hat gegen die Erneuerung meines Mandats als Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung gestimmt. Ebenso gegen jede meiner Empfehlungen", erinnert sich der amtierende Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UNO-Menschenrechtsrates. Dabei herrsche nun seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im August 1991 seit rund 21 Jahren die Liberalisierung und Privatisierung der Kapital-, Waren- und Dienstleistungsströme. "Das Resultat: In den Herrschaftsstaaten konzentrieren sich kleine, aber unglaublich mächtige Finanzoligarchien und im Süden, wo rund 4,9 Milliarden der sieben Milliarden Menschen, die wir sind, leben, steigen die Leichenberge.

Dabei könne jeder der "mörderischen Mechanismen", von denen Ziegler schreibt, umgehend beseitigt werden. Dazu zählt er die Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel, die Verwendung von Hunderten Millionen Tonnen von Nahrungsmitteln zur Herstellung von Agrartreibstoffen und den permanenten Landraub. "Alle diese Mechanismen sind menschengemacht", bekräftigt Ziegler. So könne auch der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble bei der nächsten Versammlung des Weltwährungsfonds im März einmal nicht mehr für die Gläubigerbanken in Frankfurt zu stimmen, sondern für die hungernden Kinder unter anderem in Äthiopien, in Somalia und Bangladesh.

"Sie können mir keinen mörderischen Mechanismus nennen, der nicht schon morgen früh durch die demokratische Öffentlichkeit gebrochen werden kann", so Ziegler. Es gebe keine Ohnmacht der Demokratie. Alles was es brauche, sei der Aufstand des Gewissens.

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