Seltsamer Attentatsversuch in Madrid

Spekulationen über den Medienaufreger des Tages in Spanien

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Wie die spanischen Fernsehsender am Freitag in ihren Nachrichten berichteten, ist in der Kathedrale La Almudena in Madrid am Donnerstag neben einem Beichtstuhl eine Bombe aus 1.2 kg Pulver, einer Camping-Gasflasche und einem Kilo Schrauben mit Zünder gefunden worden. Zu dem Attentatsversuch kursiert auf spanischen anarchistischen Foren ein Bekennerschreiben einer Gruppe 'Comando Insurreccionalista Mateo Morral'. Allerdings wirkt der ganze Vorgang etwas befremdlich.

Catedral de la Almudena. Bild: Alberto Racatumba. Cc-BY-2.0

Tragische Vorbilder

Mateo Morral war ein spanischer Anarchist, der in der Spätphase der Epoche der "Propaganda der Tat", die zu einem großen Teil für das heutige Stereotyp des grinsenden Bombenwerfers verantwortlich ist, 1906 einen Attentatsversuch auf das spanische Königspaar unternahm. Allerdings stellte er sich dabei nicht gerade sehr geschickt an - die Bombe traf statt des Wagens des Königs das Dach einer Straßenbahn und tötete dann ca. 30 Passanten. Man sollte meinen, dass das nicht unbedingt eine Sache ist, die sich irgendwer mit einem höheren moralischen Anspruch zum Vorbild nehmen würde.

Für eine nähere Betrachtung der anarchistischen Einschätzung der Gewaltanwendung in jener Epoche empfiehlt sich beispielsweise die Lektüre von Alexander Berkmans ABC des Anarchismus aus dem Jahr 1928:

Sie werden vielleicht fragen, ob das Festhalten an revolutionären Ideen Menschen nicht zwangsläufig zu Gewalttätigkeit führt. Ich glaube das nicht, denn wir haben gesehen, dass Methoden der Gewalt auch von Leuten mit sehr konservativen Ansichten angewandt worden sind. Wenn Menschen mit genau entgegengesetzten politischen Ansichten in gleicher Weise handeln, dann ist es wenig überzeugend, wenn man Ideen für diese Taten verantwortlich macht.

Gleiche Resultate haben die gleiche Ursache aber man darf diese Ursache sicherlich nicht in den politischen Überzeugungen suchen, sondern eher im individuellen Temperament und im allgemeinen Verhältnis zur Gewalt. »Sie mögen recht haben, was das Temperament betrifft«, sagen Sie. »Es leuchtet mir ein, dass revolutionäre Ideen nicht die Ursache für politische Gewalttaten sind, sonst müßte jeder Revolutionär solche Taten begehen. Aber rechtfertigen diese Ansichten teilweise nicht jene, die solche Taten ausführen?« Auf den ersten Blick mag es so aussehen. Aber wenn Sie genau darüber nachdenken, dann werden Sie feststellen, dass dieser Gedanke völlig falsch ist. Der beste Beweis dafür ist, dass Anarchisten, die die gleiche Meinung über Regierung und die Notwendigkeit ihrer Abschaffung haben, in der Frage der Gewaltanwendung oft völlig uneinig sind. So verurteilen die auf Tolstoi zurückgehenden Anarchisten und die meisten individualistisch eingestellten Anarchisten politische Gewaltanwendung, während andere Anarchisten sie billigen oder zumindest rechtfertigen.

Darüber hinaus haben viele Anarchisten, die einst an die Gewalt als Propagandamittel glaubten, ihre Meinung geändert und unterstützen diese Methoden nicht mehr. Es gab beispielsweise eine Zeit, in der die Anarchisten individuelle Gewalttaten, bekannt als »Propaganda der Tat«, befürworteten. Sie erwarteten weder, dass Regierung und Kapitalismus durch solche Taten zum Anarchismus bekehrt würden, noch glaubten sie, dass die Beseitigung eines Despoten den Despotismus abschaffen würde. Nein, der Terrorismus wurde als ein Mittel angesehen, das allgemeines Unrecht rächt, dem Feind Angst einflößt und die Aufmerksamkeit auf das Übel lenkt, gegen das der Terrorakt gerichtet war. Doch die meisten Anarchisten glauben heute nicht an die »Propaganda der Tat« und unterstützen Handlungen dieser Art nicht.

Wenn man sich die Biographie von Alexander Berkman ansieht, stellt man schnell fest, dass er hier aus Erfahrung spricht. Auch von einem modernen Insurrektionalismus sollte man also bei hinreichender theoretischer Fundierung erwarten können, nicht hinter die Erkenntnisse von vor einem Dreivierteljahrhundert zurückzufallen.

Bomben

Weiterhin war die Bombe mal wieder komplett, aber dann doch irgendwie nicht zündfähig. Unter den Forenkommentaren herrscht ziemlich einhellig Befremden darüber vor, wie Leute, die sich als "anarchistisch" bezeichnen und vorgeben, die Monarchie in ihren heiligen Orten treffen zu wollen, eine Bombe ausgerechnet an einem öffentlichen Ort plazieren, bei dem wahllos irgendwelche Leute oder unbeteiligte Touristen getötet würden. Das Attentat von Mateo Morral war darüberhinaus für die Polizei der Vorwand, neben anderen Anarchisten den Begründer der libertären Modernen Schule (Escuela Moderna), Francisco Ferrer Guardia für längere Zeit in Untersuchungshaft zu nehmen.

Hier zeigte sich wie auch schon beim Haymarket-Attentat am 1.5. 1886, dass die Bombenwurf-Taktik mit Leichtigkeit vom Staat gegen die Anarchisten gewendet werden kann - im Haymarket-Fall wurde die tatsächliche Täterschaft nie geklärt, aber sieben anarchistische Mitorganisatoren und Redner der Gewerkschaftskundgebung wurden kurzerhand zu geistigen Urhebern der Tat erklärt und zum Tode verurteilt1.

¿Alternate Realities?

Angesichts der Zustände in Spanien wäre es nicht sonderlich abwegig, eine Geheimdienstaktion zu vermuten und gewisse Parallelen zu anderen Bomb-Scares wie in Italien oder zuletzt in Bonn zu sehen: Eine Bombe, die angeblich zündfähig war, aber dann doch irgendwie nicht, und bequeme Schuldige, die schnell präsentiert wurden, aber dann war doch alles irgendwie anders. Man sollte sich auch in Erinnerung rufen, dass 2004, als in Madrid Bomben in mehreren Nahverkehrszügen und der Metro explodierten, die damals regierende PP sofort die ETA verantwortlich machte.

Als dann nach relativ kurzer Zeit vor den Wahlen herauskam, dass die PP gelogen hatte, um den islamistischen Hintergrund wegen der Beteiligung der Aznar-Regierung an den US-Kriegseinsätzen im Irak zu vertuschen, standen eines schönen Abends auch schon Tausende vor der Parteizentrale in der Calle Génova, und kurz darauf war dann wieder der linke Arm der Zweiparteiendiktatur, die PSOE, an der Macht. Die Regierung hat heute auch wieder einen gewaltigen Bedarf an Sündenböcken - und in der Regel ändert die PP ihren Operationsmodus nicht, nur weil es mal nicht so funktioniert hat.

Eine weitere Möglichkeit deutete bereits die untersuchende Polizeidienststelle Brigada Provincial de Información (Zuständig für Terrorismus und "Antisistemas") an, nämlich dass es sich um einen psychisch gestörten Einzeltäter handeln könnte.

Man könnte auch auf die Idee kommen, dass es sich - wie eventuell auch in anderen in den Medien hochgebauschten Fällen in Italien - um eine Attrappe handele, die auch klar als Attrappe erkennbar hätte gewesen sein sollen, was aber dann von den Behörden propagandistisch zum echten Anschlagsversuch umgedeutet worden wäre. Allerdings scheint mir das sehr weit hergeholt und als Kommunikationsstrategie erwiesenermaßen kontraproduktiv und damit untauglich - zumal das Bekennerschreiben ziemlich eindeutig von "ataque explosivo" spricht.

Back to the Basics

Natürlich läßt sich nicht endgültig ausschließen, dass das Bekennerschreiben authentisch ist - in diesem Fall scheint es sich allerdings um eine sozial wie theoretisch relativ isolierte Gruppe zu handeln, die, nach dem oberflächlichen Bekennerschreiben zu urteilen, wohl auch argumentativ nicht besonders weit ist. In Jubelschreie ob dieser verdächtigen "Heldentat" scheint jedenfalls noch keiner ausgebrochen zu sein.

Der große Rest des libertären Spektrums in Spanien beschäftigt sich dagegen mit dem alltäglichen Kleinkrieg gegen die Zumutungen der postdemokratischen und antisozialen Zustände im Land in Form von Arbeitskämpfen, der Organisation nichtkommerzieller, sozialer und kooperativer Einrichtungen und mit Aktionen zivilen Ungehorsams. Das ist eine ernsthafte, langwierige und mitunter auch durchaus nicht ungefährliche Arbeit, die jedoch von immer mehr Menschen im Land enthusiastisch geleistet wird. Es kann schon sein, dass der spanische Staat mal wieder Angst vor soviel Freiheitssinn bekommt.

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