"Nur Führer, aber keine Kämpfer"

Syrien: Die Freie Syrische Armee ist längst nicht mehr die dominierende Kraft im Widerstand gegen die Regierung. Islamistische Gruppierungen können besser rekrutieren

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"Der Aufstand in Damaskus wächst und wird allmählich die herrschende Ordnung niederkämpfen, aber organisatorisch ist er ein komplettes Chaos". Dies ist das Fazit eines Dschihad-Experten zur Situation in der syrischen Hauptstadt, wo sich die Regierung einem langsam vorrückenden Gegner gegenüber sieht.

Geht es nach einem New York Times-Lagebericht, so sind Rebellengruppen dabei, strategisch wichtige Orte, Ringstraßen, Plätze, Vororte zu erobern. Der syrischen Armee scheint es aber gegen solche Vorwärtsbewegungen zu gelingen, wichtige Plätze, wie etwa den Abbasiden-Platz, einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt außerhalb des Stadtzentrums, in ihrer Kontrolle zu halten. So dass der Platz in Fernsehberichten als vollkommen friedlich dargestellt wird, nachdem zuvor große Beunruhigung und Angst in der Bevölkerung laut wurde. Ablesen lässt sich daran, jenseits der zum syrischen Konflikt gehörenden Zweifel und Vorsicht gegenüber jeder Berichterstattung, die auf militärische Erfolge der einen oder der anderen Seite blickt, der Nervenkrieg als große Konstante.

Die andere Konstante ist, dass die Gegner der Regierung vor allem sunnitische Verbände sind und das religiöse Element prägend für ihren Kampf ist. Innerhalb des religiösen Spektrums gibt es Unterschiede, von Dschihadisten, die mit al-Qaida verbunden sind, prominent dafür ist der Verband Jabhat el-Nosra, verschiedene Salafisten und Gruppierungen, die mit den syrischen Muslimbrüdern verbunden werden.

Sie werden je nachdem auch von unterschiedlichen ausländischen Staaten und Interessensgruppen unterstützt. Für Saudi-Arabien ist die Unterstützung der Salafisten wichtiger, die syrischen Muslimbrüder stehen für einen politischen Islam, der dem Königshaus nicht geheuer ist. Katar und die Türkei dagegen haben gute Verbindungen zu den Muslimbrüdern.

"Erst muss die Regierung gestürzt werden"

In Syrien selbst ist unter den Gegnern offenbar ein Kriegs-Pragmatismus dominierend. Erst muss die Regierung gestürzt werden und die Armee besiegt werden, dann erst das Weitere; dann erst kommen die unterschiedlichen politischen Ausrichtungen zutage; sie unterscheiden sich bei den stark religiös betonten Proklamationen fundamental darin, welche Rolle dem Islam im neuen Syrien zugewiesen werden soll.

Die Vorstellungen reichen von einer Republik Syrien, in dem der Islam eine stärkere, aber doch moderate Rolle spielen soll, über eine islamische Republik Syrien bis hin zu reaktionären und dschihadistischen Ideen eines Kalifats, wo der Name Syrien gar nicht mehr auftaucht.

Einstweilen liefert die Kampfstärke die Prioritäten und die Anreize, sich einem Lager anzuschließen. So behaupten sich vor allem salafistische Verbände, deren Kämpfer auf Kriegserfahrungen bauen können. Das hat dazu geführt, dass schon seit einigen Monaten die Freie Syrische Armee ihre Vorreiterrolle abgegeben hat.

Dient sie in westlichen Berichten noch häufig als feste Größe, an der man die Verfassung der Regierungsgegner misst und beurteilt, so nennen Kenner der Lage, wie der schwedische Forscher Aron Lund, ganz andere Namen, die insbesondere im Kampf um die Haupstadt Damaskus die Führung übernommen haben.

"Die FSA hat nur Generäle und keine Soldaten, wer kämpfen will, schließt sich den salafistischen Truppen an", so ein Bewohner aus Damaskus. "Das Problem ist, dass die FSA-Fraktionen Führer haben, aber keine Kämpfer", ist auch in der aktuellen Lagebeschreibung von Lund zu lesen. Er überschreibt sie mit "islamistischem Chaos in Damaskus".

Die syrische Befreiungsfront

Auch der schwedische Forscher, derzeit spezialisiert auf die stark religiös geprägten Widerstandsgruppen in Syrien hat Mühe, einen Überblick über die zahllosen Gruppierungen zu verschaffen. Als zentrale Information ist zu entnehmen, dass die Sammlungsbewegung Syria Liberation Front nun das "neue Mainstream-Gesicht des Aufstandes" ist.

Diesem Dachverband als wichtigste andere Gruppen beigesellt nennt Lund allein in seiner Kurzzusammenfassung fünf größere Fraktionen: die "syrische islamische Front", Tajammou Ansar al-Islam, Jabhat el-Nosra, Jabhat el-Asala wal-Tanmiya, sowie Gruppen, die den Muslimbrüdern nahestehen und ein Bündel an kleineren, unabhängigen islamistischen Fraktionen.

Der Befreiungsfront, die sich im Vergleich zu den anderen Gruppierungen weniger als Salafisten präsentieren, räumt Lund eine wichtige Rolle ein, weil sie - anders als die zweitgenannte Gruppe, die "syrische islamische Front" (Syrian Islamic Front) - leichter an Unterstützung aus den Golfstaaten und den westlichen Ländern geraten dürfte, da sie gemäßigter auftritt. Am meisten zu beachten ist nach seinem Urteil allerdings die "syrische islamische Front".

Die syrische islamische Front

Diese präsentiert sich in einem längeren Video als "Meister aller Klassen", mit glaubenseifrigen Kriegern vor goldenem Vorhang, die zu Anfang minutenlang mit unbewegter Miene in Kampfgewand von einem Notebook religiöse Texte rezitieren, mit andauerndem Dschihad-Gesang, ähnlich dem der Guanatnamo-Videos unterlegt ist, im Hintergrund wird anschließend eine Serie erfolgreicher Angriffe auf Panzer und Fahrzeuge des Gegners gezeigt um am Ende dann auf ihre wohltätige Hilfe, Brotbacken, Brotverteilen, die Liebe zu Kindern etc. zu verweisen.

Es gebe viele Heranwachsende gerade aus den ärmeren Schichten, vom Stadtrand oder aus der Landbevölkerung, die von solchen Darstellungen sehr angezogen würden, sagt ein Mann aus Damaskus.

Die Frage ist, über welche politische Unterstützung diese Gruppierung verfügen wird. Augenblicklich richten sich unter denen, die auf einen politischen Ausweg hoffen, die Blicke auf Mouaz al-Kahttib, der ein liberales Islamverständnis repräsentiert und von russischer Seite als ernstzunehmender Gesprächspartner bereits akzeptiert wurde und der syrsischen Regierung ein Gesprächsangebot unterbreitet hat.