Affäre X

Israels Premierminister Netanjahu hat versucht, die Berichterstattung über Häftling X zu verhindern, der sich 2010 tötete. Nun sieht er sich unangenehmen Fragen ausgesetzt

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Am Dienstagmorgen (MEZ) berichtete der australische Sender ABC, bei einem Häftling, der 2010 in einem streng abgeschirmten Teil eines israelischen Gefängnisses festgehalten worden war, habe es sich um einen Australier gehandelt, der wahrscheinlich für den Mossad arbeitete und im Dezember 2010 erhängt in seiner Zelle gefunden worden sei. Israels Sicherheitsapparat hat seit damals immer wieder Berichte darüber unterbunden - und nach dem Bericht am Dienstag versuchte es Premierminister Netanjahu erneut. Mit dem Ergebnis, dass die Angelegenheit nun hohe Wellen schlägt.

Am Anfang war es nur eine winzige Meldung auf der hebräischen Webseite der linksliberalen Tageszeitung Haaretz: Premierminister Benjamin Netanjahu habe die Chefredakteure der einheimischen Medien zu einer Dringlichkeitssitzung des Chefredakteurskommittees einbestellt.

Dieses Gremium war in den 1950er Jahren von Regierungschef David Ben Gurion gegründet worden, um die Berichterstattung über Themen zu steuern, die die nationale Sicherheit betreffen. Weshalb solche Treffen, selbst wenn sie kurzfristig stattfinden, normalerweise nichts sind, worüber man sich längerfristigere Gedanken macht. Nur: Diese Meldung war von Aluf Benn verfasst, dem Chefredakteur der Zeitung, und stand ganz oben auf der Seite.

Und sie enthielt den kryptischen Hinweis, es habe im Ausland einen Fernsehbericht über einen Vorfall gegeben, der unangenehm für eine Institution der Regierung sei - eine eigentümliche Wortwahl für eine Angelegenheit der nationalen Sicherheit. Deshalb auch Grund genug, sich auf die Suche zu begeben, während die Chefredaktion der Zeitung damit beschäftigt war, mit den Verlagsanwälten über die weitere Vorgehensweise zu feilschen, wie Mitarbeiter des Verlags berichten.

Denn die Geschichte, die am Ende der Suche steht, betrifft so gut wie jeden Teil des israelischen Staates: Das Büro des Premierministers, zwei Geheimdienste, die Justiz, den Strafvollzug. Das Parlament. Die Medien.

Berichte verschwinden

Mitte 2010 berichtete die ynet.co.il, die Webseite der größten landesweiten Zeitung Jedioth Ahronoth, im Ajalon-Gefängnis werde in einem abgetrennten Teil der Einrichtung ein Häftling festgehalten, dessen Name oder Vergehen nicht einmal den Wärtern bekannt seien, und fragte: "Wer bist Du Häftling X?"

Der Text stand erst kurze Zeit online, als, wie sich ein Redakteur erinnert, Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes Schin Beth bei der Redaktionsleitung vorsprachen. Wenig später war der Artikel verschwunden; nur einige Blogger stellten noch ein paar Fragen.

Einer von ihnen mutmaßte, unter Berufung auf einen "Kontakt im Sicherheitsapparat", es handele sich dabei um einen "iranischen General", dann wandte sich auch die Blogosphäre anderen Dingen zu.

Im Dezember 2010 vermeldete dann ein Blogger auf der Seite 972mag.com, von der Ynet-Seite sei eine Kurznachricht über die Selbsttötung eines Gefangenen im Ajalon-Gefängnis, die, anders als sonst üblich, nicht den Medien mitgeteilt worden sei, verschwunden.

Ein hektisches Treffen

Und am gestrigen Dienstagmorgen versuchte das Büro des Premierministers einmal mehr, die Nachricht verschwinden zu lassen. Wenige Stunden zuvor hatte der australische Sender ABC einen Bericht ausgestrahlt, in dem dem Gefangenen X ein Name gegeben wird: Es habe sich dabei um den 34 Jahre alten australischen Staatsbürger Ben Zygiel gehandelt, der im Jahr 2000 nach Israel ausgewandert sei und dort unter dem Namen Ben Alon eine Familie gegründet habe. Anfang 2010 sei er plötzlich verschwunden und dann im Dezember 2010 auf einem Friedhof in Melbourne beigesetzt worden.

Die Autoren des Beitrages gehen davon aus, dass es sich dabei um jenen Häftling handelte, der sich erhängt habe, und spekulieren, es habe sich bei ihm wahrscheinlich um einen Agenten des Auslandsgeheimdienstes Mossad gehandelt. Er sei in jenem Teil des Gefängnisses festgehalten worden, der ursprünglich für Jigal Amir, der 1995 Premierminister Jitzhal Rabin ermordete, gebaut worden war - weshalb auch einiges über die Haftbedingungen dort bekannt ist: So ist dieser Flügel durch schalldichte Türen vom Rest des Gefängnisses abgetrennt; die Häftlinge werden 24 Stunden am Tag überwacht.

Verifizieren lässt sich nichts davon. Nur: Netanjahus hektisches Treffen mit den Chefredakteuren lässt vermuten, dass die Australier der Wahrheit ziemlich nahe gekommen sind.

"Komplett unvorbereitet getroffen"

Es war auch dieses Treffen, das am Ende dafür sorgte, dass weitere Aspekte der Angelegenheit bekannt wurden: So organisierte Haaretz eine Art "journalistische Schnitzeljagd". Scheinbar wahllos wurden der Meldung über das Treffen im Büro des Premierministers Texte über die Selbsttötungen in Gefängnissen, aber auch die Initiative eines sozialdemokratischen Abgeordneten gegen die gerichtlichen Nachrichtensperren beigestellt. Darin immer wieder: Anspielungen auf Australien.

Aber auch darauf, dass im Jahr 2010 nicht nur eine Nachrichtensperre, sondern auch eine Nachrichtensperre für Berichte über die Existenz der Nachrichtensperre in dem nicht näher genannten Fall verhängt worden ist. Diese Texte wurden über den Tag hinweg ausgebaut und konkretisiert. Die anderen Medien schwiegen übrigens bis zum Abend.

Erst als die Haaretz-Berichte für unangenehme Fragen an Justizminister Ja'akov Neeman während der Parlamentssitzungen sorgten, zog der Rest der Medienlandschaft nach. Bis dahin sorgten in Israel nur die Blogger von 972mag für journalistische Verstärkung.

Justizminister Ja'akov Neeman erklärte übrigens während der Debatte, er habe keine Ahnung, was Sache sei, und stimmte den Abgeordneten zu, dass diese Angelegenheit der Aufklärung bedarf. Aus seinem Umfeld ist zu hören, die Sache habe ihn "komplett unvorbereitet getroffen" - ebenso wie sein Ministerium. Man wisse nicht, warum die Gefängnisverwaltung den Mann festgehalten habe, und man habe auch keine Ahnung, was ihm vorgeworfen worden sei.

ABC Australia hatte in seiner Berichterstattung einen ehemaligen Mitarbeiter des australischen Geheimdienstes befragt, der die Ansicht vertritt, Häftling X müsse etwas wirklich Schlimmes gemacht haben, "etwas, dass die Existenz des Staates bedroht".

Die Frage nach der Tat

Nur: Niemand, der dazu aktuell etwas sagt, kann sich vorstellen, welche Tat es gewesen sein könnte, die es rechtfertigen würde, mit immensem Aufwand einen Menschen verschwinden zu lassen - samt aller Berichte darüber. Denn der Mossad beschäftigt überhaupt erst seit 2002 Personal, dass nicht in Israel geboren und sozialisiert ist; es ist kaum vorstellbar, dass ein solcher Mitarbeiter Zugang zu mehr als den absolut notwendigen Informationen haben könnte.

Einige ausländische Medien führen den Fall von Marcus Klingberg an, einem russischen Agenten, von dessen Haft zehn der 16 Jahre nicht bestätigt wurden. Aber: In diesem Fall wurde nie eine Nachrichtensperre verhängt, und Berichte darüber wurden nie zensiert. Israels Regierung nahm dazu einfach keine Stellung, und Moskau tat es auch nicht. Klingbergs Schicksal blieb daher lange Zeit im Verborgenen.

Sollte es tatsächlich so gewesen sein, dass Zygiel ohne Anwalt, ohne konsularische Unterstützung, möglicherweise ohne Urteil, ohne seine Familie zu kontaktieren, festgehalten wurde, wäre dies schlicht illegal gewesen - Israels Gesetze sind da sehr eindeutig. Und der Oberste Gerichtshof, das höchste Gericht des Landes, noch mehr: Im Jahr 2008 hat das Gericht verboten, Gefangene geheim festzuhalten.

Allerdings: Es könnte auch sein, dass die Familie wenigstens zum Teil informiert war, dass ein Anwalt verfügbar war, dass es ein Urteil gibt - bestätigen oder ausschließen kann man das nicht, weil die Familie mit niemandem redet. In diesem Fall stellt sich die Frage nach der Rechtfertigung der massiven Eingriffe in die Pressefreiheit, die sich nicht nur einmal, sondern immer wieder abgespielt haben - es hätte gereicht, sich beim Namen auf den Datenschutz zu berufen, und ihn, so wie es in Israel immer wieder passiert, durch einen Buchstaben ersetzen zu lassen.

Bedenklich ist aber auch, dass die sonst übliche Überprüfung der Todesumstände durch die Gefängnisverwaltung und die Staatsanwaltschaft nicht stattgefunden hat, wie beide Behörden am Dienstag abend bestätigten - vor allem wenn man berücksichtigt, dass sich der Häftling in einem streng überwachten Teil des Gefängnisses erhängt haben soll.

"Affäre X" wird zur "Affäre Netanjahu"

Premierminister Netanjahu hat sich bislang nicht öffentlich dazu geäußert; seine Sprecher verweigern jeden Kommentar. In den Abendnachrichten des Fernsehsenders Kanal zwei sagte ein Kommentator, die "Affäre X" werde zunehmend zur "Affäre Netanjahu", falls sie es nicht schon längst sei.

Sollte es, so der Kommentator, tatsächlich um die nationale Sicherheit gegangen sein, dann habe er sie durch seine "panische Reaktion" heute mehr als alles andere gefährdet. Falls nicht, falls etwas vertuscht worden sein sollte, der Mossad möglicherweise eigenmächtig und gegen das Gesetz gehandelt haben sollte, habe er die Gelegenheit verpasst, heute reinen Tisch zu machen: "Er hätte lückenlose Aufklärung versprechen können. Und hätte damit heute abend als der Held der Freiheit dastehen können."

Ergänzung: Die Nachrichtensperre wurde heute aufgehoben.