Letzter Ausweg Amok

Die Mordserie eines entlassenen Polizisten bringt den Rassismus und die Gewaltexzesse innerhalb des US-Sicherheitsapparates ans Tageslicht der Öffentlichkeit

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Dem ersten Augenschein nach hatte es sich bei der jüngsten Mordserie in Los Angeles um einen jener inzwischen charakteristischen, irren Amokläufe zu handeln, die in immer kürzeren Abständen die amerikanische Öffentlichkeit aufwühlen. Der ehemalige Polizist Chris Dorner, der 2008 wegen einer angeblichen Falschaussage entlassen wurde, begab sich auf einen wirren Rachefeldzug gegen seinen früheren Arbeitgeber, das Los Angeles Police Department (LAPD). Hierbei soll Dorner die Tochter eines inzwischen pensionierten Polizisten ermordet haben, den er für seine Entlassung verantwortlich machte, und deren Lebensgefährten getötet haben. Anschließend soll der mutmaßliche Täter in den Städten Riverside und Corona zugeschlagen haben, wo er einen Polizisten tötete und zwei weitere verwundete. Ins Bild des geistig umnachteten Amokläufers passt auch ein Manifest, das Dorner kurz vor dieser Mordserie veröffentlichte. In dem Dokument, in dem er Gewaltexzesse, Machtmissbrauch und Rassismus innerhalb des Polizeiapparates beklagt, kündigt der Expolizist einen regelrechten Kriegsfeldzug gegen das LAPD an.

Christopher Dorner. Bild: LAPD-Fahndungsplakat

Daraufhin starteten die Sicherheitskräfte Kaliforniens eine der größten Suchaktionen in der Geschichte des US-Bundesstaates, an der mehrere hundert Polizeibeamte und Spezialkräfte beteiligt waren. Tagelang konnte der Flüchtige, der eine Militärausbildung absolviert hatte, unentdeckt bleiben. Der Bürgermeister der Stadt Los Angeles bot sogar eine Belohnung in Höhe von einer Million US-Dollar für Hinweise, die zur Ergreifung des als "extrem gefährlich" bezeichneten Dorner führen sollten. Erst nach einer Woche konnte der Flüchtige in einer abgelegenen Berghütte in der Nähe eines südkalifornischen Skigebiets gestellt werden. Bei der darauf folgenden Schießerei wurde ein weiterer Polizist getötet und einer verletzt. Dorner selbst kam in der Hütte ums Leben, die während der Belagerung durch die Sicherheitskräfte Feuer fing und vollständig abbrannte.

Gewaltexzesse der Polizei

Dennoch entwickelte sich diese Jagd nach dem flüchtigen "Copkiller" für das LAPD zu einem regelrechten Desaster. Die Polizeikräfte Kaliforniens schienen während ihrer Suchaktion bemüht, die Anschuldigungen Dorners mit weiteren Gewaltexzessen und blindwütigem Schusswaffeneinsatz zu untermauern. Ohne Vorwarnung eröffneten Polizisten das Feuer auf den Wagen von zwei älteren Frauen, die in den Morgenstunden des 7. Februar als Zeitungsausträgerinnen unterwegs waren. Sieben Polizisten entluden ihre Magazine in den Wagen der 47-jährige Margie Carranza, die mit ihrer 71-jährigen Mutter unterwegs war. Ihr hellblaues Fahrzeug wies kaum Ähnlichkeiten mit dem dunklen SUV Dorners auf. Beide Frauen erlitten bei dem Vorfall Verletzungen, in etlichen Fahrzeugen und Häusern im Umfeld des Tatortes fanden sich Einschüsse, die von dem exzessiven Schusswaffengebrauch der Polizisten an der Straßensperre zeugen. "Wie kannst du zwei Frauen, eine davon 71, mit einem großen schwarzen Mann verwechseln", wunderten sich ein Anwohner gegenüber der Los Angeles Times, der in seiner Hauseinfahrt fünf Einschusslöcher vorfand. Die Polizeibeamten hätten den beiden Frauen "keine Kommandos, keine Instruktionen und keine Gelegenheit zum Aufgeben" gegeben, sondern sofort das Feuer eröffnet, berichtete deren Anwalt.

David Perdue, ein schlanker Weißer, wurde wenige Minuten nach diesem Vorfall von Polizisten angehalten, weil sein Auto dem des Flüchtigen tatsächlich ähnelte. Nach der Überprüfung seiner Dokumente setzte Perdue seine Fahrt fort, nur um nach wenigen Augenblicken von zwei Polizisten beschossen zu werden. "Diese Psychopathen haben den Truck seitlich gerammt, ihn zum Schleudern gebracht und dann sofort zu Schießen angefangen", erklärte Perdues Anwalt.

Grassierender Rassismus bei der Polizei führte auch zur Entlassung von Dorner

Diese beiden Schießereien lösten breite Empörung in Kalifornien aus. Inzwischen sind einige Autofahrer und Afroamerikaner dazu übergegangen, auf Autoschildern oder T-Shirts die Polizeikräfte darauf hinzuweisen, man sei nicht Chris Dorner. Neben diesen polizeilichen Gewaltexzessen musste das LAPD ein weiteres "Public-Relations-Problem" verkraften, wie es der liberale Christian Science Monitor formulierte, und die Untersuchung wieder aufrollen, die zur Dorners Entlassung führte. Er sei sich der "Geister der Vergangenheit des LAPD" bewusst, erklärte dessen Polizeichef Charlie Beck in Anspielung auf die rassistischen Polizeiübergriffe der vergangenen Jahrzehnte. Deswegen werde er "die Anschuldigungen Dorners bezüglich seiner Entlassung" überprüfen.

Dorner wurde entlassen, weil er den Übergriff einer Vorgesetzten auf einen Verdächtigen gemeldet hat. Diese habe einen Verhafteten mit Fußtritten traktiert, beteuerte Dorner 2007 - und wurde prompt wegen einer angeblichen Falschaussage 2008 entlassen. In seinem Manifest, das im Internet und in der Subkultur alternativer US-Medien große Beachtung fand, demontiert Dorner gerade das von den Massenmedien mitgetragene Selbstbild des LAPD als einer Institution, die ihre rassistische Vergangenheit hinter sich gelassen habe. Die New York Times etwa berichtete darüber, dass sich Dorners Rassismusvorwürfe für viele Angehörige ethnischer Minderheiten mit ihren Erlebnissen decken: "Die Schwarzen waren über eine sehr lange Zeit die Zielscheiben des LAPD, wir haben immer gewusst, dass es korrupt ist," erklärte ein Einwohner, "Für uns sieht es so aus, als ob sie ihn [Dorner, T.K.] dazu getrieben haben, auszurasten."

Diesem Unmut über einen weiterhin willkürlich und exzessiv handelnden Polizeiapparat verschaffte Dorner in seinem "Letzter Ausweg" betitelten Manifest Ausdruck:

Das Department hat sich seit den Tagen des Rampart-Skandals und des Übergriffs auf Rodney King nicht geändert. Es ist noch schlimmer geworden. Das Einzige, was sich geändert hat, … ist die Beförderung der am Rampart-Skandal und dem Rodney-King-Vorfall beteiligten Beamten zu Vorgesetzten. … Die feindlichen Kämpfer in LA sind nicht die Bürger oder die Verdächtigen, sondern die Polizisten.

Aufbauend auf der breiten Abneigung gegenüber den Sicherheitskräften etablierte sich im Internet binnen kürzester Zeit eine Dorner oder sein Anliegen unterstützende Fangemeinde. Dutzende von Facebookseiten, die mitunter Tausende von Anhängern gefunden haben, äußerten Sympathien für das Anliegen des flüchtigen Ex-Cops, der sich auf einem Rachefeldzug gegen das LAPD sah. Eine Gruppe, die sich dem Anonymous-Kollektiv zugehörig fühlt, publizierte einen Solidaritätsaufruf für Dorner. Ein weiterer ehemaliger Polizist ging inzwischen an die Öffentlichkeit, um ähnliche Vorwürfe gegen die Polizeikräfte zu erheben wie Dorner. In Kalifornien schien sich der Plot eines Hollywood-Streifens abzuspielen, der in seinem Verlauf etwa an Oliver Stones Natural Born Killers erinnerte.

Alle 36 Stunden wird ein Afroamerikaner von Sicherheitskräften getötet

Das von der Presseabteilung des LAPD in den vergangenen Jahren mühsam aufgebaute Bild eines "reformierten" Polizeiapparats gerät immer schneller ins Wanken. Die britische Journalistin Ruth Fowler, die seit Jahren in LA wohnt, beschrieb die sich wieder häufenden Polizeiskandale in einem Bericht für das alternative Nachrichtenportal Counterpunch:

Ich spreche über Steven Eugene Washington, einen unbewaffneten 27-jährigen Schwarzen, der im Vorbeifahren vom LAPD erschossen wurde. Ich spreche über Kennedy Garcia, schwer verletzt durch das LAPD, während er gefesselt auf dem Bauch lag. … Ich spreche über Alesia Thomas, eine drogensüchtige junge Mutter, die versuchte, ihr neugeborenes Kind auf einer Polizeistation abzugeben, da sie wusste, sie könne es nicht versorgen - sie wurde verhaftet und mehrmals von den Polizeibeamten misshandelt. Sie starb an den Verletzungen, die ihr hierbei zugefügt wurden. … Abdul Arian floh vor dem LAPD. Irgendwie wird im Doppelsprech der Polizeibehörde das Weglaufen mit Aggression gleichgesetzt. Abdul war 19, das LAPD hat 90 Schüsse abgegeben, um einen unbewaffneten Teenager niederzuschießen, der zu Fuß zu fliehen versuchte.

Im Gegensatz zu Dorner hat keiner der Polizisten, die an den dargelegten Vorfällen beteiligt waren, seinen Job verloren. Dies seien überdies keine "isolierten Vorfälle", erklärte Fowler, da in den USA im Schnitt alle 36 Stunden ein Afroamerikaner von Sicherheitskräften getötet werde. Brutale Polizeiübergriffe mit tödlichem Ausgang, die sich zumeist gegen sozial marginalisierte Menschen oder die Mitglieder von Minderheiten richten, scheinen seit der Militarisierung der US-Gesellschaft nach den Terroranschlägen vom 11. September und dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise rasch zugenommen zu haben. In immer neuen Fällen wird so auch die mit der Krise einhergehende zunehmende Brutalisierung der US-Gesellschaft deutlich. Je weiter sich der Abgrund zwischen einer unermesslich reichen oligarchischen Minderheit und der rasch abschmelzenden Mittelklasse auftut, desto schärfer gestaltet sich der unerklärte Krieg der US-Sicherheitskräfte gegen die Krisenopfer, die schon mal ohne jeden Vorwand totgeschlagen werden. Die eklatante soziale Spaltung der USA befördert diesen unerklärten sozialen Bürgerkrieg.

Diese zunehmende Brutalität des Polizeiapparates ließ offenbar den gebrochenen Idealisten Dorner - der noch 2002 einer alten Dame ein verlorenes Päckchen mit 8.000 Dollar zurückbrachte, als er es zufällig fand - zerbrechen. Sie fördert aber auch eine allgemeingesellschaftliche Brutalisierung, bei der elementare ethische und auch zivilisatorische Standards immer schneller erodieren. Auch die Opfer werden brutalisiert. Nur so ist zu erklären, dass Dorner, der mit seiner Vendetta den "moralischen Kompass" des LAPD wieder gerade rücken wollte, nichts dabei fand, unschuldige Angehörige eines mutmaßlich korrupten Cops zu ermorden.

Die allgemeine krisenbedingte Verrohung und Brutalisierung hat somit nicht nur die Cops voll erfasst, sondern auch diejenigen zahlreichen Fans Dorners, die diesem Mörder zujubeln können. Die Journalisten Ruth Fowler spricht in diesem Zusammenhang von der in endlosen Kriegseinsätzen etablieren Logik der "Kollateralschäden", die man bei seinem Feldzug in Kauf zu nehmen bereit sei. Für das LAPD seien es die angeschossenen älteren Zeitungsausträgerinnen, für Dorner, der trotz seiner Opposition von seinem Militär- und Polizeidienst geprägt wurde, stellten die erschossenen Angehörigen seines früheren Vorgesetzten einen solchen Kollateralschaden dar.