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Nacktheit wird zunehmend als belästigend, skurril oder gar gefährlich angesehen

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Der Moment, in dem ein Kind zur Welt kommt, ist jener Moment, in dem die Nacktheit des Menschen noch als natürlich gilt. Doch bereits kurze Zeit später beginnt das Verhüllen des Körpers - aus den verschiedensten Gründen. Kleidung hat von Anfang an gleich mehrere Aufgaben - zum einen die rein funktionelle. So werden dem Kind neben der Windel auch ein Strampelanzug oder entsprechende Hosen plus Oberteile angezogen, um es vor Umwelteinflüssen und dadurch bedingten Infektionen zu schützen. Schon zu Beginn außerhalb des Bauches der Mutter dient Kleidung auch der Identifikation bzw. der Zurschaustellung von Status, wie sich an entsprechender Babybekleidung für begüterte Eltern zeigt.

Doch selbst innerhalb der eigenen vier Wände (sowie in deren Nähe) sind die Zeiten, in denen Babies nackt herumlaufen können und dürfen, spärlich gesät. Dies resultiert zum einen aus der Tatsache, dass auch die Eltern nicht mehr an Nacktheit gewohnt sind, zum anderen ist gerade auch außerhalb der vier Wände (egal wie groß die Entfernung zu ihnen auch sein mag) die Angst vor dem Sexualstraftäter, der sich durch die Nacktheit des Kindes so stimuliert fühlt, dass er Bilder anfertigt oder das Kind entführt und vergewaltigt. Teilweise herrscht auch Angst, selbst pädophil zu wirken, wenn man zusammen mit dem eigenen Kind nackt spielen, herumalbert oder schwimmt.

Nacktheit als Reiz für andere

Wie sich diese Angst auch in anderen Ländern dahingehend auswirkt, dass beispielsweise die Freikörperkultur sich dieser Angst anpasst und Kinder zu bestimmten Zeiten vom FKK ausnimmt, zeigte sich jüngst in Australien bei der alljährlich stattfindenden Familienolympiade, die in Maslin Beach stattfindet. Maslin Beach wurde 1975 zu Australiens erstem Nacktbadestrand deklariert und zieht seitdem tagtäglich Menschen an, die ohne Badebekleidung Wasser und Sonne genießen. Die jährlich stattfindenden "Nude Olympics" sind für die ganze Familie stets ein Spaß, warten sie doch auch mit Disziplinen wie Dreibeinrennen, Schatzsuche usw. auf. Auch der "schönste Po" wird gewählt.

2013 haben sich die Organisatoren nach Absprache mit der Polizei entschlossen, die Olympiade unter "verschärften Sicherheitsbedingungen" stattfinden zu lassen. Fotografieren war nur mit vorheriger Anmeldung erlaubt und die teilnehmenden Kinder wurden angewiesen, während der Olympiade Schwimmshorts oder Badehosen zu tragen. Dies sollte sicherstellen, dass keine Pädophilen durch die Nacktheit der Kinder angelockt werden.

Zu bedenken ist hierbei nicht nur, dass Maslin Beach weiterhin ganzjährig für FKK offen ist, sondern auch, dass auf diese Weise Kinder bereits lernen, dass ihre Nacktheit etwas Gefährliches ist. Etwas, was "böse Menschen" anlockt und sie schlimme Dinge ausführen lässt. Und, dass sie insofern an den Taten (mit)schuld sind, wenn sie geschehen. Eine Argumentation, die Erik Möller auch im Jugendschutz fand.

Er zitiert die Diplom-Pädagogin Claudia Bundschuh, die nicht nur meint, dass Menschen durch das Betrachten von Bilder in FKK-Zeitschriften pädophil werden könnten, sondern auch die Darstellung eines Mädchens mit entblößten Brustwarzen und geschminkten Lippen in der Zeitschrift Vogue als direkte Begründung für sexuelle Straftaten sieht. Dadurch macht sie die Opfer quasi zu Tätern. "Welchem Täter ist es zu verübeln, wenn er so ein Mädchen missbraucht?" zitiert Erik Möller die Diplom-Pädagogin.

Die Verführerin und der machtlose Mann

Dieses Weltbild weist Parallelen zum salafistisch beherrschten Saudi-Arabien auf, in denen weiblichen Kindern schon sehr früh beigebracht wird, sich zu verhüllen. So forderte dort jüngst ein Prediger, dass sich bereits Kleinkinder verhüllen sollten. Und zwar inklusive Schleier. Denn das Kind könne ja, ohne es zu wissen, Begehren wecken und zu Angriffen verführen.

Hier wird eine Ansicht offenbar, die die Frau, egal welchen Alters, als Verführerin ansieht, der der Mann willenlos ausgesetzt ist. Diese Ansicht ist nicht auf den Islam begrenzt, sondern zeigt sich auch in den westlichen, christlich geprägten Ländern in vielerlei Ausprägung: Fremdgehen des Mannes wird beispielsweise von Frauen oft als "Schuld" derjenigen interpretiert, die den Mann "verführt" hat. Der Mann konnte ja nicht anders als früher oder später nachzugeben. Der Mann gilt als Opfer, die Frau als Täterin.

Diese Ansicht zeigt sich (was besonders erschreckend ist) auch innerhalb von Familien, in denen sexuelle Gewalt stattfindet. Auch hier wird (gerade von den Täterinnen, die zwar nicht selbst die sexuelle Gewalt ausüben, sie oft genug jedoch zulassen) das Kind als Täter umdefiniert und der Mann gilt als Opfer seiner Lust, das von dem koketten oder frühreifen Kind so lange gereizt wird, bis er den Reizen nachgeben muss.

Im Wahabitenkönigreich gehen diese Ansichten teilweise so weit, dass (wie jüngst geschehen) der Vater eines fünfjährigen Kindes trotz der Tatsache, dass er das Kind mehrfach vergewaltigt und danach totgeschlagen hat, mit einer Strafzahlung in Höhe von (umgerechnet) 50.000 US-Dollar davonkam. Der Vater hatte nach eigenen Angaben die Jungfräulichkeit seiner Tochter angezweifelt und diese dann "testen" lassen.

Welcher Art diese Tests genau waren, wird nicht näher erläutert, jedoch war nach Presseberichten der Mastdarm des Kindes herausgerissen und es war "überall vergewaltigt worden". Man hatte sogar versucht, das Rektum des Kindes nach einer Öffnung desselben mittels Hitze quasi wieder zuzulöten ("child's rectum had been torn open and the abuser had attempted to burn it closed"). Die in Saudi-Arabien geltenden, aus der Scharia abgeleiteten Gesetze sehen in solchen Fällen die (sonst recht großzügig verhängte) Todesstrafe nicht vor - weil hier nämlich "nur" ein Ehemann eine seiner Frauen oder Töchter tötet.

Auch hier steht im Hintergrund die Denkweise, dass die weiblichen Opfer letztendlich diejenigen sind, die die Tat auslösen, und der Täter quasi gezwungen wird zu handeln. Befremdlich (und Heuchelei aufdeckend) ist, dass sich Männer gerade in Kulturen, in denen sie dominant und "stark" auftreten, gegenüber Frauen selbst als machtlos ansehen bzw. "nur reagieren". "Die will es doch so, so wie die aussieht", lautet dann die Entschuldigung für eine Vergewaltigung oder sexuelle Übergriffe.

Hier schließt sich der Kreis von den Kindern, die nicht nackt herumlaufen sollen, hin zu den Frauen, die sich keusch anziehen sollen - was in einer größtenteils sexualisierten Welt umso absurder ist.