Stillstand auch in der Verbraucherpolitik

Brüssel. Klassisch. Bild: K. Kollmann

Der Verbraucherpolitik fehlt die Theorie, sie ist in der Gegenwart verklebt

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Mittlerweile gibt es viele Einrichtungen zum Schutz der Verbraucher. Und praktisch alle politischen Akteure wollen die Verbraucher schonen, schützen und ihr Verbraucherleben friedfertig stimmen. Trotz der Fülle und der guten Absichten bewegt sich jedoch wenig. Die Themen bleiben die alten, die Beschwerden werden nicht weniger. Stillstand gewissermaßen.

Vielfalt bei den Verbraucherschützern

Den Konsumenten in Deutschland stehen heute mehr Verbraucherorganisationen als jemals zuvor beiseite. Neben den traditionellen Verbraucherzentralen in jedem Bundesland und ihrem bundesweiten Dachverband vzb, sowie der klassischen Stiftung Warentest, gibt es ökotest, foodwatch, die Verbraucherinitiative, den Bund der Versicherten, die Stiftung Patientenschutz, den Mieterbund gibt es schon seit langem. Ebenso die Autofahrerorganisationen, etwa der ADAC, die sich genauso als Verbrauchervertreter sehen, und schließlich die Umweltschützer, etwa Greenpeace, die ebenfalls einen Verbraucherinteressensanspruch für sich reklamieren.

Neben diesen bundesweiten Organisationen gibt es auch noch lokale Einrichtungen, etwa die Vereinigung kritischer Verbraucher - und natürlich auch eine Organisation auf europäischer Ebene. Seit 1962 hat die BEUC (Bureau Européen des Unions de Consommateurs) sich als Lobbyorganisation gegenüber den Institutionen der EU etabliert.

Vielfalt auch in den Medien

Verbrauchersendungen existieren, insbesondere im Fernsehen, mittlerweile reichlich. Um nur auf einige hinzuweisen: m€x, Marktcheck, plusminus, markt, Ratgeber Recht, Der große Haushaltscheck, WISO usw.

"Fernsehen - Rächer der Entnervten", schrieb schon 1996 Focus, als die erste Welle der Ratgebersendungen verstärkt Verbraucherthemen in die abendlichen Wohnzimmer der Menschen spülte.

Mehr Helfer - mehr Probleme…?

Natürlich, mehr Hilfsangebote, die sich in einer Public-Relations-Kultur auch zunehmend aktiv ihre Öffentlichkeiten suchen, generieren mehr Inanspruchnahme. Und mehr Fälle führen zu mehr Betreuungsangeboten. Allerdings kommen zwei Dinge hinzu: Erstens ist das Konsumvolumen inzwischen wesentlich größer geworden. Um das festzustellen, braucht man keine aufwendige empirische Alltagsgeschichtsforschung anzustellen, man muss sich nur die Lebens- und Wohnverhältnisse der eigenen Großeltern auf Fotos ansehen. Und zweitens, die Deregulierung, die sogenannte Liberalisierung und Kommerzialisierung der Märkte, hat für eine enorme Undurchsichtigkeit des Angebots gesorgt. Und für viel an offensichtlicher und versteckter Übervorteilung der Verbraucher. Das Marketing darf ja nahezu alles und die Politik hetzt die Verbraucher mitleidlos in den Konsum (Stichwort: Binnennachfrage ankurbeln).

Aber der Blick soll jetzt nicht vom "großen national- und EU-politischen New Deal" für das Profitinteresse der Unternehmen, den die Europäische Union inszeniert hat und an dem alle politischen Parteien, mit Ausnahme vielleicht der Linken (aber die gab es damals noch gar nicht) begeistert mitgemacht haben, fokussiert werden, sondern bei den Verbrauchern und ihren Helfern bleiben.

Brüssel. EU. Bild: K. Kollmann

Die aufgezeichneten Verbraucherbeschwerden in Deutschland sind im Vergleich zu anderen Ländern erstaunlich hoch. Im Jahr 2011 wurden 2,25 Millionen Fälle registriert, sagt das Consumer Markets Scoreboard aus dem Dezember 2012. So viele gibt es in keinem anderen Land der EU. Übertroffen werden die Deutschen nur von den Österreichern, die mit einem Zehntel der Bevölkerung immerhin auf 488.000 kommen, also in der Relation mehr als doppelt soviel.

Verklebt in der Gegenwart

Die vielen Verbraucherorganisationen und die vielen Medienschienen, die eingangs angesprochen wurden, zeichnet eine Konstellation besonders aus: Sie sind in die herrschende Konsumrealität verklebt, sie haben - und das ist bei den anderen, ehemals großen Akteuren: Gewerkschaften, sozialdemokratischen Parteien, nicht anders - keine über die gegenwärtigen Umstände hinausreichende Kraft, keinen zukunftsorientierten Gestaltungswillen, kein langfristiges Denken mehr.

Bild: K. Kollmann

Das war vor ein paar Jahrzehnten schon etwas anders. Da gab es noch Zeiten, wo den Verbraucher, also allen Bürgern, die einkaufen müssen, Gestaltungsqualitäten der Wirtschaft und Gesellschaft zugesprochen wurden. Rhetorisch findet sich das auch heute noch - aber praktisch sind die vielen Verbraucherschützer mit Beschwerden, ihrer Selbstdarstellung und der Antwort auf die Brüsseler Initiativen beschäftigt. Für das Nachdenken über Vergangenheit, Gegenwart und eine bessere Zukunft, bleibt da leider wenig Zeit.

Beschäftigungstherapie

Die EU-Kommission weiß natürlich, wie sie die Verbraucherschützer beschäftigt und damit ruhig und nieder hält: Ein Verordnungs-Entwurf oder ein Richtlinien-Entwurf nach dem anderen wird in die 27 Nationalstaaten hineingeschossen, dazu eine Überfülle an Normungsarbeit und technischen Regelungen, an denen im wesentlichen die Industrie ihre Schräubchen dreht (Stichwort: Die haben immerhin die Ressourcen, also das Geld und das Personal dazu), denn es geht ja um ihre Rahmenbedingungen. Etwa zum Ökodesign, wo nach dem absurden Glühlampenverbot jetzt Brauseköpfe und Wasserhähne bis hin zu Weinkühlschränken reguliert werden (Arbeitsprogramm zu Ecodesign ). Und die Verbraucherorganisationen in diesen nun 27, bald 28 und dann 29 usw. alten Nationalstaaten schreiben immer weiter ihre Stellungnahmen, die in Brüssel natürlich piekfein archiviert werden.

Sigiriya, Sri Lanka, ca. 5. Jahrhundert . Bild: K. Kollmann

Gesellschaftspolitische Ziele fehlen

Ab den 1990er Jahren sind den Gewerkschaften, den Parteien, insbesondere den sozialdemokratischen und grünen, aber auch den Verbraucherschützern die großen politischen Ziele abhanden gekommen. In ihren Vorstellungen und Ansprüchen haben sie sich dann von der neoliberalen Primitiv-Argumentations-Maschine überrumpeln lassen. Ihr Fehler, denn die 1980er Jahre waren für die politischen Akteure ein bildungsloses Jahrzehnt (Stichwort: Marketing statt mühsamer Bildungsarbeit - nicht nur beim Publikum, auch bei den eigenen Funktionären). Und mit den fehlenden Konzepten fehlte den Akteuren auch der notwendige Begriffsraum mitsamt den politischen Zielen, um mit den neoliberalen Parolen und den geldgierigen Managern und Unternehmern passend - begrifflich auf Augenhöhe sozusagen - umgehen zu können. Bestenfalls kramen die altgedienten und bei der Sprache gebliebenen Funktionäre heute wieder den Hobbyeugeniker Keynes heraus und bleiben zuverlässig beim Wachstumsfetischismus, zum Beispiel etwa die Nachdenkseiten.

Auch die Think-Tanks, so ein kleiner hat sich in der Friedrich Ebert Stiftung zur Verbraucherpolitik herausgebildet, schaffen keine neuen Ziele nach, das zeigt sich schon an der Publikationsliste, die nahezu ausschließlich pragmatische Verbraucherfragen thematisiert, obschon das als Manko diagnostiziert wird (Michael Fischer, Stephanie von Hayek: Welche Politik brauchen die Verbraucher? ).

Der Politik fehlt die Theorie. Damit die Vision

Verbraucherpolitik ist, wie Gewerkschaftspolitik, heute im wesentlichen theorielos unterwegs. Alte, sozialdemokratische und privat macht- bzw. geldversessene deutsche und österreichische Bundeskanzler haben das Visionsverbot einst verordnet ("Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen") - und die rosarote Gefolgschaft hielt sich brav daran. Neu auftretende Akteure, etwa die Piraten, sind überhaupt theorielos in ihre Streitereien verwickelt.

Theorie, das meint damit nicht, dass man Freud, Adorno und Marx in jedem dritten Satz zitiert und Belesenheit demonstriert, sondern dass einer über ein geschichtsverständiges Konzept von der Welt verfügt, das ihm/ihr und den Anderen erschließt, was sinnvoll und erstrebenswert wäre. Geringe Einkommensunterschiede durch echte Steuerprogression etwa oder Arbeitszeitverkürzung (beides mittlerweile zum Tabu geronnene Themen), würdeorientiertes und tolerantes Umgehen miteinander, ein anständiges Leben führen und wenig Angst vor dem Sterben haben müssen. Ohne eine theoretische Basis oder ein plausibles begriffliches Verständnis der Welt um einen herum bleiben Menschen, Akteure nur der fremdbestimmte Spielball ihrer Umwelt.

Akureyri, Island, 2011. Bild: K. Kollmann

Widersprüchliche Leitbilder

Die Verbraucherpolitik verfügt gegenwärtig über keine Theorie, sie hat auch kein scharfes Leitbild mehr. Es lässt sich jedoch ein unterschwelliges Leitbild ausfindig machen, wenn man sich die Publikationen der Verbraucherschützer und die Schwerpunkte der Verbraucherarbeit genauer ansieht (Verbraucherleitbild - Wunsch und Wirklichkeit).

Problem dabei: Es sind zwei unterschwellige Leitbilder, zwei widersprüchliche Rollen, die dem Verbraucher angezogen werden. Zum einen ist da der arme, hilflose, hoch schutzwürdige Konsument, der in seiner Menschenfreundlichkeit und Altersschwäche den Unternehmen aufrichtig vertraut und deshalb viele Schutzrechte benötigt. Zum zweiten wird der mächtige, souveräne und zugleich verantwortliche Weltgestalter und Gesellschaftsreformer, der mit nachhaltigem Konsum und intergenerationaler Bedächtigkeit das Konsumgüterangebot ins Menschenwürdige formt und dabei auch die Unternehmen in eine nachhaltige Zukunft leitet, beschworen.

Aufgrund der erwähnten Konzeptlosigkeit wird der (hier sarkastisch zugeschärfte) Widerspruch in den zusammengebastelten, unterschwelligen Leitbildern nicht einmal mehr bemerkt. Man wurschtelt weiter wie die anderen gesellschaftspolitischen Akteure auch. Der Weg ist zum Ziel geworden, wie es in einer alten Autowerbung hieß, ein anderes, besseres Land nicht in Sicht.