Täglich 88 Tote und 202 Verletzte durch Schusswaffen in den USA

Angesichts weiter steigender Opferzahlen schalten sich Mediziner in die Debatte ein - und stärken der Obama-Regierung den Rücken

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Mit absurden Argumenten wehrt sich die US-Waffenlobby gegen eine Verschärfung des Waffenrechts. Amokläufer in Schulen und öffentlichen Einrichtungen seien geisteskrank, heißt es von dieser Seite. Oder es wird eine noch stärkere private Bewaffnung gefordert, um sich gegen die Gefahren der privaten Bewaffnung zu schützen. Der Streit, der auch zwischen den beiden großen politischen Lagern geführt wird, trägt Züge eines Kulturkampfes und wird in einem hohen Maße von Lobbyorganisationen wie der Nationalen Schusswaffenvereinigung (NRA) befördert.

Nun hat sich die wissenschaftliche Gemeinde in die Debatte eingeschaltet. In mehreren Beiträgen ging das New England Journal of Medicine, einer der einflussreichsten medizinischen Fachzeitschriften der USA, auf das Thema ein. Das Ergebnis ist eindeutig: Aus medizinethischer Sicht sei eine Verschärfung der Waffengesetze dringend zu empfehlen. Zugleich traten die Autoren landläufigen Irrtümern entgegen.

So beklagt der Notfallmediziner Garen J. Wintemude eine "Gesetzgebung der Tragödie". Wintemude, der an der Universität von Kalifornien lehrt, spricht sich für eine nachhaltige Veränderung der Waffengesetze aus. Dies sei jedoch eine Aufgabe für Generationen, schreibt er in seinem Kommentar für das New England Journal.

In der aktuellen Waffenrechtsdebatte, die auch die jüngste Rede zur Nation von US-Präsident Barack Obama bestimmte, sei ein zu einfacher Blick gefährlich, so der Mediziner, denn "jede Katastrophe ist anders." Vor allem aber seien die medial stark wahrgenommenen Amokläufe nur ein kleiner Teil des Problems. Bei den letzten großen Massakern in Sandy Hook, Oak Creek, Aurora, der Virginia Tech und Columbine seien 95 Menschen getötet worden. Dennoch bildeten solche Bluttaten die Ausnahme, schreibt Wintemude - und führt Statistiken an.

Im Jahr 2011 seien in den USA jeden Tag durchschnittlich 88 Menschen durch Schusswaffen ums Leben gekommen und 202 verletzt worden. Halte der Trend an, könnten die noch nicht veröffentlichten Statistiken für das Jahr 2012 erstmals mehr Tote durch Schusswaffen als durch Verkehrsunfälle aufweisen. Unwahrscheinlich ist das nicht: In den USA kursieren bis zu 300 Millionen Waffen in privaten Händen.

Privater Waffenhandel entzieht sich der Kontrolle

Nach Ansicht von Wintemude liegt hier eines der Hauptprobleme. Auf privaten Börsen würden Waffen mitunter in weniger als einer Minute den Besitzer wechseln. Diese Foren seien daher die Hauptquelle für Kriminelle, um sich zu bewaffnen. Denn anders als offizielle Händler müssen private Verkäufer in den USA keine Daten der Käufer anlegen, sondern lassen sich - im besten Fall - nur den Ausweis zeigen. So würden Gesetze zur stärkeren Waffenkontrolle aktiv unterlaufen. Eine Möglichkeit sei also eine stärkere Überprüfung der Käufer, wenn diese zuvor wegen Gewaltverbrechen oder Alkoholmissbrauchs - zwei der Risikofaktoren - aufgefallen sind. Ein solches Vorgehen würde von bis zu 85 Prozent der US-Bürger befürwortet, sogar unter den NRA-Mitgliedern.

Der Moment für eine solche Gesetzverschärfung, wie sie auch von der Obama-Regierung angestrebt wird, ist günstig, meint Wintemude, der auf eine Krise der Waffenlobby hinweist. Die NRA als landesweit größter Lobbyverband habe schon lange nicht mehr so viel Einfluss wie noch in den vergangenen Jahren. So hätten weniger als fünf Prozent der Wahlkämpfe, in denen die Waffenlobbyisten gezielt eine Seite gefördert haben, dem Wunschkandidaten der NRA zum Durchbruch verholfen, schreibt der Mediziner mit verweis auf entsprechende Statistiken.

Wintermude tritt auch der immer wiederkehrenden These entgegen, dass es sich bei bewaffneten Gewalttätern lediglich um psychisch Kranke handele. Zwar beziehen Verkaufsverbote für Waffen in den USA dieses Kriterium ein. Der verwendete Terminus "geistig Geschädigter" (mental defective) sei jedoch nicht nur diskriminieren, sondern auch zu unscharf. Zwei Attentäter - Seung-Hui Cho und Russel Weston - hätten schließlich psychische Probleme gehabt, ohne dass dies ihnen einen Waffenerwerb unmöglich gemacht hat.

Psychiater: Sozialer Rückzug von Kindern und Jugendlichen ist Warnsignal

Ebenfalls im New England Journal plädiert der New Yorker Kinder- und Jugendpsychiater John T. Walkup daher für eine stärkere medizinische Betreuung Auffälliger. Zum einen seien die meist jungen Patienten mit psychischen Störungen nicht grundsätzlich gewaltbereiter als gesunde Altersgenossen. Zum anderen ließen sich Probleme im frühen Stadium gut behandeln, meint Walkup und verweist vor allem auf eine Auffälligkeit: Viele Täter seien durch soziales Rückzugsverhalten und Selbstisolation aufgefallen.

Bei dem Täter eines der letzten Massaker, Adam Lanza, wurde das Asperger Syndrom vermutet. Die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen in der Gesellschaft sei jedoch nach wie vor eine der größten Hürden für Familien, ihre Kinder in Behandlung zu begeben, meint der Psychiater. Dabei könnte eine Therapie von Sozialstörungen, auch unter Zuhilfenahme von Medikamenten, gute Erfolge bringen - wenn sie durchgehalten wird.

Neben der Ablehnung durch die Familien und den Persönlichkeitsschutz von Patienten ab 18 Jahren sei jedoch das stark kostenorientierte Gesundheits- und Versicherungssystem der USA eines der Hauptprobleme, schreibt Walkup. Die Hürde für eine teure aber notwendige stationäre Behandlung sei dadurch sehr hoch. Oft würden Ärzte nur noch direkte Bezahlung akzeptieren, weil die Krankenversicherungen die Kosten nur in wenigen Fällen erstatten. In der nun stattfindenden Debatte sei es daher notwendig, dass Experten für psychische Erkrankungen einbezogen werden. "Weil die meisten psychische Probleme meist in der Kindheit und Jugendzeit ihren Ursprung haben, müssen wir dem Fortschreiten dieser Erkrankungen von der Kindheit über die Pubertät bis ins Erwachsenenalter mehr Aufmerksamkeit schenken", so sein Appell. Neben der alles bestimmenden Frage einer stärkeren Waffenkontrolle natürlich.