"Widerstandsfähigkeit für Mensch und Unternehmen"

Die Politik hofft auf betriebliche Maßnahmen, um Burnout in den Griff zu kriegen - auch bei sozialen und strukturellen Ursachen

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Über zunehmenden "Psychostress" der Beschäftigten berichtete der DGB-Index "Gute Arbeit" über das Jahr 2012 und fordert gesetzliche Maßnahmen: Der Stress-Report der Bundesanstalt für Arbeitsmedizin und Arbeitsschutz (BAUA) kommt ebenfalls zum Ergebnis, dass Handlungsbedarf bestehe: Wachsender Arbeitsdruck und Hetze bedingten immer mehr psychische Erkrankungen.

DGB und IG Metall wollen eine verbindliche Rechtsverordnung, mit der die Arbeitsschutz-Regelung bezüglich psychischer Belastungen umgesetzt und kontrolliert werden kann. Ihr Entwurf für eine "Anti-Stress-Verordnung" steht schon seit dem letzten Jahr. Arbeits- und Sozialministerin von der Leyen versprach im Januar, aktiv zu werden und berief den Anti-Stress-Gipfel ein. Doch eine gemeinsame Erklärung gegen psychische Erkrankungen seitens Gewerkschaften und Arbeitgebern kam nicht auf den Weg; massive Änderungsvorschläge der Arbeitgeber-Seite blockierten eine Einigung. Die politischen Absichtserklärungen zeigen sich, so lang die gesetzliche Neuerung noch ausstehen mag, wirksam, indem sie den Diskurs über psychische Erkrankungen auf betriebliches Management hin führen.

Ins Hintertreffen geraten soziale Aspekten wie Armut, Verunsicherung, Tagelöhner-Dasein. Seit gut ein bis zwei Jahren wurde die Flut von Burnout- und Depressionserkrankungen als Missstand allgemein Thema – wobei auch strukturelle und soziale Faktoren zu Buche schlagen. So stellte eine Studie des Robert-Koch-Instituts von 2012 fest, dass jede/r dritte (gemeldete) Deutsche unter einer psychischen Störung leidet. Bei den Befragten aus der Bevölkerung zwischen 18 und 80 Jahren wurde die Depression mit 14 Prozent vorherrschend in der Schicht mit niedrigem sozioökonomischen Status festgestellt, Burnout hingegen mit 5,8 Prozent bei der wohlhabenderen Schicht.

Doch wird zur Zeit "Stress am Arbeitsplatz" mit Blick auf betriebliche Maßnahmen intensiv besprochen. Politische Sprecher erklären, sich für eine Besserung der Gesundheit Beschäftigter stark zu machen: Zum einen Frau von der Leyen (CDU) und andererseits die SPD-Arbeitsministerin Mecklenburg-Vorpommerns Manuela Schwesig, die in Richtung Union anmerkte, es handle sich bisher nur um "warme Worte". Die SPD ihrerseits werde im Bundesrat einen neuen Anlauf für eine Anti-Stress-Verordnung am Arbeitsplatz starten.

Die Politik bekundet derzeit, den Appellen der großen Gewerkschaften zu folgen, eine Rechtsverordnung anzupeilen. Ein wichtiges Instrument dürfte dabei die betriebsinterne Vorsorge werden. Sie erhält schon besonderes Gewicht seitens des Arbeitsministeriums z. B. in der Handlungsempfehlung für "Psychische Gesundheit im Betrieb" (Ausschuss für Arbeitsmedizin im Auftrag des Ministeriums) von 2011. Deutlich ist, dass die Politik derzeit dazu tendiert, Burnout abseits vom arbeitsmarktpolitischen Scherbenhaufen zu besprechen.

Seelische Erkrankungen erste Ursache für Frühverrentungen

In von der Leyens Statement kam sogar ein alter Unternehmensmythos zum Tragen, als sie anlässlich des Anti-Stress-Gipfels erklärte: "Unser Ziel ist Resilienz, also Widerstandsfähigkeit, nicht nur für jeden einzelnen Beschäftigten, sondern auch für die Unternehmen als Ganze." Damit traf sie keine Unterscheidung zwischen menschlicher gesundheitlicher und monetärer-unternehmerischer "Widerstandsfähigkeit": In der Formulierung verschmelzen beschäftige Menschen und Unternehmen zu einem einzigen Körper. Dass der Unternehmenserfolg – bei ständig implizitem Wachstumsdiktat- zugleich natürliches menschliches Wohlergehen für alle bringe, ist ein alter Glaubenssatz der Marktliberalen, der hier wiederaufgelegt wird. Und so bricht auch nicht die Broschüre ihres Ministeriums "Psychische Gesundheit am Arbeitsplatz" mit dieser Perspektive.

Die Regierung sieht sich aus wirtschaftlichen Gründen zum Handeln genötigt, da das Erschöpfungs- und Ausgebranntheitssyndrom die Masse der Betriebe erreicht hat. Die Zahl der Krankheitstage wegen psychischer Erkrankungen stieg gemäß Stressreport in den letzten 15 Jahren um mehr als 80 Prozent.1 Die seelischen Leiden seien inzwischen erste Ursache für Frühverrentungen, wird auf der Homepage der Bundesregierung unter anderem auf die wirtschaftlichen Schäden hingewiesen .

Der DGB und die IG Metall fordern eine verbindliche Verordnung beim Arbeitsschutz. Vor kurzer Zeit wurde schon die gesetzliche Aufnahme psychischer Krankheiten in die "Gefährdungsbeurteilung" bei Arbeitsplätzen verwirklicht, doch fehle noch die rechtliche Rahmenbedingung für ihre Umsetzung.

Laut DGB-Befragung bei den rund 5.000 Beschäftigten wächst die Gefahr, dass sich chronischer Stress beim Arbeiten u.a. im Erschöpfungssyndrom manifestiert - bei Überforderung, Multi-Tasking und "Hetze". 56 Prozent der befragten Beschäftigten schätzten die Arbeitshetze als stark oder sehr stark ein, das seien 4 Prozent mehr im Vergleich zur letzten Erhebung. 80 Prozent urteilten, sie müssten immer mehr Aufgaben in der gleichen Zeit leisten.

Eine Trennung von Arbeitszeit und Privatleben wird derzeit von DGB und IG Metall gefordert. Denn 60 Prozent der Arbeitenden erklärten, sie müssten auch in der Freizeit für die Auftraggeber erreichbar sein. Die Erreichbarkeit per Smartphones soll unterbunden werden, will der Entwurf der IG Metall für eine Anti-Stress-Verordnung, und visiert eine Bandbreite von Arbeitsbedingungen an, wie die Arbeitstakte an Montagebändern, die sozialen Beziehungen und Arbeitshierarchien. Gefordert wird z. B. ein "angemessenes Führungsverhalten" bei Entscheidungsprozessen.

"Ungleichgewicht von Aufwand und Belohnung"

Die Politik stützte sich mit ihren Erklärungen besonders auf den Stress-Report der BAUA von Andrea Lohmann-Haislah. Auch hier wird Multi-Tasking als eine Ursache gesehen, sowie "starker Termin- und Leistungsdruck", "Störungen und Unterbrechungen". Insgesamt 43 Prozent der befragten 18.000 Beschäftigten klagen über wachsenden Stress.

Die BAUA legt jedoch, anders als der DGB-Index, einen medizinsoziologischen Report vor. Dabei befasst man sich mit Krankheitsbildern eingebettet in die betrieblichen Verfahren (nach mannigfaltigen Kriterien) wie auch in wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Zum Beispiel wird hier das Modell der "Gratifikationskrise" gemäß dem Soziologen Siegrist zitiert: Demnach sei ein "Ungleichgewicht von Aufwand und Belohnung" – auch erläutert als "effort-reward-imbalance"- möglicher Krankheitsfaktor bei seelischen Belastungen.

Johannes Siegrist von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf forscht, z. B. über "Gratifikationskrisen am Arbeitsplatz und ihre Folgen" (Vortrag vom März 2012) empirisch auf der Grundlage der jüngeren globalen Entwicklung des Arbeitsmarktes, von sozial unterschiedlicher Gesundheitsbedingungen und Gesundheitsverhalten und betrieblichen Bedingungen. Beispielsweise wird die globalisierte Arbeitswelt umrissen:"Wachsender Rationalisierungsdruck (v.a. aufgrund internationaler Lohnkonkurrenz)" führe zu mehr Arbeitsintensität, Arbeitsplatzunsicherheit und Lohn/Gehaltseinbußen. So wird etwa die Arbeitsplatzunsicherheit in der EU-Situation 2005-2010 in einer Grafik veranschaulicht und wird den verhärteten Bedingungen bei globaler Konkurrenzsituation Rechnung getragen.

Die Politik greift auf apolitische Darlegungen zurück

Um die prekäre seelische Lage Arbeitender zu verdeutlichen, wird auch die Medikation mit Antidepressiva am Beispiel finnischer Krankenschwestern dokumentiert. Folgerungen könnten schließlich, so Siegrist, in einer "Früherkennung" von Burnout und wachsender Belastung liegen sowie in einem ganzen Maßnahmenpaket beim Ausbau betrieblicher Gesundheitsförderung, von "Führungsverhalten und Anerkennungskultur" über "Optimierung ärztlichen Handelns" bis hin zu "individuellen und gruppenbezogenen Stressbewältigungsmodellen". Auch sozialpolitische Maßnahmen werden am Rande erwähnt.

Dennoch ist die soziologische Darlegung apolitisch, weil sie die verhärteten Zwänge in der Arbeitswelt nicht im Kontext deutscher Politik betrachtet, sondern im großen globalen Kontext. Da werden nur IWF und Weltbank als politische Akteure genannt. Unerwähnt bleibt auch das Untergraben gewerkschaftlicher Rechte im Zuge der Agenda 2010. Betriebliche und andere Steuerungen für eine gesundheitliche Besserung zu erörtern, entspricht der Ausrichtung dieser Darlegung, so dass wohl maßgeblich wirtschaftliche Führungskräfte zu denen zählen, die die medizinsoziologischen Erhebungen konsultieren.

Unter einem politischen Gesichtspunkt ließe sich sagen, dass Führungskräfte, die heute für besseres Management dieses Fachwissen suchen, wieder die Schulbank drücken, um Grundlegendes über die Arbeitssituation ihrer Beschäftigten zu lernen - nachdem sich diese Führungskräfte nur widerwillig für die selbstbestimmte Formulierung gewerkschaftlich Organisierter interessierten, und nachdem Gewerkschaften im Neoliberalismus immer wieder als unternehmensschädigend denunziert wurden.

Diese Situation entbehrt nicht der Absurdität, denkt man daran, dass hierzulande die politisch betriebene Deregulierung der Arbeit mit den Hartz-Reformen und der fortgesetzten Privatisierung öffentlicher Betriebe wissentlich Tarifbindungen aushebeln ließ und gewerkschaftliche Organisierung erschwerte, weil sie die Vereinzelung der Arbeitenden in Leiharbeits- und Freelancer-Verhältnissen brachte.

Doch ausgerechnet die Politik stützt sich jetzt bevorzugt auf soziologische Studien, um der Bevölkerung das Burnout-Phänomen zu erläutern- und von politischen Ursachen zu schweigen. Das Arbeitsministerium adaptiert beispielsweise die empirische Sicht Siegrists, lässt aber diskret einen Punkt fallen. Z. B. im Vortrag über "Gratifikationskrisen" erwähnt Siegrist schlussendlich bei den Änderungsvorschlägen auch die "Priorisierung politischer Maßnahmen im Gebiet Arbeits- Gesundheits- und Sozialpolitik" (ohne das weiter auszuführen). Im Stress-Report erwägt man derlei nicht. Da werden zwar auch zeitgemäße Verschärfungen von Arbeitsbedingungen, wie Schichtarbeit und lange Arbeitszeiten, breit dargelegt. In punkto Schlussfolgerungen verlegt man sich dann aber ganz aufs Betriebliche und empfiehlt "präventive, arbeitsorganisatorische, gesundheits- und kompetenzfördernde Maßnahmen". Und natürlich bewegt sich auch das oben erwähnte Dokument des Arbeitsministeriums in demselben Fahrwasser.

Die Steuerungsperspektive bleibt bevorzugt. Wenn betriebliches Gesundheitsmanagement als Königsweg angeraten und sicher bei einer Arbeitsschutz-Regelung wichtiges Instrument werden wird, dann wird man auf eine Beratungsbranche zurückgreifen, die seit einigen Jahren in Zusammenarbeit von Krankenkassen, Beratungsfirmen und Managementschulen entsteht. Personalreduziertes Wirtschaften soll zu einem gewichtigen Anteil durch Gesundheitsmanagement abgefedert werden (Gesundheitsmanagement für mehr Arbeit und weniger Personal?), da man sich seit längerer Zeit der Überlastung der Beschäftigten bewusst wurde. In den Beratungspapieren der Firma Mc Kinsey&Company ("Wettbewerbsfaktor Fachkräfte") und der IHK Berlin ("Leitlinien für ein Personalmanagement 2020"), beide von 2011, liest sich die Maßnahme als ein Aspekt von Personalmanagement bei reduziertem Personalschlüssel und als Vorbeugungsmaßnahme für Arbeitsunfähigkeit.

"Lebensunterhalt kann nicht auf Dauer sichergestellt werden"

Bei alldem stellt sich die Frage, ob denn arbeitsbedingter Stress wirklich das gleiche sein solle wie "Stress am Arbeitsplatz", der zurzeit viel besprochen wird. Sind es nicht auch pekuniäre Sorgen bei Niedriglohnverhältnissen, familiäre Sorgen oder Bewerbungsstress zwischen verschiedenen befristeten Arbeiten, die Erschöpfung mit bedingen können? Und was ist mit den Freelancern, die heute gar nicht im Betrieb, sondern freiberuflich für verschiedene Firmen arbeiten und zeitweise "Aufstocker-Geld" beim Jobcenter beziehen?

Tatsächlich ist dem Arbeitsministerium das strukturelle Desaster bekannt. In dem Bericht "Psychische Gesundheit im Betrieb" wird Tacheles gesprochen: "Viele ...sind prekäre Beschäftigungsverhältnisse, die nicht geeignet sind, auf Dauer den Lebensunterhalt einer Person sicherzustellen und/oder deren soziale Sicherung zu gewährleisten." Auch, dass die "flexiblen Arbeitszeitmodelle" ("knapp 60 Prozent aller Erwerbstätigen geben an, mehr als 40 Stunden pro Woche zu arbeiten...26 Prozent arbeiten am Samstag") und die Leiharbeit Stress vermehren können, wird hier formuliert.

Doch für einen Lösungsweg führt der Bericht keine strukturellen Maßnahmen an, sondern - wer hätte es gedacht - das Betriebliche Gesundheitsmanagement, das unter betriebsärztlicher Aufsicht mit "Kommunikations- Gesundheitsseminaren" und "Teamcoaching" geschehen könne. Welchen Erfolg man sich auch erhoffen mag von einer optimierten betriebsärztlichen Tätigkeit und von Workshops für Entspannung, Gymnastik oder Raucher-Entwöhnung - es gehört viel Unverfrorenheit dazu für die politisch Beauftragten, hier die Tatsache Prekarität in einer soziologischen Sprache zu präsentieren, während dieselben politischen Instanzen die beschäftigungspolitische Katastrophe zu verantworten haben, nachdem der frühere Arbeitsminister Clement die Leiharbeit allgemein etablierte und die Regierungsparteien der letzten 10 bis 15 Jahre die Deregulierung und die Lohnkonkurrenz mit der Agenda 2010 und der Ausweitung des Niedriglohnsektors aktiv betrieben.

Ferne liegt den politisch Verantwortlichen auch heute, strukturelle Erleichterungen anzudenken und Aspekte des flexiblen Arbeitens zurückzunehmen, das jahrelang als wirtschaftsförderndes und moralisches Arbeitsverhalten gegenüber der Bevölkerung gepredigt wurde. Politische Maßnahmen gegen den Burnout, z. B. indem die Sanktionen an Jobcentern abgeschafft und damit ein Verunsicherungsfaktor für Erwerbslose beseitigt würde, die Leiharbeit zurückgenommen oder ein lebensverträglicher Mindestlohn festgelegt würde, stehen gar nicht zur Debatte.

Steuerungsglaube oder gesellschaftliche Perspektive?

Der Steuerungsglaube der Politik liegt den kritischen Urteilen diametral gegenüber, die strukturelle Änderungen wollen, wie der Initiative gegen Leiharbeit oder dem Offenen Brief beim Forum "Labournet.de" für eine kollektive Arbeitszeitverkürzung auf die 30 Stunden-Woche, aber auch den Stimmen von Berufsverbänden und Beschäftigten, die gegen Mehrarbeit protestieren oder vor "gefährlicher Pflege" wegen Überarbeitung an Krankenhäusern warnen.

Unvereinbar mit dem Steuerungsglauben wäre wohl auch die grundsätzliche Auffassung, dass der Wachstums-und Produktivitätsfetisch die Gesellschaft in die Irre und ins Irre-Sein führt. So könnte eigentlich gesagt werden, dass psychische Erkrankungen in der warenkapitalistischen Gesellschaft kein ganz neues Phänomen sind. Grundlegendes wird schon geäußert, beispielsweise in der tiefenpsychologischen Betrachtung der Psychoanalytikerin und Schriftstellerin Julia Kristeva. Sie befasste sich in den neunziger Jahren mit den "neuen Leiden der Seele" und legte psychoanalytische Fallstudien dar, die sie als Konsequenz des zeitgemäßen Lebens, zum Beispiel in den modernen Großstädten, kommentierte: "Was täte man da? Nur eines: Waren oder, was dasselbe ist, Bilder, platte Symbole ohne Tiefe kaufen und verkaufen..."2

Seelische "Interieurs" würden in der zeitgemäßen Lebenskultur menschlich herausgebildet, wenn das Äußere normiert, das Innere aber kompliziert wird:

Man hat weder die Zeit noch den nötigen Raum, sich eine Seele zu bilden. Der simple Verdacht einer solchen Sorge wirkt lächerlich und deplaziert. Der von sich selbst besessene moderne Mensch ist ein vielleicht leidender, doch reueloser Narziß. Der Schmerz trifft ihn körperlich: Er somatisiert.

In der aktuelleren Gegenwart aber führt uns die Darlegung des Kultursoziologen Ulrich Bröckling vor, dass die Steuerung für das unternehmerische Individuum zu keiner inneren Stabilität führt. Mit seinem Buch "Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform" (Suhrkamp 2007) beleuchtet er die Prozesse, mit denen das Individuum versuchen muss, dem zeitgemäßen unternehmerischen Leitbild zu entsprechen. Bröckling schrieb mit Blick auf die Verfasstheit der Gesellschaft in der Zeit der vorangeschrittenen Lohnkonkurrenz - hierzulande mit der Agenda 2010, aber auch mit der globalen Entwicklung mit der Ausweitung des marktliberalen Handelns, die das Gebot des vereinzelt arbeitenden Erfolgstyps brachte.

Bröckling legt hier den gesellschaftlichen Hintergrund dar, ohne sozialpolitische Urteile zu vertiefen oder weitgehend Rückbezüge zu formulieren. Wenn er Empirisches anführt, sieht er aber auch keinen Ausweg in der individuellen Steuerung. Im Gegenteil, er fokussiert die Selbststeuerung als ein zeitgemäßes Phänomen, bei dem allerdings deutlich wird, dass das Individuum keine Stabilität erreichen kann. Der Imperativ "Handle unternehmerisch!" habe sich allgemein gesellschaftlich durchgesetzt. Erhalten wird er zugleich durch die Sachzwänge, die jede/n Einzelne/n zum Unternehmertum nötigen. Denn die Verknappung der festen Arbeitsstellen und der Lohnaufträge führte zu einer gesteigerten Konkurrenz. Das Individuum unterliege bei ständiger Auftragssuche einem "Selfmanagement", in dem die ganze Person eingesetzt werden muss.

Überlebensnotwendigkeit mehr als Euphorie oder Aufbruchsstimmung bindet sich bei den prekären Verhältnissen an das unternehmerische Handeln und bürdet einen hohen Erfolgsdruck auf, jedoch muss innerlich mit Optimismus und Eigenimpuls dagegengehalten werden. Das Selbst bewegt sich dabei in einem unauflösbaren "Paradox" oder "Double-Bind". In der verlangten "Dynamik permanenter Selbstoptimierung" sieht der Autor ein Geschehen in Nähe zur Gouvernementalität gemäß Foucault, die im Innern des Zeitgenossen wirkmächtig ist. Eine menschliche Folge sei das "erschöpfte Selbst", das vom ständig empfundenen Ungenügen bei dem Selbstantrieb bedingt werde.

Offenbar zeigen sich unterschiedliche und unvereinbare Gesichtspunkte vor dem Phänomen der psychischen Leiden der Arbeitsgesellschaft. Mit Sicherheit ist mittlerweile schon von einem "Burnout-Diskurs" zu sprechen. Blauäugig wäre es, diesen Diskurs einer bestimmten Sprecherrolle zu überlassen und einem Denkmuster zu überantworten, das eine Steuerung durch die andere ablösen will.