Symptomatisch?!

Erneut erbitten die Parteien vom Wahlvolk einen Blankoscheck, der ihnen alle Optionen offen hält - keine guten Aussichten für die Demokratie

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Über die angebliche „Affäre Brüderle“ ist nicht nur alles, sondern viel zu viel, vor allem auch viel zu viel Überflüssiges gesagt worden. Dass der Politiker schweigt, ist nicht nur verständlich, sondern auch geboten. Auf ein solches Niveau politischer Auseinandersetzung sollte sich niemand freiwillig herabziehen lassen. Das wäre doch zu deprimierend.

Dagegen wurde viel zu wenig über den Fall „Himmelreich“ als Paradebeispiel eines unfairen Journalismus gesprochen, und noch weniger über die nachfolgende wohlvorbereitete, mächtig orchestrierte Sexismus-Kampagne des weitverzweigten feministischen Netzwerks in Medien und Parteien. Es lohnt, sich diese Seite des „Falls Himmelreich“ einmal näher anzuschauen. Auch deswegen, weil der Schuss nach hinten ging, die Kampagne der Feministinnen zum Rohrkrepierer geriet. Unerwartet großer Widerspruch, im Übrigen nicht nur von Männern, artikulierte sich, vor allem natürlich im Netz.

Bescheidenes Niveau

Dass das Land über Tage und Wochen unentwegt mit einem Flohsprung an Ereignis in „Atem“ gehalten werden kann, ist ebenso erstaunlich wie symptomatisch. Wie abwegig, ja verwirrt, muss man sein, die flapsige Bemerkung eines Politikers in vorgerücktem Alter über die Oberweite einer jungen Journalistin anders als abgeschmackte Lappalie abzutun, die sich nun einmal gar nicht eignet, öffentliche Erwähnung zu finden. Dass politische Berichterstattung auf ein solch bescheidenes Niveau zu sinken imstande ist, war bei uns bisher nicht zu vermuten, aber doch zu befürchten.

Peinlichkeiten dieser Art werden uns wohl auch in Zukunft nicht erspart. Für den anstehenden Wahlkampf lässt die „Affäre Brüderle“ Schlimmes befürchten. Politik - so die Diagnose des überaus langweiligen Wahlkampfbeginns - findet nicht mehr statt, es ist Wahlkampf und keiner hört zu, es gibt Wahlen und keiner geht hin. Ist das die Zukunft? So übertrieben pessimistisch, so unrealistisch ist das nicht. Die „Affäre Brüderle“ macht schlaglichtartig eine Kehrseite deutlich, über die kaum, zumindest viel zu wenig, gesprochen wird.

Abstinenz

Von Politikern und Meinungsmachern kaum bemerkt hat sich in der Berliner Republik eine schleichende, ganz merkwürdige, ja unheimliche Entfremdung vom Politischen zugetragen. Politik und Politiker werden einfach immer weniger ernst genommen. Politische Berichterstattung verkommt zum seichten Politainment, wird Teil der Unterhaltskultur. Politiker bedienen sich der neuen Möglichkeiten und tragen damit selbst zur weiteren Entpolitisierung bei. Kein Wunder, dass die Bildzeitung zum politischen Leitmedium geworden ist.

Hinzukommt, dass immer mehr Menschen den Eindruck haben, dass ihre Meinung ohnehin nicht gefragt ist, dass ihre Sorgen nichts zählen, dass ihre Interessen schlicht übergangen werden, und - das ist das Schlimmste - dass sie auch nichts dagegen machen können. An diesem Befund ändern auch die schrillen, zumeist medienverwöhnten Lobby- und Pressure-Groups nichts, die ebenso überheblich wie vorlaut anmaßend so tun, als ob sie Volkes Interessen und Meinung vertreten. Wenn sich der Eindruck, die da oben machen sowieso, was sie wollen, im Volk festsetzt, ist Demokratie am Ende. Sie schafft sich dann selber ab. Was bleibt ist eine Fassade, die das Wahlvolk mit Unappetitlichkeiten á la „Affäre Brüderle“ vergnügt.

Politik durch die Hintertür

Das ist nicht nur ein Gefühl, ein Unbehagen. Es gibt Gründe für die Entwicklung. Eine eiserne, unabänderliche Logik sogenannter Sachzwänge beherrscht das politische Geschehen. Diese Logik produziert unentwegt „Tatsachen“, aus denen dann weitere Sachzwänge entstehen. Diese produzieren dann erneut „Tatsachen“ und so weiter und so fort. Ein Perpetuum mobile der Politik. Die handelnden Akteure stellen sich dann als Getriebene einer Entwicklung dar, die sie im besten Fall erleichtern oder - wenn überhaupt - moderieren, längst jedoch nicht mehr beeinflussen können.

Mal ist es der Öffnungstermin der Tokioer Börse, dann ist es der drohende Absturz eines Mitgliedslandes ins Chaos, mal ist es der mögliche Zusammenbruch einer Bank, dann ist es das freundschaftliche Zugeständnis gegenüber dem Partner in Paris - immer gibt es Ereignisse von draußen, die die Bundeskanzlerin oder ihren Finanzminister in den berüchtigten Brüsseler Nachtsitzungen zu „Nacht-und-Nebel Entscheidungen“ zu zwingen scheinen, die sie so gar nicht gewollt hatten. Die Zurechenbarkeit von und die Verantwortlichkeit für getroffene Entscheidungen verflüchtigen sich dann in einem Nebel von wohlklingenden Phrasen und Gemeinplätzen.

Die Bundeskanzlerin ist hierin eine wahre Meisterin: Abends vor den Hauptnachrichtensendungen beruhigt sie das besorgte Publikum, sie bekundet ihre Prinzipienfestigkeit und verkündigt großspurig eine entsprechende Unnachgiebigkeit, um dann nachts zur vorgerückten Stunde kleinlaut wieder einmal einzugestehen, dass sie in den Verhandlungen zum Wohl der europäischen Völkerfamilie und selbstredend auch deutscher Interessen hätte nachgeben müssen. Das Einknicken wird dann von „ihren“ Presseleuten als Erfolg der „eisernen Kanzlerin“ gefeiert. Zwischenzeitlich hat Merkel dies zu einem Brüsseler Ritual verfeinert, sehr zum Wohlgefallen der Gläubigerstaaten und zur klammheimlichen Freude der zehn Nicht-Euro-Staaten.