Sechster Sinn durch Neuroprothese?

Mit einem Infrarotsensor und in ein taktiles Areal implantierten Mikroelektroden sollen Ratten gelernt haben, sich anhand von Infrarotsignalen zu orientieren

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Neurobiologen haben Ratten Elektroden in das Areal im somatosensorischen Kortex (S1) implantiert, in dem taktile Informationen von den Schnurrhaaren verarbeitet werden. Die Elektroden wurden mit einem Infrarotsensor am Kopf verbunden, so dass die Ratten nun mit einem neuen technischen Sinnesorgan die Welt um sie herum wahrnehmen können. In diesem Fall "sehen" sie nicht mit dieser Neuroprothese, sondern "berühren" sie gewissermaßen das Infrarotlicht.

Bild: Nature Communications

Es sei das erste Mal, dass mit einer Neuroprothese in Säugetieren die Wahrnehmung erweitert worden sei, sagt der Neurobiologe Miguel Nicolelis, der das Wissenschaftlerteam geleitet hat. Die Ratten hätten so durch die Technik einen sechsten Sinn erworben. Die Wissenschaftler der Duke University haben ihr Experiment mit den Ratten in der Zeitschrift Nature Communications veröffentlicht.

Das Experiment habe auch gezeigt, dass in einem auf bestimmte sensorische Signale ausgerichteten Gehirnareal des Kortex auch andere Signale verarbeiten werden können. Bislang sei nur versucht worden, sensorische Wahrnehmung etwa durch Cochlea- oder Retinaimplantate wiederherzustellen, aber eben nicht, die Funktion eines Areals zu erweitern. Dass dies möglich sein könnte, wäre schon von Versuchen demonstriert worden, die die Plastizität der neuronalen Verarbeitung gezeigt hätten. So bildeten visuelle Reize, die bei neugeborenen Frettchen in den auditiven Kortex umgeleitet wurden, diesen funktional und anatomisch ähnlich dem visuellen Kortex um. Nicolelis erklärt, man habe nur deswegen Infrarotsignale genommen, weil diese nicht die elektrophysiologischen Aufzeichnungen stören. Genauso gut hätte man Sensoren für beliebige Lichtwellen, für Radiowellen, überhaupt für jede Energie, aber auch für magnetische Felder nehmen können.

Nicolelis hofft deswegen auch schon mal, irgendwann etwa einer Person wieder das Sehen ermöglichen zu können, wenn deren visueller Kortex geschädigt ist. Man könnte dann ja einfach die visuellen Signale vom Auge durch eine implantierte Neuroprothese einem anderen Areal zuleiten. Die Hoffnung, die natürlich erst einmal auf weitere Finanzierungsquellen ausgerichtet zu sein scheint, ist gewagt, schließlich haben die Ratten mit ihrer Neuroprothese nicht ihre Umwelt anders gesehen, sondern es konnte nur gezeigt werden, dass ihr Gehirn auf Infrarotlicht reagierte und die Ratten versucht haben, unterschiedliche Infrarotsignale zu unterscheiden. Ob man Tieren oder Menschen neue Wahrnehmungsquellen erschließen kann, die sie dann auch ähnlich wie die sensorischen Reize verarbeiten können, steht in den Sternen.

Bei dem Experiment wurden sechs Ratten zunächst auf Lichtreize trainiert. Sie kamen in ein rundes Gehäuse mit drei Öffnungen. Wenn ein LED-Licht aufleuchtete, erhielten die Ratte an dieser Öffnung Wasser, wenn sie ihre Nase in diese steckten. Die Erfolgsrate lag bei 70 Prozent. Dann wurden ihnen die Elektroden in das Gehirn eingepflanzt und der Infrarotsensor chirurgisch am Kopf angebracht. Das Experiment wurde dann unter denselben Bedingungen wiederholt, nur das LED-Licht wurde gegen Infrarotlicht ausgetauscht, was Ratten normalerweise nicht sehen können.

Screenshot aus einem Video, das die Versuche mit den Ratten zeigt

Das Infrarotsignal wurde in ein Muster elektrischer Stimulation übersetzt. Je näher die Ratte der Signalquelle kam, desto höher war die Frequenz der Stimulation. So war also eine rudimentäre räumliche Orientierung möglich. Die Ratten brauchten durchschnittlich 26 Tage, um die Erfolgsrate von 70 Prozent zu erreichen. Es wurden danach aber auch bessere Ergebnisse mit einer Erfolgsrate bis zu 95 Prozent erzielt. Beim Lernen änderte sich auch ihr Verhalten. Die Suche geschah erst zufällig, da die Infrarotsignale erst einmal als taktische Informationen der Schnurrhaare interpretiert wurden, bis sie gezielt die Kammer erkundeten und ihren Kopf mit dem Sensor hin und her bewegten, um das Infrarotsignal zu orten. Allerdings hing der Lernerfolg stark mit dem Abstand der Öffnungen zusammen. Wurden die Abstände zu klein, wuchs die Unsicherheit und sanken die Treffer.

Die Neuroprothese, die nicht wie bei der Optogenetik einzelne Neuronen stimuliert, sondern ungezielt viele, verdrängt als mit ihrer Stimulation also nicht die ursprüngliche Funktion, sondern addiert eine neue. Man könnte vielleicht auch sagen, dass hier nun Multitasking geleistet werden muss. Welche Folgen dies langfristig hat, muss erst erforscht werden, bei den Ratten konnten immerhin über Monate hinweg beide Stimuli unterschieden werden. Allerdings reagierten einzelne Neurone nur auf taktile Signale, nur ein einziges Neuron reagierte nur auf das Infrarotsignal. Für den größten Teil der Regionen von S1 legten sich also zwei unterschiedliche Repräsentationen übereinander, wodurch ein "bimodal verarbeitendes Areal" entstand, wie die Wissenschaftler sagen. Wirklich belegt werden kann durch die Versuche allerdings nicht, dass die Ratten eine neue Wahrnehmung hatten. Sie könnten einfach gelernt haben, eine taktile Empfindung anders zu deuten. Das räumen auch die Wissenschaftler selbst ein und sagen, dass das mit menschlichen Versuchspersonen geklärt werden könne.

Nicolelis, der seit vielen Jahren erforscht hat, wie durch Implantate die Abnahme von motorischen Neuronen Armprothesen oder ein Exoskelett gesteuert werden können, hofft auch, dass die Möglichkeit, eventuell durch Neuroprothesen neue sensorische Wahrnehmungen ermöglichen zu können, auch neue Feedbackmöglichkeiten schaffen zu können. Prothesen oder Exoskelette könnten nicht nur besser werden, wenn sie taktile Informationen ans Gehirn leiten könnten, möglicherweise könnten die Informationen über die Bewegungen auch über Infrarotlicht oder Radiosignale dem Gehirn übermittelt werden, spekuliert Nicolelis.