"Wir werden einen Teufel tun, die Produkte zu verteilen, über die sich gerade alle aufregen"

Lebensmitteletikettenskandal: Gibt es nur die Lösung "Alles wegwerfen"?

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Ist der Fisch ist das nächste Pferd, das Konsumenten zum Rindvieh macht? In den USA haben sich Lebensmittelprüfer auf den Weg in Restaurants und Geschäfte gemacht, die Fisch- oder Fischgerichte verkaufen, und dabei herausgefunden, dass 95 Prozent der Sushi-Restaurants, 52 Prozent der anderen Restaurants und 27 Prozent der Lebensmittelgeschäfte falsch etikettierten Fisch verkauften: billigere Ware, als die annoncierte. Der Vorstand einer Seafood-Kette nimmt die Küchenchefs in Schutz. Sie würden nicht absichtlich täuschen, sondern selbst getäuscht werden, weil sie nicht gut genug informiert seien. Das Problem sei nicht die Unehrlichkeit der Endverkäufer, sondern die Unachtsamkeit.

Es ist naiv davon auszugehen, dass solches in Europa nicht vorkommt. Die nicht immer nachvollziehbaren Handelswege von Fischprodukten liefern vermutlich ebenfalls Gelegenheiten zu Etikettenschwindel wie bei den Fleischprodukten. Sind Überlegungen auch naiv, die darauf hinauslaufen, falsch etikettierte Lebensmittel zu verteilen statt zu vernichten?

Bislang liegen die Produkte, denen in betrügerischer Absicht entgegen der Kennzeichnung Pferdefleisch beigemischt wurde, in Stapeln herum, berichtete ein französischer Nachrichtensender vor etwa einer Woche. In dem Bericht ist auch die Rede davon, dass sich drei Organisationen, die sich dafür engagieren, Ärmeren Essen zu günstigen Preisen oder kostenlos zur Verfügung zu stellen, daran interessiert zeigen, die Nahrungsmittel zu übernehmen. "Restos du cœur", die Tafelorganisation "la Banque alimentaire" und die Hilfseinrichtung "Secours populaire".

Nimmt man deutsche Angaben zur Orientierung - dass das Bundesverbraucherministerium in den amtlichen Proben "jeweils mehr als ein Prozent Pferdefleisch" festgestellt hat, und es sich bei Stichproben-Untersuchungen gezeigt habe, dass Tests auf Rückstände von Tierarzneimitteln negativ ausgefallen seien -, so kann man trotz einer gewissen Skepsis davon ausgehen, dass auf den Stapeln der ausgesonderten Tiefkühlkost keine schlechte Nahrung lagert. Und die Aussichten darauf, dass Lebensmitteltests, die nicht auf die Etikettierung achten, sondern auf die gesundheitliche Qualität, gut ausfallen, wären nicht schlecht.

Schwierigkeiten bei der Verteilung

Dass die Lebensmittelprodukte sich nach Tests als einwandfrei herausstellen müssen, ist das erste Kriterium, das die Organisationen genannt haben. Doch sie erklären auch eine Woche nach der ersten Interessensbekundung weiter nur eine prinzipielle Bereitschaft, tatsächlich unternommen wurde noch nichts. Sie wartet einmal noch auf das "grüne Licht" der Gesundheitsbehörden, heißt es und es gibt noch andere Schwierigkeiten.

Zum Beispiel logististische Schwierigkeiten: Die kaum abzuschätzende Riesenmengen an den aus dem Warenverkehr gezogenen Produkten benötigen geeignete Lagerplätze für Tiefkühlfrost und dafür geeignete Transporter. Das sei von den drei Organisationen mit ihren Mitteln nicht zu schaffen, berichten französische Medien. In Deutschland ist das laut Bernd Neitzert, Vertreter der Tafeln in Rheinland-Pfalz, der Grund, der den Überlegungen, die aussortierten Nahrungsmittel an Bedürftige auszugeben, ganz praktisch ein Ende setzt:

Selbst wenn wir das wollten, könnten wir es nicht tun. Es geht ja meist um Tiefkühlprodukte, und den Tafeln fehlen entsprechende Kühlmöglichkeiten.

Würde, Wohlstand und Betrüger

Was Neitzert im Laufe des Gespräches weiter zu bedenken gibt, wird auch in der französischen Diskussion vorgebracht: der moralische Standpunkt. Es sei eine Frage der Würde, argumentieren Vertreter des französischen Roten Kreuzes, die solche Verteilungsaktionen ablehnen:

Wir wollen die Ärmeren nicht stigmatisieren und nicht unterstreichen, dass, weil die einen nicht bloß aus Hunger essen, Ärmere dann das essen sollen, was die anderen nicht wollen.

Der Vertreter der Tafeln in Rheinland-Pfalz bläst in das gleiche Horn, noch schärfer. Man wolle solche Ware nicht.

Wir werden einen Teufel tun, die Produkte zu verteilen, über die sich gerade alle aufregen. Wer bei uns Lebensmittel bekommt, wird behandelt wie jeder andere Bürger auch. Wenn die Hersteller so etwas verbocken, werden wir es ganz bestimmt nicht ausbaden.

Das ist in der Haltung konsequent. Nicht nur in der Achtung gegenüber den Ärmeren, sondern auch in der deutlichen Zuweisung der Verantwortlichkeit und der sich daraus eregenden Konsequenzen, die von den Betrügern zu tragen seien. Eine moralische Linderung des Betruges dadurch, dass Betrüger darauf hinweisen könnten, dass letztlich wenigstens die Ärmeren von ihren Manövern profitiert hätten, kommt nicht in Frage. "Die Fleischpanscher müssen zur Verantwortung gezogen werden", so Neitzert. Die Betrüger hätten die Strafe zu zahlen.

Es ist ausgesprochen teuer, Lebensmittel zu entsorgen. Ich hoffe, dass die Einzelhändler die entstehenden Kosten an die Lieferanten weitergeben.

Das ist schon richtig gedacht. Aber in der Konsequenz auch verstörend. Gibt es wirklich keine andere Lösung als die aussortierten Lebensmittel wegzuwerfen? Oder führt kein Weg daran vorbei: "Der Appetit ist mir vergangen"?