Jedes fünfte Kind wächst unter prekären Verhältnissen auf

Der 14. Kinder- und Jugendbericht zeigt, dass die Spaltung der Gesellschaft nicht kleiner wird

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Erstmals seit 2001 gibt es wieder einen umfassenden Gesamtbericht über die Lage der Kinder und Jugendlichen in Deutschland, erarbeitet von einer unabhängigen Sachverständigenkommission im Auftrag des Bundesfamilienministeriums. Bereits Ende Januar hat das Bundeskabinett den Bericht beschlossen und befunden und erklärt, dass dieser die Kinder- und Jugendpolitik der Bundesregierung bestätige. Doch wer sich den rund 500 Seiten langen Bericht genau ansieht, wird feststellen, dass es um die Situation vieler junger Menschen in Deutschland alles andere als gut bestellt ist.

Bei der gestrigen Vorstellung des Berichts in Berlin erklärte der stellvertretende Vorsitzende der Sachverständigenkommission, der bis zum Herbst 2012 Staatssekretär im Nordrhein-Westfälischen Familienministerium war, dass zwar ein großer Teil der Kinder und Jugendlichen einigermaßen sorgenfrei durchs Leben gehen könne. Jedoch wachse der Anteil derer, die nicht die gleichen Chancen wie ihre Altersgenossen haben, beispielsweise in der Bildung.

Für die Bundesregierung, die Deutschland mittlerweile gar zur Bildungsrepublik erklärt hat, kommen derartige Aussagen ungelegen. Doch die Fakten, die der Bericht bereit hält, sprechen eine klare Sprache. Kinder, die in Armut aufwachsen, hätten nach wie vor relativ wenig Chancen, so Schäfer. Dabei kommt der Bericht auch zu dem Schluss, dass die Kluft zwischen Arm und Reich nicht nur in der Welt der Erwachsenen, sondern auch in der Welt der Kinder und Jugendlichen zugenommen hat

Der Direktor des Deutschen Jugendinstituts, Thomas Rauschenbach erklärte, zwischen 20 und 30 Prozent hätten heute eine prekäre Kindheit, und eine Gruppe von einem Prozent sei in derart massiven Schwierigkeiten, dass sie sich von Anfang an in einer „Risikokarriere“ befänden. Da die Kinder und Jugendlichen keinen gemeinsamen Startpunkt hätten, müsse der Staat darauf hinwirken, dass sich die Startpunkte angleichen.

Aufschwung kommt bei Jugendlichen nicht an

Dazu sei es nicht nur nötig, die Kitas und Ganztagsschulen weiter auszubauen, sondern es müsse auch ein „Innenausbau“ in diesem Bereich stattfinden, um zu mehr Qualität bei der Betreuung und Förderung von Kindern und Jugendlichen zu kommen. Denn insbesondere Jugendliche aus Haushalten, die langfristig in relativer Armut leben, können laut dem Bericht in aller Regeln nur niedrige Abschlüsse in Schule und Beruf erwerben, so dass sie den Weg aus der Armut nicht herausfinden werden. Auch Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund müssen um ihre Zukunft bangen: Nach wie vor ist ihr Risiko, keinen Schulabschluss zu erreichen, fünf Mal größer als im Durchschnitt.

Die Armut unter den Kindern und Jugendlichen ist jedoch nicht gleichmäßig über alle Altersgruppen verteilt. So sind Kinder von null bis drei Jahren stärker von Armut betroffen als Schulkinder. Doch im Alter steigt das Armutsrisiko erneut an: Unter den 15-19jährigen sind 21,8 Prozent vom Risiko Armut bedroht, in der Altersgruppe von 20-25 sogar 25,5 Prozent. Frauen sind dabei deutlich stärker von Armut betroffen als Männer, wobei sich dieser Trend ab dem 26. Lebensjahr umkehrt.

Ebenfalls auffällig ist das deutlich höhere Armutsrisiko für Menschen mit Migrationshintergrund und für ostdeutsche Jugendliche - ein dringender Hinweis darauf, wie gespalten die deutsche Gesellschaft auch über 20 Jahre nach der Wiedervereinigung noch ist.

Ein weiteres Armutsrisiko, welches der Bericht ausgemacht hat, ist das Studium. Mehr als ein Viertel der armen jungen Erwachsenen ab 19 Jahren sind demnach Studenten. Auch das Armutsrisiko der erwerbstätigen jungen Erwachsenen ist hoch. Ein wirksamer Schutz vor Armut sei daher nur, ein gutes Beschäftigungsverhältnis in einem gesicherten Arbeitsmarktsegment zu erlangen. Dies gelinge jedoch nur jedem dritten Erwachsenen zwischen 26 und 30 Jahren. Der von der Bundesregierung viel gepriesene Aufschwung, er kommt bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen offenbar nicht an.

Richtig gestellte Weichen?

Auch die Kinder- und Jugendhilfe kann bei diesen Problemen offenbar nur sehr begrenzt helfen, wie Karin Böllert bei der Vorstellung des Berichts erläutert. Denn diese arbeite eher mittelschichtsorientiert und klammere gerade diejenigen aus, die Unterstützung am stärksten nötig hätten.

Aussagen darüber, ob Maßnahmen der Bundesregierung wie das viel kritisierte Bildungs- und Teilhabepaket für Kinder aus SGB2-Familien tatsächlich wirken, enthält der Bericht jedoch nicht, wie die Experten auf Nachfrage einräumen müssen. Jedoch beurteilten sie es positiv, dass die Bundesregierung überhaupt bei diesem Thema aktiv werde, unabhängig davon, wie wirkungsvoll die Maßnahmen im einzelnen sind. Die Weichen seien in Deutschland richtig gestellt, das heiße jedoch nicht, dass die Züge in die richtige Richtung fahren, kommentierte Rauschenbach vielsagend.

Doch gerade das Fehlen einer kritischen Bestandsaufnahme der Maßnahmen von Schwarz-Gelb macht es der Bundesregierung leicht, sich hinter einzelnen positiven Aspekten des Kinder- und Jugendberichtes zu verstecken - eine vielfach erprobte Strategie, die Union und FDP insbesondere im Wahljahr dankbar nutzen werden.