Beppe Grillo - Superstar

Viele kamen zur Abschlussveranstaltung

Der vehemente Kritiker des etablierten Parteiensystems dürfte mit seiner ehemals außerparlamentarischen Bewegung zur drittstärksten Kraft im Parlament werden

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Vor einigen Jahren bat er - halb im Scherz, halb im Ernst -, Deutschland möge doch bitte wieder in Italien einfallen und das Land von seinen Politikern befreien. Bei den aktuellen Parlamentswahlen in Italien dürfte sein Movimento 5 Stelle (5 Sterne-Bewegung) mit knapp zwanzig Prozent der Stimmen und rund hundert Abgeordneten die drittstärkste Kraft im Parlament werden. Seit den Grünen in Deutschland zu Beginn der 80er Jahre wäre es die erste "außerparlamentarische Opposition", die ein europäisches Parlament erobert.

Waren es nun Hunderttausend? Zweihunderttausend? Die "achthunderttausend Menschen", die die Organisatoren am Freitagabend gezählt haben wollten, waren es sicher nicht. Aber es waren viele, sehr viele, die bei Beppe Grillos Abschlussveranstaltung seiner "Tsunami-Tour" auf der ehrwürdigen Piazza San Giovanni im Südosten Roms, sonst eigentlich das traditionelle Versammlungsgelände der Linkspartei, dabei sein wollten.

Die Metro-Station war bereits seit 16 h gesperrt, der weitläufige Platz um 19 h längst rettungslos überfüllt. Und als dann endlich, kurz nach 21h, der "Messias" auf die Bühne trat und selbst von der Menschenmasse, die zum Teil Stunden in Regen und Kälte auf ihn gewartet hatte, überwältigt schien, da glaubten viele, etwas Besonderem beizuwohnen. "Ich habe das Gefühl, bei einem historischen Ereignis dabei zu sein", sagt Mauro, der eigens mit dem Bus aus dem fast zweihundert Kilometer entfernten Formia gekommen ist. Und der junge Gianluca, Informatikstudent aus einem Dorf in den Abruzzen, bringt das Gefühl vieler vielleicht am besten auf Punkt: "Das ist geiler als jedes Rockkonzert."

Beppe Grillo ist alles andere als ein Jungspunt. Aber im Vergleich zu seinen Konkurrenten (Berlusconi: 76, Monti: 69, Bersani: 61) nimmt er sich, immerhin auch schon 64, mit seiner drastischen Sprache, seiner raumgreifenden Gestik, seinem aufbrausenden Temperament wie ein "junger Wilder" aus. Vielleicht auch deshalb ist er jetzt die Hoffnung eines großen Teils der italienischen Jugend. Die sieht sich mit einer Arbeitslosenquote von über 35 Prozent mittlerweile ähnlich gesellschaftlich ausgegrenzt wie ihre griechischen und spanischen Altersgenossen. Die nächste Immigrationswelle gen Norden steht wohl unmittelbar bevor.

Aber auch viele, für Italiens Wirtschaftsstruktur ungemein wichtige Kleinbetriebe, oft noch mit einer familiären Struktur, zieht Grillos "Movimento" zusehends auf seine Seite. Diese sind dank sinkender Konjunktur bei gleichzeitig steigenden Kosten und Steuern stärker vom sozialen Abstieg bedroht als - gewerkschaftlich und ökonomisch noch halbwegs abgesicherte - Arbeiter und Angestellte in den Großbetrieben.

Grillos stärkstes Argument: Er steht dem etablierten Parteiensystem so entfernt wie der Mond zur Erde, ist seit Jahren ein vehementer Agitator gegen Italiens politische Kaste, die er für durch und durch korrumpiert und nicht reformierbar hält. Vettern- und Günstlingswirtschaft, ein fein gewobenes Netz gegenseitiger Abhängigkeiten und Gefälligkeiten sowie, im Extremfall, offene Korruption - etwa wenn Berlusconi sich bei Misstrauensvoten die zum politischen Überleben erforderliche Mehrheit einfach "erkauft" hatte (Preis für einen "Überläufer": zwischen 200.000 und 500.000 Euro, je nach Vita des Abgeordneten und Bedeutung für den eigenen Machterhalt) - liefern die unbezahlbare Munition für Grillos erst vor drei Jahren gegründetes "Movimento".

Beppo Grillo auf der Abschlusskundgebung in Rom: Bild: Screenshot aus Video

Finanzminister: "Am besten eine alleinerziehende, dreifache Mutter"

Dessen Programm verbindet einschneidende Machtbeschränkungen der "casta" (max. zwei Legislaturperioden für alle Abgeordneten, keine Vorbestraften, drastische Reduzierung der - mit über 10.000 Euro plus umfangreicher Spesen - auch unverhältnismäßig üppigen Bezüge, eine lückenlose, auch rückwirkende, Überprüfung von Vorteilsnahme im Amt, Gesetze gegen Korruption und Machtmissbrauch) mit fortschrittlichen Positionen, wie sie auch bei Grünen (Beschränkungen bei Bau- und Industrieprojekten, verstärkte Nutzung alternativer Energien) oder Piraten (vereinfachte, elektronische Verwaltung, freier Internetzugang für alle) in Deutschland zu finden sind.

Hinzu kommen einige radikaldemokratische Forderungen, wie das "bedingungslose Grundeinkommen" oder ein "Referendum über den Verbleib im Euro", das es aus Perspektive der etablierten Parteien koalitionsunfähig erscheinen lässt. Bemerkenswert auch Grillos Vorschlag für die Besetzung des Finanzressorts: "Am besten eine alleinerziehende, dreifache Mutter... die weiß, wie und wo man sparen kann, um bis zum Monatsende durchzukommen. Die versteht mehr von Geld als jeder Wirtschaftsprofessor."

Zunächst als außerparlamentarisches Protestbündnis gedacht, stellt das "Movimento" seit den letzten Regional- und Kommunalwahlen 2012 nun in Sizilien bereits zahlreiche Abgeordnete und in der Nahrungsmittel-Metropole Parma sogar den Bürgermeister. Auch der hat zunächst einmal den Rotstift angesetzt. Allerdings nicht bei Bildungs- und Sozialausgaben, sondern - mit immerhin fünfzig Prozent - beim eigenen Gehalt und dem seiner Mitarbeiter. Von einer Verschlechterung der dortigen Wirtschaftslage oder der allgemeinen Lebensbedingungen ist bisher nichts bekannt.

Als Abgeordneter kommt Grillo selbst nicht in Frage, aber er hat prominente Unterstützer gewonnen

Dabei ist der Genoveser "Fernsehclown", als der er von seinen Gegnern gerne verspottet wird, selbst durchaus eine schillernde, widersprüchliche Persönlichkeit: Ende der 80er einer der populärsten Fernsehkomiker des Landes, wurde er nach Berlusconis Amtsübernahme 1994 mehr und mehr von den Bildschirmen verdrängt. Doch aus der Not machte Grillo eine Tugend: Dank stets randvoller Theater und Festsäle sicherte er sich mit seinen Bühnenshows eine finanzielle Unabhängigkeit (offiziell in 2011 versteuertes Einkommen: 4,5 Mio. Euro), die er nun offensiv gegen seine Mitbewerber ins Felde führt: "Im Unterschied zu denen muss ich nichts mehr werden. Und mein Geld hab ich mir redlich verdient."

Wendet er sein Wahlprogramm auf sich selbst an - und er lässt keinen Zweifel daran, dass er dies tun wird -, kommt er als Abgeordneter nicht in Frage: Bei einem Verkehrsunfall zu Beginn der 80er Jahre kamen drei Menschen ums Leben. Seitdem ist Grillo wegen "fahrlässiger Tötung" vorbestraft. Und auch die Rückkehr ins alte Gewerbe scheint nunmehr verstellt. Grillo noch 2009: "Ein Satiriker, der in die Politik geht, ist als Satiriker nicht mehr glaubwürdig."

Doch erst durch den Einsatz des Netzes gelang es dem seit jeher populären Schauspieler und Komiker, seine Anti-Establishment-Thesen in den vergangenen sechs Jahren einer breiten Bevölkerungsschicht zu vermitteln. Erster - und wohl entscheidender - Höhepunkt: der im September 2007 ausgerufene V(= "Vaffanculo" = L.m.a.A.)-Day, mit dem Grillo in ganz Italien über zwei Millionen Menschen gleichzeitig auf öffentlichen Plätzen mobilisieren und via Live-Webcams noch einmal mindestens ebenso viele User direkt erreichen konnte.

Entsprechend gibt er jetzt im Wahlkampf als Mentor und Motor den Frontmann, während sich in seinem Schatten eine basisdemokratisch aufgebaute Struktur entwickelt hat. Zu den Unterstützern und Sympathisanten des "Movimento" gehören neben einigen Granden der italienischen Kultur immer mehr qualifizierte Techniker und Berater aus zumeist neuen, innovativen, mittelständischen Unternehmen.

Dazu zählen nicht nur der ehemalige "Kommunist" und Nobelpreisträger Dario Fo oder der Starjournalist und Berlusconi-Jäger Marco Travaglio , sondern auch Italiens erfolgreichster IT-Unternehmer Gianroberto Casaleggio (Mailand, 1954) dessen Consultingfirma "Casaleggio Associati" nicht nur Grillos Blog betreut - laut Guardian einer der zehn "bestbesuchten und wichtigsten" weltweit -, sondern auch eine Vielzahl mittelständischer und einige größere Unternehmen. Für viele ist der öffentlichkeitsscheue Manager, der beim Wahlkampfabschluss in Rom erstmals bei einer Versammlung auftrat, ohnehin der organisatorische Kopf der Bewegung. So versteht man sich auch bewusst als Gegengewicht zu Montis Industriefraktion. Die ist - laut den letzten Umfragen liegt "M5S" bei rund 18% - mittlerweile ohnehin längst überholt.

Selbst auf EU-Ebene hat sich der Euro-Skeptiker Grillo längst Gehör verschafft. Bei einem Auftritt vor dem Europaparlament im Juni 2007 gelang es ihm mit einem in der Form moderaten, in der Sache knallharten Plädoyer, selbst einige zunächst skeptische EU-Parlamentarier der konservativ-liberalen Fraktion für sein italienisches Erneuerungsprogramm zu gewinnen. Dessen Kernthese ist ebenso einfach wie überzeugend: Das Hauptproblem im Italien von heute, so Grillo, sei "weniger die Mafia, sondern das Parlament. Da sitzen allein fünfundzwanzig rechtskräftig verurteilte Abgeordnete tatenlos drin rum, die wir alle durchfüttern müssen." - Das Protokoll verzeichnet an dieser Stelle "großes Gelächter und starken Beifall".

Wer wird denn nun gewinnen? "Hauptsache nicht dieser buffone!", sagt Gianni, als er mir meinen Zimmerschlüssel gibt. Und mit "Hofnarr" meint er keinesfalls den ehemaligen "Fernsehclown". Er meint Berlusconi, der sich erst im Laufe seiner zwanzigjährigen Regierungs- und TV-Präsenz zum Narren in ganz Europa gemacht hat. Und von dem man - zumindest in Rom - mittlerweile gehörig die Nase voll hat. Grillos "Movimento 5 Stelle" könnte am Ende das Zünglein an der Waage sein, das diesen frommen Wunsch - z.B. bei einem Patt im Senat - erst möglich macht. Vielleicht auch, weil es dann als einzige parlamentarische Kraft tatsächlich ein Programm der Erneuerung vorzuweisen hat.