First we take Berlin: Wie Bürger die Stromnetze in den Großstädten übernehmen

Rekommunalisierung der Energieversorgung durch Volksbegehren rückt näher - Showdown zur Bundestagswahl

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die von den Bürgern als bodenständig angesehenen Stadtwerke gelten gegenüber den vier Strommonopolisten als solide Alternative, um die Energieversorgung nicht nur gewinnorientiert zu betreiben. Der Trend ist kaum zu übersehen: In deutschen Großstädten wie Berlin, Hamburg oder auch Stuttgart regt sich die Graswurzel-Bewegung und arbeitet an dezentralen Betreibermodellen zum Eigenbetrieb der Strom- und Gasnetze.

Startaktion für das Volksbegehren. Bild: Berliner Energietisch

In der Hauptstadt verliefen die Erfahrungen mit der Privatisierung der Berliner Wasserbetriebe nicht gerade prickelnd. Was von diesem seit Ende der neunziger Jahre immer wieder gescheiterten Experiment übrig bleibt, ist vor allem ein finanzieller Schuldenberg und eine unklare Roadmap, wie sich der Scherbenhaufen beseitigen lässt. Über das politische Tauziehen und die Initiative Berliner Wassertisch berichtet die Berliner Umschau.

Negative Erfahrungen etwa bei der Privatisierung der Berliner Wasserbetriebe oder die hohen Strompreise sind zwei Motive dafür, dass Menschen sich wieder dafür interessieren, die Stromversorgung in die lokale Verantwortung zu nehmen. Sprich, die Bürger arbeiten daran, ab dem nächsten Jahr das Berliner Stromnetz ganz in Eigenregie führen. Denn zum Jahresende 2014 läuft der Konzessionsvertrag zwischen Land Berlin und Energieversorger Vattenfall über die Stromverteilnetze aus.

Für den Berliner Energietisch, einen Zusammenschluss von 50 lokalen Initiativen, ist dies der Anlass, sich für ein bürgereigenes Stadtwerk zu engagieren, um die Energie der Zukunft mithilfe dezentraler Anlagen auf Basis von erneuerbaren Ressourcen zu erzeugen. Gegründet wurde dazu unter anderem die BürgerEnergieBerlin eG, ein freier und parteiübergreifender Zusammenschluss für eine nachhaltige und demokratisch aufgestellte Energiepolitik in Berlin. Die Initiativen arbeiten zwar zusammen, jedoch favorisiert die BürgerEnergieBerlin eG ein Genossenschaftsmodell in privater Hand.

Der Berliner Energietisch hat dazu einen eigenen Gesetzestext erarbeitet, über den die Bürger nun per Volksentscheid abstimmen sollen. Um dies zu ermöglichen, ist zunächst ein Volksbegehren erfolgreich auf den Weg zu bringen. Bis zum 10. Juni 2013 benötigen die Unterstützer des Bürgerbegehrens dazu mindestens 173.000 Unterschriften aus der Bevölkerung.

Gelingt es, diese Hürde erfolgreich zu meistern, könnte es im Umfeld der Bundestagswahl im September zum Showdown kommen: Ein Volksentscheid soll Klarheit bringen, ob das Land Berlin sein Stromnetz wieder in die eigene Hand nimmt. Die große Bühne würde durch die "Energiewende von unten" eine besondere dramaturgische Note erhalten.

Hamburger mehrheitlich für Rekommunalisierung

Ähnliche Signale zum Aufbruch wie in Berlin gibt es auch in der Hansestadt. Denn die Hamburger Bevölkerung spricht sich zumindest laut einer Umfrage für eine vollständige Rücknahme der Energienetze in die Öffentliche Hand aus. Ein bereits im Sommer erfolgtes Volksbegehren mit über 116.000 Unterschriften scheint damit bestätigt. Nun könnte es, wie schon in Berlin, pünktlich zur Bundestagswahl am 22. September an die Abstimmungsurne gehen.

Während in Berlin der skandinavische Versorger Vattenfall mit unzähligen Tochtergesellschaften das Stromnetz betreibt, dominiert in Hamburg neben Vattenfall auch der deutsche Versorger E.on. Die öffentliche Stimmung ist polarisiert. "Eine Elbphilharmonie reicht", sagen die einen, während die Besitzstandswahrer der "Volksinitiative" Unser Hamburg - unser Netz e. V. populistisches Vorgehen und zweifelhafte Argumente unterstellen.

Doch weder die möglicherweise von den großen Energieversorgern eingeschlagene Strategie, die basisdemokratischen Unruhestifter leichtfertig zu diskreditieren, noch jene der allzu freundlichen Umarmung, dürften am Ende wohl aufgehen. Denn der Wille des Volkes scheint eine andere Sprache zu sprechen, sprich, die Epoche der ungebremsten staatlichen Deregulierung für beendet zu erklären.

Vielerorts wird deshalb vor und hinter den Kulissen eifrig an neuen Entwürfen für bürgernahe Stadtwerke gearbeitet, wie etwa in Stuttgart oder Konstanz. In der malerischen schwäbischen Universitätsstadt am Bodensee hat man sich seitens der Stadtwerke bereits für den kompletten Ausstieg aus der Atomenergie bis 2020 entschieden.

Und in der Schwabenmetropole selbst zeichnen sich gravierende strukturelle Veränderungen unter der Führung des "grünen" Oberbürgermeisters Fritz Kuhn ab. Dort ist der Stachel ins Fleisch der konventionellen Energiewirtschaft bereits implantiert. Denn der erst kürzlich gegründete Stuttgarter Energieversorger "stuttgartenergie" will spätestens bis zum Jahr 2020 auf Basis von Ökoenergie zum Grundversorger aufsteigen.

Als neuen Mantel der "stuttgartenergie" haben die kommunalen Politiker, durchaus mit breitem Konsens aller Parteien, die Stadtwerke Stuttgart Vertriebsgesellschaft gegründet, ein Gemeinschaftsunternehmen der Stadtwerke Stuttgart und der Elektrizitätswerke Schönau.

Mit den ersten Energierebellen aus Baden Württemberg in Schönau im Schwarzwald, die ihr Netz schließlich ganz in Bürgerregie betreiben, schließt sich somit der ökologische Kreis. Einfach übertragbare Patentrezepte gibt es aber auch hier nicht. Denn der Strom für die Schwabenmetropole soll laut stuttgartenergie zunächst zum großen Teil aus Wasserkraft in Norwegen erzeugt werden. Kurzfristig scheint es somit vielerorts kaum eine Blaupause für den raschen Ausstieg aus fossilen Energieträgern zu geben.

Auch in Berlin stellt sich das Problem. Denn selbst erzeugten Ökostrom gibt es dort so gut wie gar nicht. Nun hofft man bei den bürgernahen Energiegestaltern unter anderem darauf, den etwa in Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern erzeugten Windstrom im Rahmen eines von den Bürgern mitgestalteten und demokratisch kontrollierten Stadtwerkes (s. Interview) direkt in die Haushalte der Hauptstadt zu transportieren, um den Anteil der erneuerbaren Energien im Strommix so konsequent weiter nach oben zu schrauben.

"Die Bürger sind nicht nur am Thema Energie interessiert, sie wollen darüber hinaus auch mitdiskutieren und mitentscheiden"

Interview mit Dr. Stefan Taschner, Sprecher beim Berliner Energietisch, der Einrichtung, die die Aktivitäten unterschiedlicher Organisationen rund um das Berliner Volksbegehren "Neue Energie für Berlin" koordiniert.

Damit die Bewerbung um die Konzession nicht zu einer Farce wird, braucht es den Druck unseres Volksbegehrens.

Berliner Bürgertisch

Wie schätzen Sie die Erfolgschancen des Volksbegehrens "Neue Energie für Berlin" generell ein?

Stefan Taschner: Ich denke, wir können ganz klar erfolgreich sein, insbesondere wenn es uns gelingt, möglichst viele Leute zum Mitsammeln zu bewegen. Mit dem Thema sind wir eindeutig bei den Leuten und sie stehen unseren Zielen positiv gegenüber. Alles was wir zu tun haben, ist sie an unsere Unterschriftsliste zu bringen. Daran werden wir die nächsten vier Monate mit Hochdruck arbeiten.

Wie groß ist die Mobilisierungsbereitschaft der Berliner Bevölkerung? Sprich, wie sehr lassen sich die Berliner für ein neues ökologisch-demokratisches Stadtwerkkonzept begeistern?

Stefan Taschner: Der Zuspruch auf der Straße ist sehr hoch. Die Bürger sind nicht nur am Thema Energie interessiert, sie wollen darüber hinaus auch mitdiskutieren und mitentscheiden. In einer einstündigen Radiosendung mit Zuhörerbeteiligung spiegelte sich mir dies eindrucksvoll kürzlich wieder. Die Reaktionen auf unser Volksbegehren waren deutlich positiv. Ähnliches haben mir auch schon Sammler auf der Straße berichtet.

Wie sieht die politische Gemengelage im Abgeordnetenhaus aus, welcher Konsens oder Dissens zeichnet sich hier möglicherweise ab?

Stefan Taschner: SPD und auch die CDU sind zunächst scheinbar pro Rekommunalisierung. Wobei Vertreter der CDU - also keine Anhänger einer Rekommunalisierung - gerne bei den Netzen auf den Wettbewerb verweisen und die Möglichkeit des Scheiterns des kommunalen Bewerbers (Berlin Energie). Allerdings bietet das Verfahren zur Vergabe der Netzkonzession auch einen gewissen politischen Spielraum, die Entscheidung zu beeinflussen, insbesondere durch die Aufstellung der Kriterien. Berlin Energie besteht derzeit auch nur als Hülle und ist mit einer Person besetzt. Hier muss der Senat ganz dringend aktiv werden, um diese Hülle auch wettbewerbsfähig zu machen, damit die Bewerbung um die Konzession nicht zu einer Farce wird. Dazu braucht es sicher auch den Druck unseres Volksbegehrens.

Wie sieht es bei der Großen Koalition genau aus?

Stefan Taschner: Beim Thema Stadtwerke hat sich die CDU in sehr kurzer Zeit ebenfalls bewegt. Zusammen mit der SPD streben sie die Gründung eines Stadtwerks an. Das derzeit vorliegende Konzept liefe auf ein Mini-Stadtwerk hinaus. Das Unternehmen soll lediglich selbstproduzierte Energie vertreiben dürfen, was gerade für die Startphase eines Energieunternehmens eine gravierende Einschränkung ist. Eine Nutzung bestehender Erzeugungskapazitäten wie zum Beispiel des Müllheizkraftwerkes Ruhleben ist ebenfalls nicht im Gesetz vorgesehen. Zudem fehlt der für eine ökologische Energiewende zentrale Bereich der Energieeffizienz und des Energiesparens.

Diese Minilösung würde den gewaltigen Herausforderungen - Berlin ist Schlusslicht bei erneuerbaren Energien im Vergleich der Bundesländer - nicht gerecht werden und führt auch nicht zu dem Erfolg wie zum Beispiel bei der Hamburg Energie, das SPD und CDU gerne als Vorbild nennen. Auch hier können wir uns mit dem eingebrachten Vorschlag nicht zufrieden geben. Hier muss deutlich nachgebessert werden.

Wie sieht der in Berlin federführende Energieversorger Vattenfall die Roadmap, geht man das Thema dort konstruktiv an?

Stefan Taschner: Vattenfall scheint derzeit auf den Gewinn der Konzession im Verfahren zu setzen. Dafür findet das Unternehmen sicherlich in Kreisen der CDU auch Unterstützung. Eine Minderheitslösung zusammen mit Berlin Energie scheint derzeit keine Lösung zu sein, die von Vattenfall mitgetragen würde. Gegenüber dem Berliner Energietisch verhält sich Vattenfall derzeit korrekt.

Welche Bewerber haben wohl die besten Aussichten, vom chinesischen Anbieter bis hin zu den Stadtwerken Schwäbisch Hall?

Stefan Taschner: Aus unserer Sicht haben neben Vattenfall sicher Thüga und Alliander gute Chancen. State Grid International läßt sich sehr schwer einschätzen. Die anderen Bewerber werden möglicherweise vor allem auf eine Kooperationslösung setzen.

Einige Experten beziffern den (Verkaufs)Wert der Berliner Stromverteilnetze auf ca. 800 Mio. Euro, während Vattenfall dies mit rund 3 Mrd. Euro taxiert. Welche Art von neuer Gesellschaftsstruktur im Rahmen eines Berliner Stadtwerks wäre dann wohl wahrscheinlich?

Stefan Taschner: Der Verkaufswert dürfte wohl eher bei 800 Mio. Euro als Ertragswert liegen. Die von Vattenfall ins Spiel gebrachten drei Milliarden Euro sind der Sachzeitwert. Der Ertragswert ist aber nach einem Urteil des Bundesgerichtshofes wesentlich bei der Festlegung des Kaufpreises. Das haben Bundeskartellamt und Bundesnetzagentur in ihrem Leitfaden noch einmal bekräftigt.

Wo setzen Sie die Prioriäten?

Stefan Taschner: Unser Gesetzentwurf sieht die Gründung des Stadtwerkes und der Netzgesellschaft als Anstalt öffentlichen Rechts vor. Diese ist wirtschaftlich selbstständig, bietet aber in Bezug auf demokratische Kontrolle und Transparenz große Vorteile. In Berlin hat man mit der Stadtreinigung (BSR) und den Verkehrsbetrieben (BVG) schon gute Erfahrung mit Anstalten öffentlichen Rechts gemacht.

Lothar Lochmaier arbeitet als Freier Fach- und Wirtschaftsjournalist in Berlin. Im Mai 2010 erschien sein Telepolis-Buch: Die Bank sind wir - Chancen und Zukunftsperspektiven von Social Banking. Er betreibt das Weblog Social Banking 2.0.