Italien hat gewählt

Aber was eigentlich? Und vor allem warum? Und mit welchen Konsequenzen?- Versuch, das vermeintliche Chaos südlich der Alpen ein wenig zu ordnen

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Vorläufiges amtliches Endgerbnis

Abgeordnetenhaus:

PD (Bersani): 29.54% - 340 Sitze
PdL (Berlusconi): 29.14% - 124 Sitze
M5S (Grillo): 25.54% - 108 Sitze
Scelta Civica (Monti): 10.54% - 45 Sitze

Senat:

PD: 31.61% - 120 Sitze
PdL: 30.72% - 117 Sitze
M5S: 23.79% - 54 Sitze
Scelta Civica: 9.13% - 18 Sitze

Eins: Die Wahlbeteiligung bei dieser "Schicksalswahl" war mit ca. 75% niedrig.

Stimmt, sie lag rund 5% unter der von 2008. Und: Stimmt auch wiederum nicht. Italien kennt keine Briefwahl. Da muss wirklich jeder im Wahllokal persönlich antreten. Egal, wie alt oder gebrechlich er/sie ist. Normalerweise liegt der Wahltermin deshalb im Frühjahr. Für die widrigen äußeren Umstände (Eis, Schnee, Sturm und Kälte) in weiten Teilen des Landes war die Beteiligung ganz in Ordnung. An den Erasmus-Studenten, denen man vergessen hatte, Wahlunterlagen zuzuschicken und die in letzter Minute mit einem 99 Euro-Ticket an die Urnen gelockt werden sollten, lag es wohl nicht.

Zwei: War Mario Monti denn nicht erst vor kurzem noch eine "Lichtgestalt", der große "Hoffnungsträger"? Und jetzt nur noch 10%!

Nein, das war er nur in Brüssel, Berlin und in Frankfurt am Main. Und in den Medien, die ihre Italien-Kenntnisse in erster Linie aus Gesprächen mit dortigen Politikern und Lobbyisten, vielleicht auch mal mit dem einen oder anderen Kellner beziehen. In Italien hat man ihn zähneknirschend gewähren lassen, weil man den "Europäern" glauben wollte/musste.

Jetzt, also bei der erstbesten Gelegenheit, hat man ihn zum Teufel gejagt. Aus verständlichen Gründen. Er hinterlässt die schlechteste Wirtschafts- und Sozialbilanz (Nullwachstum, drückende Steuerlast, Kürzungen bei Bildung und Gesundheit, massiver Anstieg der Arbeitslosigkeit, täglich neue Firmenpleiten), die eine italienische Nachkriegsregierung in nur einem Jahr Amtszeit zu Stande gebracht hat.

Und, er hat - als Wirtschaftsprofessor, der die letzten Jahre vor allem im Ausland verbracht hatte, sogar verständlich - einen wirklich miserablen Wahlkampf geführt. Die Last-Minute-Verpflichtung von Obamas Wahlkampfmanager David Axelrod, der ihm auf die Schnelle vor allem "mehr Empathie" einimpfen sollte (heraus kamen: ein Schoßhund und ein "Prosit" mit deutschem Bier vor laufenden Kameras), hat ihm wohl den Rest gegeben. Ab da war es nur noch peinlich. Entsprechend wirkte er bei seiner Dankesrede nach der Wahl beinahe erleichtert: Der Kelch war noch einmal an ihm vorübergegangen.

Sein größter politischer Fehler? Die Ausweitung der - bereits von Berlusconi eingeführten - ungeliebten Immobiliensteuer IMU auf den selbstgenutzten Erstwohnsitz. Das Eigenheim ist dem in Geldanlagen eher konservativen Italiener das, was dem Deutschen die Lebensversicherung bedeutet: eine wertbeständige Anlage, insbesondere fürs Alter. Bei rapide steigenden Lebenshaltungskosten und Steuern sind vor allem Rentner betroffen, die nun von ihren kleinen Pensionen kaum noch leben können. Das führt direkt zu...

Drei: Wie konnte der politische Zombie Berlusconi ein solches Comeback feiern?

Im Wesentlichen durch den zentralen, manche sagen: einzigen Punkt seines Wahlprogramms, eben die Abschaffung, ja rückwirkende Erstattung dieser Immobiliensteuer. Denn die zentralen Wahlversprechen pflegte Berlusconi in seinen bisherigen Amtszeiten in aller Regel einzuhalten.

Möglicherweise hätte es sogar diesmal für eine Mehrheit gereicht, wäre ihm nicht in letzter Minute die Schweizer Finanzministerin in die Quere gekommen. Die bezeichnete das - zur Finanzierung erforderliche - Steuerabkommen schlichtweg als "inexistent", vertagte es in die ferne Zukunft. Da kam, drei Tage vor den Wahlen, sogar der "Cavaliere" gehörig ins Strudeln. Sein Versprechen, die Rückerstattung notfalls aus dem eigenen Vermögen zu bestreiten, darf getrost als Verzweiflungstat angesehen werden. Das haben ihm zuletzt wohl nur noch "Gutgläubige" abgekauft.

Ansonsten: Ja, er ist ein begnadeter Wahlkämpfer, weiß, seine - noch immer beträchtliche - Medienmacht zu nutzen und weiß, was "sein" Volk hören will. Unter Beschuss, also vor allem in den Talkshows des unabhängigen Senders "La7", wird er erst richtig gut. Die Geste, mit der er sein Taschentuch aus dem Anzug zog, um den von seinem Widerpart zuvor "beschmutzten" Stuhl zu säubern, wird von diesem Wahlkampf in Erinnerung bleiben. So etwas kann man nicht lernen. Das ist der Instinkt des Demagogen.

Vier: Die Sozialdemokraten (PD) haben mit dem blassen Parteisoldaten Bersani den falschen nominiert.

Stimmt, und stimmt wiederum nicht. Als Widerpart zu Berlusconi wäre der kreuzbrave Tankstellenpächtersohn aus der Emilia vor einem Jahr genau der richtige gewesen. Außerdem: Er hat die parteiinterne Urwahl im November nun einmal gewonnen. Aber jetzt, nachdem Italien bereits ein Jahr lang unter der aufoktroyierten Austerity-Politik des Technokraten Monti zu leiden hatte, war er eindeutig der falsche Mann.

Ein bisschen mehr "soziale Abfederung" zieht nicht mehr, wenn - mindestens - ein Drittel der Bevölkerung entweder bereits arbeits- oder perspektivlos ist, finanziell kaum mehr über die Runden kommt oder von massiven sozialen Abstiegsängsten heimgesucht wird. Da wird das Image des "besonnenen Abwägers" rasch zum Bumerang: ein Zögerer und Zauderer, der den stürmischen Zeiten nichts als guten Willen und ein mickriges Investitionsprogramm von 9 Mrd. €, verteilt über drei Jahre, entgegenzusetzen hat.

Wäre es also mit seinem parteiinternem Widersacher, dem jungen fiorentiner Bürgermeister Matteo Renzi, besser gelaufen? Vermutlich. Denn der hatte zwar nicht den Parteiapparat, dafür aber genau jene hinter sich, die nun in Scharen zum "Movimento 5 Stelle" übergelaufen sind: qualifizierte, junge Fachkräfte, die für sich im überalterten und verkrusteten Italien von heute keine Chance mehr sehen. Nebenbei: Die Tolerierung einer PD-Regierung durch eben das "M5S" - im Moment wohl die sinnvollste Variante zur Lösung des machtpolitischen Patts - wäre mit Renzi an der Spitze sehr viel leichter möglich. In vielen Positionen stehen sich ihre beiden "Leader" durchaus nahe. In punkto - überbordendem - Temperament sowieso.

Gut möglich, dass der "Wahlsieger" Bersani nun auch deshalb gewaltsam versuchen wird, eine Regierung auf die Beine zu stellen. Zum einen gebietet das die bedrohliche Wirtschaftslage. Zum anderen aber auch die eigene Karriereplanung. Bei Neuwahlen in sechs bis zwölf Monaten hieße der PD-Kandidat womöglich bereits Renzi.

Fünf: Wie also ist der Sensationserfolg des "Movimento" zu verstehen? Alles nur eine Protestwahl?

Keineswegs. Das eine sind die Fehler der Gegner. Das andere die eigenen Stärken. Beppe Grillo, man traut es kaum zu sagen, hat alles richtig gemacht. In einem - nicht zuletzt jahreszeitenbedingt - reinen TV-Wahlkampf setzte er als einziger auf die - nicht nur symbolische - Kraft randvoller Plätze, den direkten Kontakt mit seinen Wählern. Die hat er wohl als einziger bis zum letzten Mann, der letzten Frau mobilisiert.

Anstelle eines abstrakten, an den "Märkten" orientierten "Reformprogramms" bietet seine Wahlplattform konkrete Reformvorschläge. Die mögen im einzelnen durchaus diskutierbar sein. Für immerhin 25% der Wähler bieten sie eine ernstzunehmende Grundlage, eine Richtung, um aus der eigenen, nicht selbstverschuldeten Misere herauszukommen. Für manche wohl der einzige Ausweg, will man nicht das Land verlassen. Und: Welcher Italiener will das schon, wenn er nicht muss?!

Genial, wenn auch vielleicht von Erkältung und Erschöpfung begünstigt, sein letzter Schachzug am Tag der Wahl. Während die Medien aufgeregt und verunsichert über seinen - so nicht für möglich gehaltenen - Wahlerfolg in Rom nach geeigneten Interviewpartnern suchen, hat sich der sonst so redsame "Leader" in seiner Villa im heimischen Genua verbarrikadiert. Und schweigt. So ist die Bühne frei für ein ganzes Dutzend sympathischer, zum Teil überraschend selbstbewusster und eloquenter neuer "onorevoli", Abgeordneter in den Parlamenten, darunter auffallend viele junge Frauen, die nun - in Ermangelung des großen Zampanos - die neugierigen Fragen der Journalisten beantworten und kräftig weiter Punkte sammeln.

Schon jetzt wird eines klar: Gemessen z.B. am deutschen Debattierverein der "Piraten" zieht mit dem "M5S" eine hochqualifizierte, gut organisierte, weitgehend synchrone Fraktion ins Parlament, die weiß, was sie will. Und zu vielen Fragen durchaus bereits Antworten hat. So macht man erfolgreich Wahlkampf, auch über die Schließung der Wahllokale hinaus.

Sechs: Wie geht es weiter?

Niemand will Neuwahlen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Bereits im Vorfeld der Wahlen hatte Bersani angekündigt, einen Wahlsieg mit 51% wie ein Ergebnis mit 49% zu werten. Genau diesen "Sieg" hat er nun eingefahren. D.h. er ist auf Partner von außen angewiesen. Das dürfte - dank des schwachen Wahlergebnisses - eher nicht Montis Industrieblock sein, trotz Bersanis Bereitschaft, dessen "Reformprogramm" fortzusetzen. Dann müsste er seinen linksliberalen, homosexuellen Partner Nichi Vendola verprellen. Der ist nicht nur Chef der SEL (Sinistra, Ecologia, Liberta = "Links, Ökologie, Freiheit") und Präsident der Region Apulien, der will und kann auch nicht mit dem "Christen" Monti, nicht zuletzt wegen dessen offener Aversion gegen die rechtliche Gleichstellung homosexueller Paare.

Eine "Koalition der nationalen Einheit" mit Berlusconis PdL wiederum, wie sie jetzt bereits vereinzelt gefordert wird, wäre die Preisgabe auch des letzten linken Anstrichs im PD-Bündnis und wohl gleichbedeutend mit Bersanis Ende als Parteichef, wenn nicht gar mit der Auflösung der PD. Ein politischer Selbstmord auf Raten, den sich der Parteistratege und Pragmatiker Bersani nicht antun wird.

Bleibt eigentlich nur eine Art "Minderheitsregierung" bei minimaler prozentualer Mehrheit in beiden Kammern und mit einer weitgehenden, punktuellen Unterstützung von Beppe Grillos "M5S". Da gibt es bei wichtigen Sachfragen durchaus Übereinstimmungen, etwa bei der Reduzierung der Abgeordneten und der Abschaffung ihrer Privilegien, der Änderung des Wahlrechts, der Verabschiedung von Antikorruptions- und Interessenkonfliktsgesetzen, aber auch bei Anschubprogrammen für Handel und Gewerbe sowie im Sozialbereich. Erste, bereits deutlich moderatere Töne gegenüber dem "Movimento" aus der zweiten Reihe des Linksbündnisses lassen aufhorchen.

Eine entscheidende Rolle wird - einmal mehr - Italiens greisem Staatspräsidenten Giorgio Napolitano zukommen. Der wird am 15. März, zur ersten Sitzung des neuen Parlaments, voraussichtlich den "Wahlsieger", also Bersani, mit der Regierungsbildung beauftragen und dabei - als letzte verbliebene moralische Instanz Italiens - im Hintergrund die Fäden ziehen. Schließlich war schon die beeindruckend geräuschlos verlaufene Absetzung Berlusconis und anschließende Inthronisierung Montis vor fünfzehn Monaten im wesentlichen sein Verdienst.

Sieben: Und Europa?

Für Merkel und die "Märkte" wird das "alternativlose Durchregieren" demnächst deutlich schwieriger. Die Bevölkerung von Spanien (hier fehlt eigentlich nur noch ein iberischer Beppe Grillo, das "Movimento" gibt's ja schon), Portugal und Griechenland hat inzwischen am eigenen Leib erfahren, wie gnadenlos - und schlimmer: wie ineffektiv - die "unabdingbaren" Reformen zu Gunsten der Finanzindustrie sein können. Der italienische Wähler hat da gerade - vielleicht im letzten Moment - die Reißleine gezogen.

Berlusconis erster Wahlkommentar ("Es ging zuvor zwanzig Jahre lang ohne starren Blick auf den Spread, warum nicht auch jetzt?") wird - so oder so - in Südeuropa zum neuen Maß der Dinge. Denn dass der jetzt erstmal steigen und die Börsenkurse fallen werden, steht außer Frage. Aber das ist wohl eher ein Fall für Mario Draghis EZB.

Doch selbst Grillo hat seinen Mitstreitern und Wählern - darin ganz Staatsmann und Realist - fünf schwierige Jahre vorausgesagt, in denen "der Gürtel wohl enger geschnallt, der persönliche Wohlstand vielleicht eingeschränkt werden" muss. Für die gemeinsame Sache, den "Aufbau einer neuen, gerechteren Gesellschaft", sei dies wohl ein "Preis, den es zu zahlen lohnt".

Italien hat 63 Nachkriegsregierungen in knapp siebzig Jahren überlebt. Es wird wohl auch diesmal klappen. Und, immerhin, Island und das über fast zwei Jahre führungslose Belgien beweisen zumindest eines: Eine Zeit lang geht es - zur Not - wohl auch ohne.