Die Rückkehr der Eurokrise

Die zunehmenden Spannungen zwischen Berlin und Rom sind auf das Scheitern der deutschen Krisenpolitik in Europa zurückzuführen

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Ist alles nur ein großes Missverständnis? Bei der Lektüre der meinungsbildenden deutschen Informationsportale wie dem Spiegel könnte der Eindruck entstehen, die aktuellen Spannungen zwischen Berlin und Rom seien schlicht darauf zurückzuführen, dass beide Streitparteien mit Kommunikationsproblemen zu kämpfen hätten: "Sie verstehen einander einfach nicht - und schnell gibt es Streit", resümierte Spiegel-Online den deutsch-italienischen Schlagabtausch. Dieser kulminierte in einem diplomatischen Eklat, bei dem der italienische Präsident Napolitano ein Treffen mit dem sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück kurzfristig absagte, nachdem dieser Berlusconi und den Populisten Grillo als "Clowns" bezeichnet hatte.

Die deutschlandweite Empörung über den Wahlausgang in Italien brachte "SPON" in gewohnter Stammtischkompatibilität auf den Punkt: "Wie doof müssen die Italiener sein, wenn sie einen lüsternen Greis wie Berlusconi und einen ständig brüllenden Komiker wie Beppe Grillo wählen?" Bei der Beantwortung dieser Frage lieferte sogar der Artikel erste Indizien, indem hier die "Vorschriften" zumindest erwähnt wurden, die Berlin ganz Europa - und insbesondere Italien - in der Eurokrise macht: "Dass man fleißiger sein soll und sparsamer, damit man endlich aus der Krise kommt und den anderen nicht den schönen Euro verhagelt!" Dieses wirtschaftspolitische Glaubensbekenntnis der berüchtigten Merkelschen "schwäbischen Hausfrau", wonach man mit Fleiß und Sparsamkeit aus jeder Krise komme, konnte Berlin in Gestalt des Fiskalpaktes tatsächlich zur Richtschnur der europäischen Krisenpolitik machen. Alle Krisenländer wurden einer brutalen Sparpolitik unterworfen, mit der eine Haushaltssanierung realisiert, und der Schuldenabbau eingeleitet werden sollten.

Und es war gerade die Opposition Berlusconis und Grillos gegen dieses deutsche Spardiktat, die ihre Wahlkämpfe prägte und ihnen überraschenden Wahlerfolge ermöglichte. Grillo etwa denkt öffentlich über eine Rückkehr zur Lira nach, während Berlusconis Medienimperium sich auf das deutsche Dominanzstreben in der Eurozone eingeschossen hat: "Jetzt kehren sie zurück, nicht mehr mit Kanonen, sondern mit Euro. Die Deutschen sehen sie als ihre Sache an, wir müssen alles hinnehmen, uns dem neuen Kaiser namens Angela Merkel unterwerfen, die nun auch bei uns zu Hause kommandieren will", hieß es in einem Kommentar der Berlusconi-Zeitung Giornale. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung fasste die schon seit Monaten anschwellende Antideutsche Stimmung in der italienischen Öffentlichkeit, von der Berlusconi profitieren konnte, folgendermaßen zusammen:

Von "Grande Germania", das alles für sich haben wolle, ist in den Kommentaren die Rede, vom "Drang zur Bestrafung" der anderen Länder, von der Ignoranz über die angeblich auf dem Spiel stehenden Werte, und es heißt, "dieses eindimensionale Europa, ganz und gar deutsch, ist zum Zusammenbruch verurteilt".

Der von Merkel durchgesetzt europaweite Austeritätskurs wurde in Italien von Berlusconi seit Monaten angegriffen und mit antideutschen Ressentiments angereichert. Auch Spiegel-Online ging auf diese Kampagne Berlusconis im erwähnten Artikel ein:

"Die germanozentrische Politik" habe die Krise nicht ent- sondern verschärft, attackierte Silvio Berlusconi regelmäßig. "Die da in Berlin" und deren Statthalter Mario Monti seien Schuld. "Merkel hat die italienische Regierung in der Hand", tönte es. Deshalb verdiene Deutschland ja auch an der Krise der anderen, hämmern die Berlusconi-Medien den Italienern ein. Aber nicht nur die. "La Merkel" ist südlich der Alpen insgesamt ziemlich unbeliebt.

Damit scheint klar, dass Berluscont und Grillo als Rebellen gegen dieses eindimensional auf Sparzwang geeichte Europa auftraten - es waren aber objektive wirtschaftlichen Faktoren, die ihren Wahlsieg ermöglichte: Die Wiederauferstehung des Politzombies Berlusconi und der kometenhafte Aufstieg Grillos wären nicht möglich gewesen, hätte das deutsche Spardiktat in Südeuropa auch nur die bescheidensten ökonomischen Erfolge erzielt. Merkels Austeritätskurs muss hingegen als ein totales sozioökonomisches Desaster bezeichnet werden, das den betroffenen Ländern keine andere Wahl lässt, als dagegen aufzubegehren.

Alle südeuropäischen Krisenstaaten befinden sich in einer sich selbst verstärkenden ökonomischen Abwärtsspirale, bei der die diversen Kahlschlagprogramme zu Nachfrage- und Konjunktureinbrüchen führten, die wiederum die Arbeitslosigkeit ansteigen und Steuereinnahmen abschmelzen ließen - was eine Haushaltskonsolidierung vollends unmöglich macht.

Italien steckt in der Rezession fest

Italien befindet sich aufgrund des Merkelschen Spardiktats seit 18 Monaten in einer sich verstärkenden Rezession. Im vierten Quartal 2012 ging das Bruttoinlandsprodukt in der drittgrößten Volkswirtschaft der Eurozone um 2,7 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum zurück, nach 2,4 Prozent im Vorquartal und 2,3 Prozent im zweiten Trimester 2012. Die Arbeitslosenquote stieg im vergangen Dezember südlich der Alpen mit 11,2 Prozent auf den höchsten Wert seit 2004, wobei sie nur binnen des vergangenen Rezessionsjahres um 1,8 Prozent zulegte.

Der Abschwung wird von der starken Kontraktion der Industrieproduktion befeuert, die allein im Dezember um sechs Prozent schrumpfte. Der italienische Industrieproduktionsindex ist gegenüber seinem Hoch im August 2007 um 26 Prozent gefallen und befindet sich auf dem Niveau des Jahres 1987. Ein Ende dieser Abwärtsspirale ist nicht im Sicht, da aufgrund der Sparmaßnahmen die Inlandsaufträge der Industrie im Dezember um 24 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat zurückgingen. Besonders dramatisch ist die Lage des italienischen Automobilsektors, dessen Produktion in 2012 um 18,3 Prozent auf nur noch knapp 400.000 PKW zurückging. Der Niedergang der italienischen Autoindustrie wird aber erst aus längerfristiger Perspektive voll erfassbar: Gegenüber dem Hoch in 1989 ging deren Output inzwischen um nahezu 80 Prozent zurück!

Offensichtlich befindet sich Italien am Beginn einer ähnlichen Abwärtsspirale, wie sie bereits die anderen südeuropäischen Krisenländer voll erfasst hat. Aus denen werden nahezu im Wochenrhythmus ähnliche Desasterzahlen gemeldet: Im sparwütigen Portugal ist etwa die Staatsverschuldung inzwischen auf einen neuen historischen Höchstwert von 115,1 Prozent des BIP geklettert, während die Arbeitslosenquote mit 17,6 Prozent ebenfalls einen neuen historischen Rekord einstellte. Griechenland - dessen BIP im Krisenverlauf bereits um 23,4 Prozent kontrahierte - meldete jüngst eine neue Rekordarbeitslosenquote von 26,8 Prozent. Neue Verschuldungsrekorde werden auch aus Spanien gemeldet, wo trotz eines drakonischen Sparprogramms die Staatsschuld auf den höchsten Wert seit 1910 anstieg - auf 84 Prozent des BIP.

Es ist für die Südeuropäer schlicht unmöglich, einen ähnlichen Austeritätskurs durchzustehen, wie ihn Deutschland im Gefolge der "Agenda 2010" über sich ergehen ließ. Der Ökonom Paul Krugman verwies darauf, dass Deutschland seine Sparmaßnahmen und Lohnsenkungen durchsetzte, "als die europäische Wirtschaft relativ stark" war und somit enorme Lohnsteigerungen in Südeuropa die einbrechende Nachfrage in Deutschland (durch Handelsüberschüsse) kompensierten. Dies sei in einem in Rezession befindlichen Europa nicht mehr möglich, da selbst Deutschland einige Sparmaßnahmen beschließe. Deutschlands Sparkurs funktionierte somit nur aufgrund der ernormen Handelsüberschüsse gegenüber der Eurozone, die zum wichtigsten Konjunkturmotor wurden.

Das deutsche "Wirtschaftswunder" basiert auf einem europäischen Schuldenberg

Dabei ist es gerade der kausale Zusammenhang zwischen dem "Erfolg" Deutschlands und der Ausbildung der südeuropäischen Schuldenkrise, der zu den größten Tabus des deutschen Krisendiskurses zählt. Im vergangenen Jahr wäre beispielsweise die Bundesrepublik laut Auskunft des Statistischen Bundesamtes bereits in einer Rezession versunken, hätte es diesen konjunkturellen Effekt des Exportüberschusses (188 Milliarden Euro) nicht gegeben. Das deutsche "Wirtschaftswunder" basiert auf einem gigantischen europäischen Schuldenberg, der vermittels der deutschen Leistungsbilanzüberschüsse vornehmlich in der Eurozone angehäuft wurde.

Auf genau 700,75 Milliarden Euro summierten sich im Zeitraum zwischen der Einführung des Euro als Buchgeld im Januar 1999 und dem dritten Quartal 2012 die Leistungsbilanzüberschüsse der Bundesrepublik gegenüber den Ländern der Eurozone. Diese Leistungsbilanzüberschüsse sind auf die Handelsüberschüsse Deutschlands gegenüber der Eurozone zurückzuführen, die ziemlich genau mit der Einführung des Euro und der Umsetzung der Schröderschen "Agenda 2010" regelrecht explodierten, da die europäische Einheitswährung allen Euroländern die Möglichkeit nahm, mit Währungsabwertungen auf diese Exportoffensiven der deutschen Industrie zu reagieren. Und selbstverständlich stellen die Überschüsse der Bundesrepublik für die Zielländer der deutschen Exportoffensiven die korrespondierenden Defizite dar, die nur vermittels Schuldenbildung - exakt im Umfang der besagten 700,75 Milliarden - ausgeglichen werden konnten.

Die europäischen Krisenstaaten müssten jetzt ähnliche Exporterfolge gegenüber Deutschland und dem Kern der Eurozone erzielen, wie Deutschland gegenüber der im spekulativen Boom verfangenen Eurozone während der Agenda 2010, um die Sparmaßnahmen erträglich zu gestalten - und dies ist aufgrund der Rezession im Euroraum und Schäubles Sparpolitik nicht möglich. Angesichts dieser wirtschaftspolitischen Sackgasse bleibt den Südeuropäern schlicht keine andere Wahl, als unter Hinnahme aller Konsequenzen gegen dieses deutsche Spardiktat zu rebellieren. Die Antwort auf die eingangs von Spiegel Online aufgeworfenen Frage ist somit ganz einfach: Die Italiener haben dafür votiert, den deutschen Austeritätskurs abzuwählen, der das Land in denselben sozioökonomischen Kollaps treibt, in dem sich Griechenland, Spanien und Portugal bereits befinden.

Dilemma zwischen Sparmaßnahmen oder schuldenbasierten Konjunkturprogrammen?

Die politische Rückkehr des mafiotisch verfilzten Rechtspopulisten Berlusconi, der etwa für die faschistoiden Polizeiexzesse gegen Globalisierungskritiker 2001 in Genua verantwortlich ist, stellt auch für die italienische Demokratie ein Desaster dar. Ein gesellschaftlicher Aufbruch, eine Suche nach Alternativen zur kapitalistischen Dauerkrise, wird so verstellt. Doch konnte Berlusconi nur deswegen mit seiner antideutschen Rhetorik punkten, weil die italienische Linke die zumeist europäisch verkleideten Großmachtbestrebungen Berlins tabuisierte und sich nicht deutlich genug von dem Spardiktat distanzierte, der Italien von Merkel oktroyiert wurde. Die offensichtlichen Dominanzbestrebungen der deutschen Funktionseliten aus Politik und Wirtschaft - die von der gemäßigten Linken nicht thematisiert wurden - nutzte Berlusconis rechtes Presseimperium zur Kampagne gegen "die Deutschen".

Die Gefahr eines Zusammenbruchs der Eurozone bleibt somit weiterhin akut. Italien als die drittgrößte Volkswirtschaft der Eurozone ist wirtschaftlich zu bedeutend, um von Berlin ähnlich plattgemacht werden zu können wie Griechenland. Deswegen deute der italienische Wahlausgang auf eine "sich abzeichnende Herausforderung der deutschen Führung" in Europa, bemerkte etwa der Nachrichtendienst Stratfor in einer Analyse. Dies ist auch der wahre Grund der deutschen Empörung über die Wahlergebnisse in Italien. Berlin wird sich nun mittelfristig zwischen einem Zusammenbruch der Eurozone oder einer Lockerung seines Spardiktats - mitsamt Transferzahlungen gen Süden - entscheiden müssen.

Die Schaffung eines europäischen Währungsraums habe "deutsche Exporte angefacht und zur Konsolidierung der Rolle Deutschlands als führende Wirtschaftsmacht in Europa" beigetragen, hieß es in der Stratfor-Studie. Bei den aktuellen Auseinandersetzungen gehe es darum, "wer zur Entschärfung der Eurokrise beitragen soll: Die Peripherie des Kontinents durch Austerität oder das Zentrum, insbesondere Deutschland, durch permanente Finanzierung der Eurozone." Bislang wären die Eurostaaten der deutschen Strategie gefolgt, sie hätten "im Gegenzug für Wirtschaftshilfe unpopuläre Reformen" umgesetzt. Der Wahlausgang in Italien könne aber "diese Dynamik ändern und Deutschland zwingen, mehr Entgegenkommen gegenüber den angeschlagenen Staaten zu zeigen, um die Eurozone zu erhalten". Berlin befürchte nun, Italien könnte sich nun mit Frankreich und Spanien verbünden, um den Austeritätskurs in Europa aufzuweichen, so Stratfor.

Im Kern streiten sich Europas Staaten um eine grundsätzliche Fragestellung kapitalistischer Krisenpolitik: Soll der Krise mit Sparprogrammen, wie sie Deutschland favorisiert, oder mit Konjunkturspritzen und expansiver Geldpolitik, wie von Südeuropa erhofft, begegnet werden. Dabei weist keine dieser Optionen einen Weg aus der Krise. Offensichtlich führen Sparprogramme in eine schwere Rezession, die sich immer weiter verstärkt. Schuldenfinanzierte Konjunkturpakete sind weltweit bereits im Umfang mehrerer Billionen Euro aufgelegt worden - sie haben sich als ökonomische Strohfeuer entpuppt, die keine dauerhafte Wirkung zeitigen und nur den Schuldenstand des Staates in die Höhe treiben. Die einzige logische Schlussfolgerung, die aus diesen Fakten zu ziehen ist, besteht in der Einsicht, dass der Kapitalismus offensichtlich ohne permanente Schuldenbildung nicht mehr funktionsfähig ist. Ohne Schuldendynamik treibt das System in Rezession und Depression.

Letztendlich deutet dieser regelrechte Verschuldungszwang des Gesamtsystems nur darauf hin, dass der Kapitalismus als ein Gesellschaftssystem an die Grenzen seiner Entwicklungsfähigkeit stößt: Der Kapitalismus erstickt an seiner Produktivität, die immer mehr Arbeitskräfte "überflüssig" macht. Nach dem Zusammenbruch der Verschuldungsdynamik in Europa, die kreditfinanzierte Nachfrage generierte, setzten nun aufgrund des deutschen Spardiktats regelrechte Deindustrialisierungsschübe in Südeuropa ein. Im Endeffekt beschleunigt die deutsche Sparpolitik nur diesen systemischen Krisenprozess, der letztendlich auch auf Deutschland zurückschlagen wird.

Die deutsche Industrie kann sich nur deswegen als "Krisengewinner" fühlen, weil es ihr gelang, durch einen frühzeitigen Sparkurs (Agenda 2010) und einer entsprechenden Steigerung der Konkurrenzfähigkeit die notwendigen Verschuldungsprozesse schlich zu exportieren. Nur bei der Aufrechterhaltung gigantischer Exportüberschüsse im dreistelligen Milliardenbereich kann in der Bundesrepublik noch die Illusion einer heilen Arbeitsgesellschaft aufrechterhalten werden. Die Tendenz, vermittels Handelsüberschüssen auf Kosten anderer Volkswirtschaften zu wachsen, wie sie in Deutschland perfektioniert wurde, ist gerade Ausdruck des Unvermögens des kapitalistischen Systems, ohne Schuldenbildung seine eigene Reproduktion zu bewältigen. Deutschland ist somit nicht nur als Exporteur, sondern auch als Gläubiger weiterhin an die Eurozone gekettet, wie ein Blick auf die Target-Salden der europäischen Notenbanken enthüllt. Hier hat die Bundesbank Forderungen von 655,6 Milliarden Euro ausstehen, die sich im Fall eines Zusammenbruchs der Eurozone größtenteils verflüchtigen würden.