Die USA und die EU liefern sich ein Wettrennen um die Entschlüsselung des menschlichen Gehirns

Trotz aller Versprechungen und Allmachtsphantasien sind der Entzauberung unseres Denkorgans enge Grenzen gesetzt

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US-Präsident Barack Obama hat große Pläne: Er will das menschliche Gehirn erforschen, vermessen, kartographieren und somit entschlüsseln lassen. In seiner Rede zur Lage der Nation am 12. Februar 2013 kündigte er an, dass in den nächsten Jahren Milliarden von US-Dollar in die Erforschung des Hirns fließen sollen. Das Vorhaben soll ähnlich gigantische Ausmaße annehmen wie das 1990 begonnene "Human Genom Project", bei dem hunderte Forscher in über zehn Jahren das menschliche Erbgut entschlüsselt haben und am Ende einen Code von über 3,2 Milliarden Zeichen präsentieren konnten. Die Kosten lagen bei 3,8 Milliarden US-Dollar.

Natürlich geht es bei solchen Projekten um Geld. In seiner Rede betonte Obama:

Wenn wir die besten Produkte herstellen wollen, dann müssen wir auch in die besten Ideen investieren. Jeden Dollar, den wir investiert haben, um das menschliche Genom zu kartographieren, brachte unserer Wirtschaft 140 Dollar zurück. Heute kartographieren unsere Wissenschaftler das menschliche Gehirn, um Antworten auf Alzheimer zu finden. […] Es ist jetzt an der Zeit, einen Grad an Forschung und Entwicklung zu erreichen, den man seit dem Wettlauf ins Weltall nicht mehr gesehen hat. Wir müssen diese Investitionen tätigen.

Die Leitung des monumentalen Forschungsprojekts soll bei den National Institutes of Health liegen. Das US-amerikanische "Human Brain Activity Project" ähnelt schon dem Namen nach dem Human Brain Project, das die EU Anfang Februar 2013 gestartet hat (Wissenschaftliche Flaggschiffe für Wachstum). Auch hier hegt man große Ambitionen:

Das Verständnis des menschlichen Gehirns ist eine der größten Herausforderungen, denen die Wissenschaft im 21. Jahrhundert gegenübersteht. Wenn wir uns dieser Herausforderung stellen, können wir fundierte Einblicke darüber gewinnen, was uns zu Menschen macht, wir können neue Behandlungen für Hirnschäden entwickeln und neue revolutionäre Computertechnologien bauen.

Vermutlich werden die Vorhaben der USA und der EU auch noch im 22. Jahrhundert vor großen Herausforderungen stehen: Sicher, das menschliche Genom ist komplex, aber die Komplexität des Gehirn sprengt nicht nur unsere technischen Möglichkeiten, sondern auch unsere Vorstellungskraft. Ein Ausspruch des Ingenieurs und Linguisten Alfred Korzybski bringt die Problematik treffend auf den Punkt: "Die Landkarte ist nicht das Gelände!" Eine geordnete Kartographierung des Hirns mag in der Theorie hübsch klingen, in der Praxis ist das Gelände des Hirns ein schier undurchdringbarer Dschungel.

Wer schon einmal dem aktiven Gehirn "bei der Arbeit zugeschaut" hat, der spürt die Euphorie der Neurowissenschaftler: Die modernen bildgebenden Verfahren bieten uns phantastische Erkenntnisse über das Gehirn. In dem Augenblick, wo ein Mensch Angst spürt, sehen die Hirnforscher ein Feuerwerk in der Amygdala. Die Amygdala ist ein mandelkerngroßes Gebiet, das tief im Gehirn verborgen liegt. Und dieses Gebiet leuchtet und blinkt auf den Monitoren der Hirnforscher, wenn ein Mensch im Kernspintomographen liegt und dabei einen furchterregenden Horrorfilm anschaut. Die aktiven Neuronen tauschen unzählige Informationen aus und feuern dabei mit elektrischen Signalen und chemischen Botenstoffen.

Wenn ein Mensch etwas lernt, dann "sehen" die Forscher sogar, wie sich neue Synapsen zwischen den Neuronen bilden. Die Neuronen verhalten sich wie Tintenfische, deren Tentakel zu wachsen beginnen und dann die Greifarme anderer Neuronen suchen. Die Nervenstrange ziehen sich magnetisch an und knüpfen neue Verbindungen: die Synapsen. Jede Erinnerung in unserem Langzeitgedächtnis ist auf diese Weise entstanden.

Die wichtigsten Probleme der Hirnforschung

Im Mittelpunkt der gegenwärtigen Bemühungen steht die Suche nach den neuronalen Korrelaten des Bewusstseins (engl.: "neural correlates of consciousness" oder kurz: NCC). Was ist ein NCC? Ein neuronales Korrelat des Bewusstseins liegt dann vor, wenn man den "Inhalt" eines Bewusstseinszustands eindeutig mit bestimmten neuronalen Prozessen identifizieren kann. Weniger theoretisch formuliert: Wenn ich ein Stück Schokolade esse, dann müssen die dazugehörigen Erlebnisse eindeutig mit Prozessen bestimmter Neuronenverbände korrelieren bzw. einhergehen. Hat der Forscher einen solchen Neuronenverband gefunden, nennen wir ihn einmal "Neuro-Schoko", dann hat er das NCC für den Schokoladengeschmack ausfindig gemacht. Soweit, so gut. Doch die Suche nach den NCC ist ein Kampf gegen Windmühlen - folgenden Problemen müssen sich die Forscher in den USA und der EU stellen. Und es ist fraglich, ob sie diese Probleme lösen können:

  1. Die Messdaten der vielbeachteten bildgebenden Verfahren - zu nennen waren vor allem die Positronen-Emissions-Tomographie (PET) und die funktionelle Magnet-Resonanz-Tomographie (fMRT) - sind lediglich mittelbarer Natur: Beim Kernspin werden nicht die Aktivitäten der Nervenzellen an sich erfasst, sondern lediglich die Eigenschaften des anatomischen Stoffwechsels und des Bluts, das durch unser Gehirn fließt. Darüber hinaus hinkt die bildliche Wiedergabe dem tatsächlichen Geschehen im Gehirn zeitlich hinterher. Die moderne Elektro-Encephalo-Graphie (EEG) liefert da schon eine bessere zeitliche Wiedergabe als die bildgebenden Verfahren. Sie misst unmittelbar unsere Hirnströme, doch weil unsere Schädeldecke ziemlich dick ist, sind die Messergebnisse des EEG vergleichsweise schwach und undeutlich. Außerdem hat das EEG im Gegensatz zu den bildgebenden Verfahren eine äußerst schlechte räumliche Auflösung. Das Kernproblem aber ist: Bei beiden Verfahren muss man die dreidimensionale Faltung des Hirns auf eine zweidimensionale Kartierung herunterbrechen. Dabei ist es äußerst schwierig, die komplexe Architektur und interne Vernetzung des Gehirns adäquat zu berücksichtigen.
  2. Die Unschärfe der Messdaten ist auch insofern interessant, als sich hierbei die prinzipielle Frage stellt, wie exakt und präzise die Neurowissenschaften unser bewusstes Erleben überhaupt fassen können: Wenn ich ein Buch lese, dann reicht es nicht, wenn der Neurowissenschaftler durch die Messdaten erkennt, dass ich lese. Um die exakten NCC angeben zu können, die sämtliche Eigenschaften des Bewusstseins beschreiben und erklären sollen, müsste er auch erkennen können, was ich gerade lese: Es ist bis heute nicht absehbar, ob er den exakten Inhalt meiner geistigen Vorgange erkennen geschweige denn erklären kann, während ich Seite 42 von Douglas Adams’ Per Anhalter durch die Galaxis lese und dabei eine bestimmte Interpretation des Gelesenen vornehme. Nach der Definition der NCC als "repräsentierte Inhalte" müsste aber genau das möglich sein. Zudem gibt es im Gehirn keinen zentralen Knotenpunkt, aus dem das Bewusstsein entspringt. So zeigen viele Patienten, denen wegen eines Tumors fast die Hälfte des Gehirns entnommen wurde, manchmal nur minimale Beeinträchtigungen ihrer geistigen Fähigkeiten. Entscheidend ist nicht das Wo, sondern das Wie: Die Art und Weise, wie die Neuronen miteinander interagieren, scheint mehr Aufschluss über die NCC zu geben als die Suche nach einem Ort, an dem alle Faden zusammenlaufen. Das ist ein nicht zu unterschätzendes Problem für die angestrebte Kartographierung des Hirns.
  3. Die Experimente der Neurowissenschaftler beziehen sich meist auf allzu einfache Situationen, in denen Probanden ein simpler Stimulus dargeboten wird und sie aufgefordert werden, einen Knopf zu drucken. Der Mensch kann mehr als das, er ist hochkomplex. Das ist auch deshalb erwähnenswert, weil die Experimente meist Kurzvorgänge untersuchen, während die meisten geistigen Prozesse auf langwierigen persönlichen Entwicklungen, Erfahrungen und Erinnerungen basieren. Wenn jemand darüber nachdenkt, für einen neuen Arbeitsplatz seine Heimat zu verlassen, dann kommen bei diesen Überlegungen höchst komplexe Prozesse zum Tragen, die sich deutlich von einem simplen "Knopf-Drück-Experiment" unterscheiden. Neben dieser geistigen Vielfalt hat auch schon jedes einzelne Gehirn eine nicht auslotbare Individualität: Kein Gehirn gleicht dem anderen, denn zwei Individuen sind im Verlauf ihres Lebens nie den gleichen Einflüssen ausgesetzt. Doch eine Kartierung müsste für sämtliche individuellen Hirne zutreffen, sprich, allein in der EU für über 500 Millionen Gehirne.
  4. Im Gegensatz zu anderen wissenschaftlichen Untersuchungsgegenständen wie der Planetenzirkulation oder der Plattentektonik fehlt bislang selbst im Ansatz eine Theorie, die uns erklärt, wie das Gehirn funktioniert. Die britische Neurowissenschaftlerin Susan Greenfield ist eine der wenigen Forscher, die ihre Profession kritisch hinterfragt: "Ich werde bei solchen Sachen leicht ungeduldig, und es bedrückt mich mehr als viele andere, wie wenig wir über das Gehirn wissen. Ich habe das Gefühl, dass wir eigentlich nur Anekdoten austauschen; niemand hat bisher geschafft, was in den Naturwissenschaften Standard ist: das Erarbeiten eines geeigneten Rahmens, auf den sich jeder einigen kann, mit Gesetzen, Regeln, Prinzipien und so weiter, und der die verschiedenen Arbeitsstufen innerhalb der Gehirnforschung erfolgreich zusammenbringt. Ich verspüre eine gewisse Frustration angesichts der Selbstzufriedenheit der Leute, die zu großen Treffen über das Gehirn gehen und sich für ihre tollen Leistungen gegenseitig auf die Schulter klopfen, obwohl wir meines Erachtens in Wirklichkeit erst ganz am Anfang stehen."

Wir wissen, wie der Magen, die Nieren und das Herz arbeiten, doch das Gehirn ist schon aufgrund seiner komplexen Funktionsweise ein weitgehend unerforschtes Gebiet der Naturwissenschaft: Im Gegensatz zum mechanistischen Bild des 19. Jahrhunderts handelt es sich beim Gehirn um ein plastisches Organ, das verschiedene Informationen dynamisch und zeitlich parallel verarbeiten kann und als nichtlineares System arbeitet: Die eintreffenden Informationen werden also nicht von jedem Hirnareal gleich gewichtet und verarbeitet. Das Gehirn unterscheidet sich in dieser Hinsicht grundlegend von heutigen Computern.

Auch wegen seiner materiellen Komplexität ist das Gehirn schwer zu untersuchen: Das menschliche Gehirn hat schatzungsweise 100 Milliarden Neuronen. Das entspricht in etwa der Anzahl der Bäume, die der Amazonas-Wald beherbergt. Berücksichtigt man die enorme Anzahl der Verbindungen zwischen den Neuronen, so gibt es im Gehirn etwa so viele Synapsen wie Blatter im Amazonas-Dschungel: um die 100 Billionen. In nur einem Kubikmillimeter unseres Großhirns, also der Größe eines Stecknadelkopfs, befinden sich eine Milliarde Synapsen. Die Summe der möglichen synaptischen Verbindungen schließlich sprengt die menschliche Vorstellungskraft: Wenn bei der Ziehung der Lottozahlen aus lediglich 49 Kugeln eine riesige Kombinationsvielfalt entstehen kann, was müssen dann erst Abermillionen von Nervenzellen hervorbringen können? Eine Menge.

Die Möglichkeiten der synaptischen Verknüpfungen werden grob auf 10100.000.000.000.000 geschätzt, während sich im Universum circa 1087 Elementarteilchen befinden. Es ist also nicht auszuschließen, dass es unsere geistigen Kapazitäten übersteigt, diese schier unvorstellbar große Komplexität zu verstehen. Das "untersuchende" Gehirn könnte das "untersuchte" Gehirn nicht erklären. Unser Hirn würde buchstäblich an sich selbst scheitern.

Ob die Jäger des verlorenen Hirns das Dickicht der Neuronen und Synapsen lichten werden, steht also in den Sternen. Zu komplex ist vermutlich unser Denkorgan, als dass wir es restlos entschlüsseln werden. Hoffen wir, dass die Milliardenausgaben nicht umsonst sind und die Forscher zumindest etwas Licht aufs Dunkel des Hirns werfen können.