Ein "wirklicher Christ" als Papst

Aus dem Konklave von 1958 ging als "Papa bueno" Johannes XXIII. hervor. Heute wäre eine solche Papstwahl angesichts der finanzstarken rechten Netzwerke nur noch als Wunder möglich

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Wenn Peter Hertel mit seinem aktuellen Dossier über die Zusammensetzung der papstwahlberechtigten Kardinäle auch nur zur Hälfte ins Schwarze trifft, darf man sich vom nun einberufenen Konklave Gutes nur mit einem unverschämten Wunderglauben erhoffen. Über 60 Purpurträger sollen der einst auch im Franco-Regime gut vertretenen Geheimorganisation "Opus Dei" (Werk Gottes) oder der mit dem Berlusconi-Sumpf verbundenen Bewegung "Comunione e Liberazione" (Gemeinschaft und Befreiung) nahestehen. An diesen beiden finanzstärksten Machtnetzwerken vorbei kann kein Papst gewählt werden. Sie ergänzen sich wie "Panzer" und "Guerilla" der Rechten und hätten wohl am liebsten einen neuen machtbewussten "Bonifaz VIII.", der als oberster Kleriker den von Natur aus feindseligen Laien endgültig zeigt, wo es lang geht.

Die von Peter Hertel mit Sorge in Augenschein genommenen Kardinäle sind samt und sonders von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. ernannt worden. Diese beiden Päpste haben den Machtnetzwerken des rechten Flügels die Türen weit geöffnet. Mit Blick auf diesen Umstand liest man eine Passage aus Joseph Ratzingers "Einführung in das Christentum", an die sich dieser Tage der Schweizer Abt Martin Werlen erinnert hat, mit bitterem Beigeschmack:

Und so ist die Kirche für viele heute zum Haupthindernis des Glaubens geworden. Sie vermögen nur noch das menschliche Machtstreben, das kleinliche Theater derer in ihr zu sehen, die mit ihrer Behauptung, das amtliche Christentum zu verwalten, dem wahren Geist des Christentums am meisten im Wege zu stehen scheinen.

Joseph Ratzinger: Einführung in das Christentum (1968)

Die Geister, die Karol Wojtila und Joseph Ratzinger riefen, wird die Kirche so schnell nicht wieder los. Der Theologieprofessor Hermann Häring empfiehlt - freilich mit wenig Erfolg - einen möglichen Ausweg: "Stoppt die Papstwahl!" Eine nun von Opfern der systematischen kirchlichen Sexualgewalt erstellte Schwarze Liste von Kardinälen scheint die Kirchenoberen ebenfalls nicht zu berühren.

Zur aktuellen Situation bleiben aber noch ganz andere, offenbar auch in den Augen der höchsten Kirchenmänner höchst explosive Fragen offen (). Scheinbar beginnt gerade in diesem Moment die versuchte Inszenierung eines ganz "gewöhnlichen Konklaves" zusammenzubrechen. Schier unglaubliche Behauptungen, die eine potentielle Erpressbarkeit der obersten Kirchenleitung betreffen, sind bereits 2012 sogar im Fernsehen kundgetan worden.

Man wundert sich als Katholik, warum dazu nirgendwo ein kirchenamtliches Dementi nachzulesen ist. Denn in den entsprechenden Äußerungen des Theologen und (nach eigenen Angaben) zeitweiligen Lektors der Päpstlichen Glaubenskongregation David Berger geht es nicht nur um psychologische Mutmaßungen, sondern auch um angebliche Zeugenaussagen u.a. von Schweizer Gardisten, über die die Journalistin Valeska von Roques verfügen soll. Solche Ungeheuerlichkeiten bleiben im Netz und nähren die Gerüchteküche. Da hätte man 2012 doch erwarten können, dass Rom einfach klarstellt: "Der Pontifex und seine engsten Mitarbeiter aus Vergangenheit und Gegenwart entsprechen den Standards, die sie selbst für alle Kleriker des Erdkreises festgelegt haben."

Vor 55 Jahren: Ein "Bruder Papst" wird gewählt

Hier nun möchte ich aber anlässlich des Konklaves unter Rückgriff auf frühere Arbeiten an ein historisches Kapitel erinnern: Am 9. Oktober 1958 starb nach einem fast zwanzigjährigen Pontifikat Pius XII. Manche Leute halten diesen Papst, der zum Massenmord an den Juden kein einziges klar verständliches Wort gesagt hat, für ein Monster ().

Das ist er nicht gewesen. Er war ein zerbrechlicher Mensch, aristokratisch, pflichtbewusst, aufopferungsbereit bis zum Letzten und voller Selbstzweifel. Pius trug keine richtigen Schuhe, sondern rote Pantöffelchen. Der Redakteur der Vatikanzeitung verharrte bei Niederschriften vor ihm in kniender Haltung. Geliebt wurde dieser autoritäre Charakter - trotz seiner grandiosen Aura - nur selten. Die Römische Kirche ging ihm über alles. Mit machtbewusster Diplomatie hat er diese Kirche, der restlos all seine Kräfte gehörten, in fragwürdigster Weise politisiert. Am Ende seines Lebens soll er sich eine Schallplattenaufnahme von Wagners "Götterdämmerung" gewünscht haben.

Der Nachfolger von Pius XII. wurde - vielleicht doch nicht ganz so unerwartet wie manchmal dargestellt - Angelo Giuseppe Roncalli. Als Papst nannte dieser sich so: "Ich bin Johannes, euer Bruder." Johannes XXIII. stammte von kleinen Leuten ab. Als eigensinniger pastoraler Kirchendiplomat hatte er die Welt kennengelernt und war zuletzt Patriarch von Venedig gewesen. Er legte durchaus Wert auf seine akademische Bildung und hörte es gar nicht gerne, wenn die Zeitungen ihn als "Übergangspapst" abtaten. Ein herausragender Theologe im herkömmlichen Sinn war er aber nicht. Systematische Kritik an der römischen Schultheologie war ihm auch als Papst fremd. Sein Unbehagen am Zustand der Kirche hatte mit seiner Lebensklugheit zu tun und war eher etwas Gefühltes.

Von der Art der Bibelfrömmigkeit dieses Papstes zeugt ein Gespräch mit Alexej Adschubej, dem Schwiegersohn Chruschtschows: "Wir schauen einander in die Augen, und da sehen wir ein Licht. Heute ist der erste Schöpfungstag, der Tag des Lichts." Johannes tat, was Christen tun. Er besuchte Kranke, Strafgefangene und die armen Leute. Als Pastor von Rom sagte er einem Mörder, dass Gott ihn liebt. Die Eltern bat er, zuhause ihre Kinder zu liebkosen, und alle sollten besonders die Weinenden und Niedergeschlagenen trösten.

Er glaubte, das Konklave habe ihn zum Partner Gottes und zum Papa der ganzen Welt gemacht. Das glaubten überall auf der Erde auch unzählige Menschen, selbst solche, die mit Gott oder dem Katholizismus nichts am Hut hatten. Er wurde "der gute Papst" (Papa bueno) genannt. Er war ein mit Liebe beschenkter Mensch. Sonst gab es eigentlich nichts Besonderes an ihm.

Seine Offenheit fand in der Kurie wenig Anklang. Privatsekretär Loris Capovilla sollte Johannes XXIII. zu verstehen geben, dass es "politisch unklug sei, von universeller Liebe zu reden". Bei der anschließenden Ansprache in einer Vorortpfarrei sagte der Papst dann:

Heute ist mir zu Ohren gekommen, ich solle darauf achten, weniger offenherzig und mitteilsam zu sein […]. Ich bringe euch nur dieses Evangelium. Wenn wir uns darin nicht widerspiegeln, dient unser Leben zu nichts.

"Es lebe Bergamo"

Vielleicht ist die Herkunftsheimat dieses charismatischen Oberhirten durchaus bedeutsam für den mit ihm verbundenen Umbruch der Kirche gewesen. Als Angelo Giuseppe Roncalli am 4. November 1958 zum Papst gekrönt wurde, war sein Schüler und Freund Bischof Giuseppe Battaglia aus der alten Heimat zugegen. Nachdem sich die beiden angeblickt hatten, flüsterte Papst Johannes XXIII. dem neben ihm stehenden Kardinalsdiakon zu: "Dieser da ist nicht hier, um zu rufen: Es lebe der Papst!, sondern: Es lebe Bergamo!" Der "gute Papst" mochte es später allerdings gar nicht, wenn lokalpatriotische Pilger aus seiner Heimat allzu laut "Bergamo, Bergamo!" schrien. Sein Tadel: "Das ist doch ein wenig zu provinziell!" Für ihn waren Heimat und Weite keine Gegensätze.

In jeder guten Biographie von Papst Johannes XXIII. kann man sich ein Bild davon machen, wie durchgreifend dessen Heimat Bergamo von der "katholischen Solidaritätsbewegung" und vom Selbstbewusstsein einer Kirche der kleinen Leute geprägt war. Anregungen für die Pastoral in Bergamo kamen auch aus dem deutschen Sozialkatholizismus. Schon der Seminarist Roncalli notierte: "Einzig deshalb werde ich Priester, damit ich auf irgendeine Weise den armen Leuten Gutes tun kann."

Während die alte Adelskirche sich noch lange in Vetternwirtschaft übte, stellte Angelo Roncalli später unter Beweis, dass sein kleinbäuerlicher Familiensinn nicht egozentriert war, sondern letztlich universell: "Die ganze Welt ist meine Familie." Sein wichtigster Lehrer war der fromme, gewerkschaftsfreundliche Bischof Radini-Tedeschi von Bergamo, der "Hauptstadt der sozialen Einrichtungen". Dieser hatte ernste Konflikte mit dem System der Pius-Päpste und wurde (wie sein Sekretär Roncalli) von Rom als sogenannter "Modernist" verdächtigt.

Aus der Kindheit erinnerte sich Johannes XXIII. an einen Weg auf den Schultern seines Vaters Giovanni: "Das Geheimnis aller Dinge ist, sich von Gott tragen zu lassen." Treffend schreibt Christian Feldmann dazu: "Wer so schlicht und kraftvoll glaubt wie dieser lombardische Bauer, der braucht sich nicht hinter Zäunen und Vorsichtsmaßnahmen und steifen Riten zu verschanzen …" Weil er in seinem Herkommen eine Heimat kannte, konnte er als Kirchendiplomat in der großen Welt angstfrei auf Entdeckungsreise gehen und überall auch die Heimat anderer schätzen und lieben lernen. In einem Nachruf der "Daily Mail" hieß es später: "Er ging in der Gegenwart Gottes, wie gewöhnlich jemand durch die Straßen seiner Heimatstadt geht."

Anders als sein Vorgänger Pius XII. bevorzugte Johannes XXIII. festes Schuhwerk. Zur (Über-)Lebenskunst der kleinen Leute gehört, dass man mit seinen Beinen auf dem Boden bleibt. Darum besteht wenig Neigung zu schwermütiger Religion oder zur schwärmerischen Unterwerfung unter rein geistige Gespinste (Schweres hat man ohnehin genug, und für Schwärmereien fehlt die Muße). So ist auch die Heiterkeit des Roncalli-Papstes nicht nur Gegenstand für Anekdotensammlungen. Sie bezieht sich vielmehr auf etwas, das sich unter glücklichen Bedingungen im Kleineleutemilieu entwickeln kann. Gegen Angstpredigt und Strenge der ultramontanen Volksmissionare hat sich der Katholizismus von unten immer eine gewisse Resistenz bewahrt: zugunsten der Freude am Leben. Das ist vielleicht ein Grund dafür, warum in den vielen alten "Bergamos" Fundamentalismus und bigotter Übereifer nie gut gedeihen konnten. Kleinbauern wissen: Wir dürfen uns nicht erheben über das Lebendige. Es erfordert vielmehr unsere Rücksichtnahme und Zärtlichkeit.

Das Konzil: Ein Sprung nach vorwärts

Papst Johannes hegte - wiederum vielleicht weniger plötzlich als oft angenommen - einen Plan, der viele Nummern zu groß für ihn war. Er kündigte, selbst aufgeregt, am 25. Januar 1959 die Einberufung eines Ökumenischen Konzils an. Die Kurienkardinäle gaben ihm kaum einen Anstandsapplaus und dachten dann sofort darüber nach, wie man so einen Unfug verhindern könne.

Zum 10. Oktober 1962 kamen trotzdem zweieinhalbtausend Bischöfe nach Rom, und die katholische Kirche konnte zum ersten Mal richtig sehen, dass sie Weltkirche war. Johannes hatte kein ausgearbeitetes Konzept und erst recht kein fertiges Ziel vor Augen. Die Kurie hatte alles vorbereitet, das war so üblich. Die Bischöfe sollten kommen, das Vorgelegte beraten und dann möglichst bald wieder zu ihren Schäfchen nach Hause fahren.

Die Bischöfe dachten aber gar nicht daran, die Sache so anzugehen. Einige von ihnen durchkreuzten mit Schläue die von der Kurie schon festgelegten Kommissionsbesetzungen. Es gab tosenden Beifall, und dann wussten alle: "Das wird wirklich ein Konzil!" Papst Johannes war gespannt, was das werden würde. Er wollte dem Heiligen Geist durchaus nicht ins Handwerk pfuschen.

Die päpstliche Eröffnungsrede "Heute freut sich die Mutter Kirche" von 1962 enthält eine nachdrückliche Empfehlung zur Grundhaltung in der Konzilsaura. Die letzten Schritte bis zu seinem Stuhl geht Johannes XXIII. zu Fuß. Er erteilt, unter der versteinerten Miene des ultrakonservativen Kardinals Ottaviani, allen eine Absage, die unverbesserlich an der alten Bunkermentalität festhalten:

Sie sehen nämlich in der menschlichen Gesellschaft nur Niedergang und Unheil […] Wir aber sind völlig anderer Meinung als diese Unglückspropheten.

Das ist auch gesagt wider eine Paranoia, die überall nur Verrat und Zerfall wittert. Die Kirche, so Johannes, müsse auf dem Konzil einen "Sprung nach vorwärts" (un balzo) wagen und im "Heute" ankommen. Er sieht sie beschenkt durch die Erwartungen der Christen der anderen Konfessionen und die Hochschätzung, die ihr seitens der nicht christlichen Religionen entgegengebracht wird. Die Sprache der Verkündigung ist für ihn nichts Zeitloses: "Denn eines ist die Substanz der Glaubensüberlieferung, etwas anderes die Formulierung, in der sie dargelegt wird." Die Vatikanverwaltung wird diese Redepassage nur mit eigenmächtigen Veränderungen publizieren.

Schon Weihnachten 1962 hatte Johannes XXIII. den Kardinälen seine Sehnsucht nach "neuer und kraftvoller Ausstrahlung des Evangeliums in der ganzen Welt" offenbart. Eine Notiz vom 23.1.1963 enthält die Warnung vor einer kirchlichen Enge, die den leuchtenden Himmel betrachtet und die überkommene Wahrheit wie einen verborgenen Schatz hütet, aber vergisst, dass Gott auf die Erde herabgestiegen ist. Überliefert ist auch folgende Leitlinie des Bauernsohnes auf dem Stuhl Petri: "Wir sind nicht auf Erden, um ein Museum zu hüten, sondern einen blühenden Garten zu pflegen."

Bedeutsame Ergebnisse des II. Vatikanischen Konzils (1962-1965) fasst Norbert Arntz so zusammen:

Die zentrale Bedeutung der Bibel als befreiendes Wort des Gottes des Lebens; die Rückgewinnung des Verständnisses von der Kirche als einer Gemeinschaft von Gleichrangigen; die Öffnung für andere Kulturen und Religionen; eine neue geschwisterliche Beziehung zu den anderen Kirchen; der Entwurf einer Kirche der Armen.

Die maßgeblichen Konzilstheologen teilten nicht mehr die zwanghafte Vorstellung, "Offenbarung" habe etwas mit dem Nachbeten von "wahren Lehrsätzen" zu tun.

Die Juden als ältere Geschwister

Angelo Giuseppe Roncalli gehörte zu den hohen Kirchenmännern, die sich zur Zeit der Judenverfolgung im Innersten erschüttern ließen und handelten. 20.000 Juden auf dem Balkan soll er vor dem Tod bewahrt haben. Arthur Herzberg von der "Jewish Agency" berichtet so von der ersten Begegnung mit ihm:

Überall hörten wir das Gleiche. Jeder sagte uns: "Wir können nicht helfen!" Mit einer Ausnahme. In Istanbul traf ich einen fetten kleinen Erzbischof namens Roncalli. Er war päpstlicher Nuntius in der Türkei. Als ich ihm erzählte, was mit den Juden geschah, stand er auf, begann zu weinen, legte seine Arme um mich und fragte: "Rabbi, was kann ich tun, um zu helfen?"

Der Nuntius wusste die Möglichkeiten in der neutralen Türkei zu nutzen. Später hatte er in Paris viele jüdische Freunde. 1950 nannte er die Juden in einer Predigt "Söhne der Verheißung" und Abraham den "Patriarchen aller Gläubigen".

Am 28. Oktober 1958 wurde Roncalli zum Papst gewählt. In seiner ersten päpstlichen Karfreitagsliturgie 1959 ließ er das vorgeschriebene "perfidis" (treulos) im Judengebet einfach weg. Im Folgejahr war das "perfide" für die ganze Weltkirche verboten. Als bei der Karfreitagsliturgie in Rom 1962 ein Kardinal die alte Wendung "pro perfidis Judaeis" benutzte, wies er ihn mitten in der heiligen Handlung zurecht: "Wiederholen Sie die Fürbitte - aber nach der neuen Form!" (Erst 1965 entfielen auch die anderen Gehässigkeiten des alten Karfreitagsgebetes: "Schleier auf ihren Herzen", "Verblendung jenes Volkes", "Finsternis" der Juden).

Johannes XXIII. wollte die Feindseligkeit der Kirche gegenüber den Juden ein für allemal beenden (der Shoa-Überlebende Jules Isaac, den er am 13.6.1960 empfing, fand bei ihm diesbezüglich mehr Gehör als 1949 bei Pius XII.). An dieser Stelle hat sich der Papst aus Bergamo ausnahmsweise mit Entschiedenheit in die Konzilstagesordnung eingemischt. Auf seinen Wunsch hin wurde ein eigenständiges "Decretum de Judaeis" (Dekret über die Juden) ausgearbeitet. Als der wunderbare Johannes Oesterreicher dazu den ersten Entwurf im Sekretariat für die Einheit der Christen vorstellte, brach das Gremium - ein einmaliger Vorgang - in Applaus aus.

Am Ende - nach "schwerer Fahrt" - blieb nur ein Abschnitt zum Judentum innerhalb der Erklärung zu den nichtchristlichen Religionen (Nostra aetate) übrig. Darin hat das II. Vatikanum das Verhältnis von Christen und Juden grundlegend neu bedacht und zwar in einer geschwisterlichen Weise, die mit dem Motiv "Judenmission" aus der veralteten Karfreitagsbitte unvereinbar ist. Der Dialog mit dem Judentum ist seitdem ein maßgeblicher Lackmustest des Konzils.

Dass ausgerechnet ein Papst aus Deutschland 2008 wieder eine Karfreitagsfürbitte mit der wörtlichen Überschrift "Für die Bekehrung der Juden" (im Rahmen der tridentischen Liturgie) eingeführt hat, finden bis heute nicht nur hochkarätige Vertreter des Judentums erschreckend.

Ein ökumenischer Christ

Johannes XXIII. war ein ökumenischer Christ. Rom trug seiner Ansicht nach einen Großteil der Schuld an der Trennung der Christenheit. Bei der Ankündigung eines Ökumenischen Konzils 1959 sprach er "ausdrücklich auch eine Einladung 'an die Gläubigen der getrennten Kirchen' aus, 'mit uns an diesem Festmahl der Gnade und der Brüderlichkeit teilzunehmen'. Doch siehe da, in der später publizierten offiziellen Fassung der Kurie war bloß der Wunsch übrig geblieben, die 'getrennten Gemeinschaften' … möchten 'uns folgen, mit gutem Willen, auch sie auf der Suche nach Einheit und Gnade'." (Christian Feldmann) Wieder einmal hatte die römische Zensur beim unbequemen Papst zugeschlagen.

Natürlich galt den Zensoren in erster Linie die Wendung "getrennte Kirchen" als Skandal, denn für sie gab es nur die eine wahre Kirche. Nichts desto trotz wird diese Wendung später mehrfach in den Beschlüssen des Zweiten Vatikanischen Konzils einen Widerhall finden (Lumen Gentium; Dekret über den Ökumenismus). Erst Joseph Ratzinger hat als oberster Glaubenshüter und später auch als Papst den protestantischen Kirchen das "Kirchesein" wieder abgestritten.

Noch auf dem Sterbebett sah Johannes XXIII. sein Liebessehnen nach Einheit durch die ausgebreiteten Arme Jesu bekräftigt: "Schaut hin, diese offenen Arme sind das Programm meiner Amtszeit gewesen. Sie sagen, dass Christus für alle starb, für alle. Niemand ist ausgeschlossen von seiner Liebe, seiner Vergebung."

Ein Papst mit linken Freunden

Aber auch Atheisten und Linke waren vom Dialog aller "Menschen guten Willens" nicht ausgenommen. Als Angelo Roncalli noch Bischofssekretär in Bergamo war, betrachtete die rechte Presse einen Unterstützungsfond seines Mentors Bischof Tardini-Tedeschi nicht ohne Grund als "eine Weihe des Streiks, einen Segen für eine offen sozialistische Sache". Später zählte der Radikalsozialist Édouard Herriot, Präsident der Academie Française, zu Roncallis Freunden. Als Patriarch von Venedig unterhielt er gute Kontakte zum kommunistischen Bürgermeister Battista Giaquinto und bedachte 1957 den Kongress der Sozialistischen Partei Italiens mit einem Grußwort. Bezogen auf die italienischen Christdemokraten befürwortete er - ganz auf der Linie von Giovanni Montini, dem späteren Paul VI. - eine Öffnung nach links.

Mit diesem Konzilspapst endete die Ära des wahnhaften Antikommunismus im Vatikan. Einmal bekannte er sogar: "Unter Atheisten oder Kommunisten fühle ich mich oft wohler als unter gewissen fanatischen Katholiken." Der kommunistische Bildhauer Giacomo Manzù modellierte eine Büste von Johannes XXIII., was zur Freundschaft der beiden führte, und durfte an St. Peter die sieben Meter hohe "Pforte des Todes" aus Bronze gestalten.

Der Papst aus den armen Leuten war auch ganz praktisch. Er erhöhte im Vatikan die niedrigsten Gehälter und finanzierte dies kurzerhand durch Senkung der obersten Gehaltsklassen. Schon vier Wochen vor dem Konzil prägte Johannes XXIII. in seiner Radioansprache vom 11. September 1962 das Leitwort von einer "Kirche der Armen". Die Europäer nahmen das - abgesehen von Kardinal Giacomo Lercaro - kaum ernst, aber im Hintergrund unermüdlich regsame Bischöfe wie der Brasilianer Dom Helder Camara umso mehr.

In den Beschlüssen des Konzils (Gaudium et spes) kommt die "Kirche der Armen" zumindest ansatzweise zur Geltung: "Die vom Hunger heimgesuchten Völker fordern Rechenschaft von den reicheren Völkern." "Gott hat die Erde mit allem, was sie enthält, zur Nutzung für alle Menschen und Völker bestimmt [...] Welche Eigentumsformen ... es auch geben mag, immer muss auf diese Bestimmung der Güter geachtet werden."

Die einzige vertonte Enzyklika der Geschichte: "Frieden!"

Der 2002 im Hauruck-Verfahren heiliggesprochene "Opus Dei"-Gründer Josemaria Escrivá aus dem geistigen Dunstfeld des Franco-Faschismus betrachtete Johannes XXIII. geringschätzig als einen "Bauern mit Körpergeruch". Für die meisten Menschen war Johannes XXIII. hingegen einfach der "Papst des Friedens". Er sprach vom Krieg nicht als ein Theoretiker. Bereits als junger Rekrut in Bergamo schrieb Roncalli in sein Tagebuch: "Das Militär ist eine Quelle, aus der Fäulnis aufsteigt, um die Städte zu überschwemmen." Am 21. August 1914 stand er seinem väterlichen Lehrer Bischof Radini Tedeschi in der Sterbestunde bei. Mit seinen letzten Worten ergänzte der Bischof das Gebet des Sekretärs und gab diesem einen Lebensauftrag: "… und für den Frieden, für den Frieden."

Über den Ersten Weltkrieg, in dem er als Sanitäter die zerfetzten und sterbenden Soldaten versorgte, urteilte Roncalli so: "Der gegenwärtige Krieg ist der Krieg des Reichen gegen den Armen, des Wohlgenährten gegen den, der Mühe hat zu leben, des Kapitalisten gegen den Arbeiter, und umgekehrt." Als Papst wird er in seiner allerersten Enzyklika den Satz schreiben: "Zu viele Soldatenfriedhöfe bedecken die Erde." Der französische Außenminister Robert Schuman bescheinigte nach dem Zweiten Weltkrieg dem Nuntius Roncalli: "Er ist der einzige Mann in Paris, in dessen Gesellschaft man die physische Empfindung von Frieden hat." Am Beginn des Roncalli-Pontifikates stand das Wort: "Das Wichtigste ist der Friede."

Im Oktober 1962 führte die Kuba-Krise die Welt an den Rand eines Atomkrieges. Ein päpstlicher Friedensappell bot den beiden Supermächten die Möglichkeit, öffentlich das Gesicht zu wahren und nachzugeben. Am 25. Oktober bat Johannes XXIII. die Mächtigen über eine Rundfunkansprache: "Mit der Hand auf dem Herzen mögen sie den Angstschrei hören, der aus allen Teilen der Welt, von den unschuldigen Kindern bis zu den Alten … zum Himmel aufsteigt: Friede, Friede!" Der Papst wurde weltweit als Botschafter des Friedens anerkannt. In seiner Ostpolitik folgte er nicht den Pius-Päpsten, sondern zog es vor, "mehr Wärmespender als Kälteträger zu sein".

Als sein Vermächtnis betrachtete Johannes XXIII. die Enzyklika "Pacem in terris" (Frieden auf Erden), bei deren Erscheinen am 11. April 1963 er schon vom Tod gezeichnet war. Sie ist, wie Christian Feldmann betont, "als erste Enzyklika der Kirchengeschichte nicht nur an Bischöfe, Kleriker und Katholiken gerichtet, sondern ausdrücklich 'an alle Menschen guten Willens'." Nach dem Tod des Papstes tauften die Brüder von Taizé ihre größte Glocke "Pacem in terris". Der jüdische Musiker Darius Milhaud komponierte zur Einweihung des Pariser Rundfunkgebäudes eine Chorsinfonie zu "Pacem in terris", die damit als die einzige vertonte Enzyklika in die Geschichte eingehen sollte.

In "Pacem in terris" klagte Johannes XXIII. - beiden Supermächten nach der Kuba-Krise wenig vertrauend - über die Folgen von Kernwaffenexperimenten und forderte generell, "dass Atomwaffen verboten werden". Aus der "schrecklichen Zerstörungsgewalt der modernen Waffen" schloss er:

Darum ist es in unserer Zeit, die sich des Besitzes der Atomkraft rühmt, Wahnsinn, den Krieg noch als das geeignete Mittel zur Wiederherstellung verletzter Rechte zu betrachten.

Die Charta der Vereinten Nationen, welche zwischenstaatliche Gewalt überhaupt ächtet, und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte würdigte Johannes XXIII. als herausragende "Zeichen der Zeit". In "Pacem in terris" stellte er klar, dass die zivilisatorische Errungenschaft des kodifizierten Menschen- und Völkerrechtes die Weltkirche zutiefst angeht: Alle Menschen sind gleichberechtigte Mitglieder der universalen Menschheitsfamilie (Nr. 25). Es darf "keine Völker mehr geben, die über andere herrschen" (Nr. 25). Alle Staaten sind gleichgestellt (Nr. 86). Kein Überlegener hat das Recht, andere "irgendwie von sich abhängig machen" (Nr. 87; vgl. Nr. 124 und 125). Wer andere ungerecht bedrückt, zählt zu jenen Staatsgebilden, die mit Augustinus als "große Räuberbanden" zu bezeichnen sind (Nr. 92). Der "Einheit der menschlichen Schicksalsgemeinschaft" entspricht das universale Gemeinwohl, "welches die gesamte Menschheitsfamilie angeht." (Nr. 132) Technologische Fortschritte können "die Menschen der ganzen Erde zu immer größerer Zusammenarbeit und innerer Verbundenheit" führen (Nr. 130; vgl. Gaudium et spes Nr. 23,1).

Aktueller geht es heute - im Zeitalter der globalen Kommunikationsgesellschaft - wirklich nicht mehr. Katholisch sind somit nicht Antimodernismus oder Fundamentalismus. Katholisch ist - ganz auf der Höhe der Zeit - der Blick auf das Ganze und den Kurs einer durch Kommunikation nahe zusammengerückten Weltgesellschaft, welcher die ganze Menschenfamilie betrifft.

Hatte keiner eine Ahnung, wer er war?

Während des Konzils 1962-1965 bereitete sich Johannes XXIII. insgeheim schon auf seinen Tod vor und verriet dann als Vermächtnis: "Nicht das Evangelium ist es, das sich verändert; nein, wir sind es, die gerade anfangen, es besser zu verstehen." Als er im Sterben lag, sagte ein römisches Zimmermädchen zur Soziologin Hannah Arendt: "Gnädige Frau, dieser Papst war ein wirklicher Christ. Wie ist das möglich? Und wie konnte ein wirklicher Christ auf den Heiligen Stuhl zu sitzen kommen. … Hatte denn keiner eine Ahnung, wer er war?"

Könnte heute wieder ein "wirklicher Christ" auf den Stuhl Petri gelangen? Der Theologe Origenes (ca. 185-254 n.Chr.) schreibt in seinem Buch "Contra Celsum", herrschsüchtige Männer würden bei den Christen zu den Ämtern nicht zugelassen. Man zwinge vielmehr gerade jene ins Amt, die sich nirgendwo nach vorne drängen würden. Auch in den Ansprachen des 1980 ermordeten und von unten heiliggesprochenen Bischofs San Oscar Arnulfo Romero findet man viele Anregungen, von welcher Gesinnung ein "wirklicher Christ" als Papst sein müsste:

  • "Ich dachte immer, dass ich das Evangelium kenne, aber jetzt [als Zuhörer beim Bibelgespräch der Campesinos] lerne ich, es mit anderen Augen zu lesen."
  • "Das Volk ist mein Prophet." "Ich muss darauf hören, was der Heilige Geist durch sein Volk sagt." "Der Bischof muss viel von seinem Volk lernen."
  • "Ich habe Gott kennen gelernt, weil ich mein Volk kennen gelernt habe."
  • "Wenn sie [die rechtsextremistischen Handlanger der Reichen] uns vielleicht eines Tages das Radio genommen haben, […] und sie uns nicht mehr reden lassen, wenn sie alle Priester und auch den Bischof getötet haben werden […], dann wird jeder unter euch ein Botschafter und ein Prophet sein müssen."
  • "Wir können nicht autoritär reden, sondern wir müssen zum dialogischen Nachdenken im Licht des Evangeliums einladen."

Literatur und Medien