Eure Armut kotzt uns an!

Die öffentliche Stimmung richtet sich immer öfter nicht gegen die Armut - sondern gegen die Armen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wer in Berlin in einen Supermarkt geht, dem kann es passieren, dass ihm beseelte Freiwillige der Kampagne "Laib&Seele" auflauern. Diese Initiative für "Lebensmittelspenden", initiiert vom rbb und der evangelischen Kirche, gibt mehrmals im Jahr die Parole aus: "Eins mehr!" Supermarkt-Kunden sollen dann ein erworbenes Food-Produkt als Armenzehrung entbehren. Wie gut, dass zumindest eine dieser christlich Engagierten genau weiß, dass sich die Armen auch mit wenig zufrieden geben: "Kaufen Sie einfach eine Packung der billigsten Spaghetti, die es hier gibt, und spenden Sie sie uns!"

Mit denen, die den Armen helfen wollen, scheint das oft so eine Sache: Ihr Streben nach einer "gerechten" Gesellschaft verdeckt vielleicht ihre eigentliche Motivation. Diese besteht allzu oft leider wohl eher aus christlicher Genügsamkeit oder leidenswilligem Almosen-Sozialismus - oder aber daraus, aus dem Geschäft mit der Armut selber zu profitieren, wie die Armeen von Sozialarbeitern und anderen professionellen Kümmerern, die in diesem Tätigkeitsfeld aktiv sind. Die Doppelmoral offenbart auch das deutsche Stiftungswesen, das - wie etwa die "Aktion Mensch" - unter dem Deckmantel der Mildtätigkeit Behindertenarbeit im Niedriglohn-Bereich fördert.

Fast auf den Tag genau zum zehnjährigen Hartz-IV-Jubiläum segnete die Bundesregierung letzte Woche den neuen Armuts- und Reichtumsbericht ab - wie bekannt, in einer mehrmals inhaltlich redigierten Version (FDP schafft Armut in Deutschland ab - zumindest auf dem Papier).

In den Wochen zuvor beherrschte ein ähnliches Thema die Zeitungsseiten und wurde in mehreren Talk-Shows breit diskutiert: die Armutseinwanderung. Dabei wurde gerne mit "besorgniserregenden" Zahlen hantiert: Rund 160.000 Rumänen und Bulgaren seien 2011 laut statistischer Erfassung nach Deutschland gekommen, gegenüber dem Vorjahr eine Verdopplung. Am Rande wurde dann darauf hingewiesen, dass nur etwa die Hälfte davon auch in Deutschland geblieben ist. Nichtsdestotrotz gab der Deutsche Städtetag im Januar ein Positionspapier heraus, in dem er betont, dass die Armutszuwanderung ein erhebliches "Gefährdungspotential für den sozialen Frieden in den Quartieren" darstelle.

Präsident des Städtetages ist der Münchener SPD-OB Christian Ude, der bereits zuvor die Bürger seiner Stadt wörtlich zu "Unfreundlichkeit" gegenüber Bettlern aufforderte, um für diese die Innenstadt unattraktiv zu machen. In der Zeitschrift Städtetag aktuell (2/2013) wurde noch einmal nachgelegt: "Fälle von Bettelei führen zu Problemen in der Nachbarschaft."

Auf Druck des Innenministers Friedrich verzichtete die EU letzte Woche auf die weitergehende Freizügigkeit für osteuropäische EU-Bürger. Die Zahlen zur bedrohlichen Armut in Deutschland werden heruntergerechnet, die Zahlen zu den armen Einwandereren aus dem Ausland werden hochgerechnet. Eine merkwürdige Schizophrenie scheint es jedoch auch allgemein zu geben in der Wahrnehmung des Armuts-Themas durch die Mehrheitsgesellschaft.

Während die Politik kurz nach den Hartz-IV-Reformen noch betonte, es ginge darum, wieder allen Bevölkerungsteilen den Zugang zum Arbeitsmarkt und damit zur Wohlstandsgesellschaft zu eröffnen, so deutete sich seit dem Beginn der Finanzkrise das Eingeständnis der Eliten an, dass solch eine Vollbeschäftigung und universale Teilhabe wie zu früheren Zeiten gar nicht mehr möglich ist - schon gar nicht in Konkurrenz zu den "emerging markets" der BRIC-Staaten, die ihr rasantes Wirtschaftswachstum nicht auf Sozialstandards gründen.

Bildungspolitik wird zur Kampfzone zwischen Mittel- und Unterschicht

Seitdem setzt man ordnungspolitisch eher auf eine gezielte Förderung der bereits wohlhabenden Mittelschicht. Besonders von der diversen Unterstützung kinderreicher Familien profitieren nur die, die bereits über Einkommen verfügen. Die praktische Realisierung der Bildungsgutscheine dagegen scheitert in vielen Kommunen immer noch an der Bürokratie. Die Bildungspolitik wird offensichtlich immer mehr zur Kampfzone zwischen Mittel- und Unterschicht, wie vor einiger Zeit in Hamburg am massiven bürgerlichen Protest gegen die Abschaffung der Hauptschulen sichtbar wurde.

Durch die bundesweit eingerichtete größere Unabhängigkeit der Schulen - die damit zueinander in Konkurrenz traten - ist mittlerweile auch ein Kampf entbrannt um die besten Schüler. Schüler aus "Problemfamilien" und mit "Auffälligkeiten" gelten dagegen als Lernbehinderung für die anderen Schüler und zudem als betreuungs- und damit kostenintensiv. In Berlin-Prenzlauer Berg gibt es zumindest eine öffentliche Schule, die zur Einschulung die Anschaffung eines Apple-Laptop für 1000 Euro von den Eltern verlangt. Eine stärker werdende Selektion in Arm&Reich gibt es auch in anderen Problembereichen: Während sich die Kanzlerin persönlich dafür stark machte, Opfer der isländischen Pleite-Banken zu entschädigen, wird der Verbraucher- und Rechtsschutz für arme Konsumenten vernachlässigt.

Ein qualitativer Zugang zu Telekommunikation oder Internet ist für Menschen ohne geregeltes Einkommen quasi unmöglich. Die Prozesskostenhilfe etwa wurde in einigen Rechtsbereichen bereits eingeschränkt, weitere restriktive Neureglungen werden bereits vom Justizministerium erarbeitet - besonders betreffen wird dies ALG II-Empfänger und arme Rentner, aber auch Beschäftigte im Niedriglohn-Bereich, die sich ansonsten keinen Rechtsanwalt leisten könnten.

Sehr auffällig ist auch das Missverhältnis der Aufmerksamkeit im Heim- und Missbrauchsskandal: Der zahlenmäßig relativ geringe sexuelle Missbrauch in katholischen Einrichtungen wurde wochenlang zum medialen Top-Thema, umgehend wurden Hilfsfonds, Opferberatungen etc. eingerichtet. Betroffen vom Missbrauch waren vor allem Internatsschüler aus wohlhabenderen Familien. Die systematische Ausbeutung und Misshandlung von hunderttausenden Heimkindern in den Nachkriegsjahren dagegen fand erst mit jahrzehntelanger Verspätung den vereinzelten Weg in die Berichterstattung der großen Medien, obgleich der körperliche Schaden erheblich größere Ausmaße hatte und spätere Erwerbstätigkeit verhinderte. Diese Heimkinder entstammten fast ausnahmslos den unteren Schichten, hatten "gefallene" Mütter. Bis heute wurden zumeist gar keine, teils allenfalls symbolische Entschädigungen gezahlt.

Vom unkultivierten Anti-Bild der Mittelschicht

In Gänze betrachtet wirkt es, als hätte die Politik und auch die Mehrheitsgesellschaft die Unterschicht bereits komplett aufgegeben. In großen Teilen Mecklenburg-Vorpommerns gibt es nicht einmal mehr eine funktionierende Infrastruktur: Der ÖPNV wird ausgedünnt, Ärzte schließen ihre Praxen, Banken und Supermärkte ihre Filialen - es ist einfach zu wenig Kaufkraft vorhanden. Im Ruhrgebiet werden mittlerweile ganze Stadtteile abgerissen - kurioserweise dienten die verlassenen Straßen in den letzten Jahren als Drehorte für den ARD-Tatort.

Dafür, dass die neue Armut aber alleine in Deutschland Millionen von Menschen betrifft, kommt sie in den Medien nur sehr selten vor: Zwar wird gerne über die allgemeine Wohlstandsbedrohung durch den globalisierten Turbo-Kapitalismus diskutiert, die alltägliche Zerstörung von Millionen Biografien, die alleine durch Geldmangel verursacht wird, kommt aber nur randständig vor oder wird in stereotyper Dramaturgie aufgewärmt: sozialromantische Reportagen über nächtliche Flaschensammler, Mutmach-Dokus über alleinerziehende Mütter, die es irgendwie doch schaffen, oder die beiden ALG II-Empfänger, die ein populär gewordenes Hartz-IV-Kochbuch schrieben. Als sie vom Stern TV-Moderator gefragt wurden, ob man denn vom Regelsatz wirklich gut essen könne, wiesen diese darauf hin: "Süßigkeiten muss man sich natürlich verkneifen." Anerkennendes Klatschen danach vom Publikum für so viel Selbstdisziplin.

Massenhafte und dauerhafte Armut gehört mittlerweile also nicht nur ganz normal zu Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt - sie wird sogar instrumentalisiert, um der Wohlstands-Mittelschicht die Angst einzureden, wie schlimm es doch auch sie treffen könnte, wenn nicht die "alternativlose" Sparpolitik befolgt werde. Geradezu chic ist es mittlerweile geworden, von der Position des scheinbar aufgeklärten Menschen aus bestimmte Gruppen auszumachen, die angeblich mit steigender Gewalt die an sich friedliche Bundesrepublik bedrohen, da sie das unkultivierte Anti-Bild der Mittelschicht darstellen: Rockergruppen, Jugendliche mit Migrationshintergrund, Sinti und Roma.

Die Fakten interessieren aber nicht, wenn dieses Zerrbild gezeichnet wird: Die Hells Angels haben selbst laut BKA nur 1000 Mitglieder, die Jugendgruppen-Gewalt ging laut letztem Bericht des Innenministeriums stark zurück, die meisten Sinti und Roma in Deutschland und Europa leben völlig unauffällig und gehen bürgerlichen Berufen nach. Die politische und mediale Beschäftigung etwa mit diesen drei Personengruppen steht faktisch auch in keinem Verhältnis zum volkswirtschaftlichen Milliarden-Schaden, den andere Kriminelle verursachen. Beispielsweise fand in Berlin letzte Woche wieder mal eine Großrazzia in über zwanzig Arztpraxen statt, mehrere Ärzte wurden verhaftet. Der groß angelegte Abrechnungsbetrug ist laut Staatsanwaltschaft im Millionenbereich zu verorten.

Die Grenzen verlaufen nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen den Klassen

Der millionenschwere Reeder Peter Krämer sprach einmal in einem Interview davon, dass die Gruppe, die mit Abstand die größte politische Lobby hätte, die Reichen seien. In den letzten Jahren aber ist zudem eine Hetze gegen Arme salonfähig geworden. Der Publizist Matthias Matussek beispielsweise interpretierte den Hype um die ESC-Gewinnerin Lena dergestalt, dass nun endlich die "normalen" Jugendlichen der Mittelschicht aufbegehrten gegen die ständige öffentliche Konzentration auf Problemjugendliche aus Randbezirken.

Der alte linke Spruch, wonach die Grenzen nicht zwischen den Völkern verlaufen, sondern zwischen den Klassen, erfährt etwas verändert, neue Wahrheit: Die Mittelschicht verbündet sich quasi mit "denen da oben" gegen die "da unten" und am liebsten gegen die "ganz unten". Der barbarische Sexualmord an einer Studentin in Indien wurde im Nachklang immer mehr zu einer Kollektivtat der wirtschaftlich Abgehängten stilisiert. Die ARD berichtete von Rachetaten an Slumbewohnern. Die Mittelschicht der indischen Kasten-Gesellschaft demonstrierte zu Hunderttausenden gegen die Ungerechtigkeit gegenüber Frauen - nicht aber gegen die in fast ganz Asien barbarische Armut und soziale Ausgrenzung, die doch erst die patriarchalisch-gewalttätigen Strukturen aufrechterhält und einen Ausbruch aus der Armut für Frauen und Männer unmöglich macht.

Theodor W. Adorno formulierte einmal einen pessimistischen Satz zur mangelnden Widerständigkeit der Armen: "Und sei ihr eigenes Schicksal auch das Schlimmste: Sie erkennen es als das ihre an." Die heutige Gesellschaft in der Krise ist anscheinend gänzlich zurückgekehrt zu solch einer Wahrnehmung der Unveränderbarkeit von sozialen Gegebenheiten und zu einem "anthropologischen" Klassenkampf von oben gegen unten: Selbst seriöse Medien reden mittlerweile von "Hartz IV-Charakteren", als ob der Charakter eines Menschen alleine durch den ökonomischen Stand in der Konkurrenzgesellschaft sichtbar wird.

Jegliche kritische Betrachtung der gesellschaftlichen Zurichtung der Individuen, wie sie Freud, Marx, Benjamin, aber auch die Pop-Kulturen der 70er oder 80er vornahmen, scheint vergessen. In der sozialen Frage gilt vermehrt wieder der Biologismus: oben ist oben, unten ist unten, und so bleibt es für immer. Oder wie es ein chinesischer Milliardär vor kurzem einem "Tagesthemen"-Reporter ins Mikrofon sprach: "Wer nicht reich ist, ist faul."

Und wenn man den faulen Armen dann doch mal Geld gibt, dann geben sie es nur für Alkohol und Fast Food aus, wie Sigmar Gabriel in der Debatte um die Bildungsgutscheine meinte. In der Debatte um die Krankenversicherung in den USA wiesen Gegner der staatlichen Krankenversicherung gerne darauf hin, dass die Ausgaben in die Höhe schnellen würden, wenn auch bisher Nicht-Versicherte aus der rauchenden und Fast Food-affinen working class umfassend behandelt würden. So wird dann in der öffentlichen Kampagne gegen die Armen ein Ressentiment durch ein anderes scheinbar argumentativ unterstützt.

Auch die Unterhaltungs-Industrie hat die Armen längst als plakative Opfer entdeckt: Hartz IV-Witze bringen nicht nur Stefan Raab in "TV Total" immer die erfolgreichsten Lacher des Publikums ein. Eine sehr seltene Stimme der Vernunft im Comedy-Schwachsinn war da fast nur der Kabarettist Wilfried Schmickler. Er gab auf der Neuauflage des "Arsch huh, Zäng ussenander"-Konzerts in Köln Ende letzten Jahres das Gedicht "Wat normal is" zum Besten:

"Wenn die Reichsten den Ärmsten Kredite geben -
Zum Sterben zu viel und zu wenig zum Leben.
Wenn sie dann, kurz bevor diese Ärmsten verrecken
Ganz schnell noch die Pfändungsbescheide vollstrecken.

Wenn die Schleuser und Schlepper die Hoffnung verkaufen,
Und die Käufer in schwimmenden Särgen ersaufen.
Wenn die Mörder ihr Gewissen in den Brieftaschen tragen
In Hochsicherheitstrakten mit Selbstschussanlagen

Wenn die Räuber und Diebe dann endlich verschwinden,
Weil sie nirgends mehr etwas Verwertbares finden.
Wenn dann keiner die Taten der Täter beklagt,
Und schon gar keiner mehr nach den Opfern fragt.

Dann ist das alles in allem völlig normal."