EU-Frühjahrsgipfel beharrt auf gescheiterter Sparpolitik

Während in den USA führende Ökonomen und der britische Premier Cameron mit FT-Kolumnist Wolf öffentlich über die richtige Balance zwischen Sparkurs und wirtschaftlichem Aufschwung streiten, verharrt der Frühjahrsgipfel der 38 EU-Staaten jenseits der ökonomischen Realität

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Die Folgen der Ignoranz realwirtschaftlicher Sachverhalte durch die europäische Politik lässt mittlerweile zwar auch das offizielle Europa Volksaufstände befürchten, über die bereits gescheiterten Pläne hinaus wird indes nicht nachgedacht. Das lässt sich vielleicht noch damit entschuldigen, da die dafür zuständige Wissenschaft, die Ökonomik, hier ebenfalls in einem dogmatisch verformten Diskussionsprozess feststeckt, was zur Folge hat, dass sich für jede denkbare Wirtschaftspolitik Ökonomen finden, die diese Befürworten oder ablehnen.

Während im deutschsprachigen Raum diese eminent wichtige Frage aber eher auf Wirtshaus-Niveau diskutiert wird, gönnen sich in den USA führende Ökonomen mittlerweile einen öffentlichen Schlagabtausch, der spätestens dann auch mit sachlichen ökonomischen Argumenten geführt wird, wenn er in der sehr lebhaften "econoblogosphere" angekommen ist, etwa hier und hier. Zuletzt hatte sich dabei Spar-Befürworter Jeffrey D. Sachs (gemeinsam mit dem republikanischen Politiker und MSNBC-Kommentator Joe Scarborough) in der Washington Post ("Deficits Do Matter") voll auf den führenden Schuldenbefürworter Paul Krugman eingeschossen.

Sachs, der intellektuell wohl Hauptverantwortliche für das Desaster mit der "marktwirtschaftlichen Schocktherapie" nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, argumentiert dabei gegen die "keynsianische" Auffassung, dass "Schulden keine Rolle spielen", weil "in the long run we're all dead" ("langfristig sind wir alle tot"). Diese unterstellt er Krugman und auch John Maynard Keynes, dem diese Zitate zugeschrieben werden. Sachs argumentiert mit dem Verweis auf Keynes' Forderung, nur in Krisenzeiten Staatsdefizite zuzulassen und diese in Boom-Zeiten abzubauen, was ja nicht nötig wäre, würden die Staatsschulden tatsächlich keine Rolle spielen. Darüber hinaus hätten die US-Konjunkturpakete (bestehend aus 699 Mrd.$ an zeitweiligen Steuersenkungen und Transferzahlungen und 88 Mrd. $ an direkten Staatskäufen), die ab 2009 geschnürt wurden, die öffentliche Verschuldung signifikant erhöht, aber nur sehr wenig dazu beigetragen, die langfristigen Beschäftigungs- und Wachstumsprobleme zu lösen.

Anstatt kurzfristig Geld in die Wirtschaft zu pumpen, wie Krugman fordert, der zudem meint, dass die aktuelle Misere der USA daraus resultiert, das die bisherigen Konjunkturpakete zu niedrig und nicht zu hoch ausgefallen seien, will Sachs langfristige Investitionen in Infrastruktur und Berufsausbildung, die wie der öffentliche Autobahnbau der 1950er Jahre auf Zehnjahresssicht und nicht, so wie die aktuellen Programme, auf zwei Jahre ausgelegt sein sollte.

Individuell rationales Sparverhalten führt in der jetzigen Krise volkswirtschaftlich zu einer Katastrophe

Krugman antwortete in seiner NYT-Kolumne mit einem Verweis auf seine schon "vor Ausbruch der Krise sehr weit entwickelten Ansichten zur Keynesschen Liquiditätsfalle" - eine Krisensituation, in der die herkömmliche Niedrigzins-Geldpolitik versagt, weil der Privatsektor auch zu Nullzinsen Schulden eher ab- als aufbaut. Dies habe ihn zu Voraussagen über Zinsen, den Effekt einer großen Ausdehnung der monetären Basis und über die Höhe des fiskalischen Multiplikators geführt, die damals stark von den Erwartungen des ökonomischen Mainstream abwichen, sich inzwischen aber klar bestätigt hätten. Jedenfalls dürfe in einer derartigen makroökonomischen Krise laut Krugman keine Analogie zwischen Privathaushalten und Volkswirtschaft gezogen werden, da sich individuell rationales (Spar-) Verhalten zu einem katastrophalen Ergebnis summieren könne.

In der aktuellen Lage müsse einer damit anfangen, Geld auszugeben, und das können, wenn Haushalte und Unternehmen sparen, nur die Regierungen sein. In dieser Situation sei der "Multiplikator" der Staatsausgaben (d.h. zu wie viel zusätzlichem BIP die zusätzlichen Staatsausgaben führen) zudem ausgesprochen hoch. Das hatte sich gerade bei den Ausgabenkürzungen der europäischen Krisenländern klar gezeigt, da der IWF zugeben musste, dass dieser Multiplikator fast dreimal so hoch ausgefallen war, als vom IWF erwartet. Bei hohen unausgelasteten Produktionskapazitäten und Null-Zinsen für kurzfristige Staatsschulden sei es zudem möglich, diese zu monetarisieren, d.h. von der Notenbank finanzieren zu lassen, ohne steigende Inflationsraten zu riskieren (wie sich ebenfalls bereits aus den Statistiken ablesen lässt).

Sachs, der 2004 und 2005 vom Time Magazin zu den 100 einflussreichsten Menschen der Welt gezählt wurde, disqualifiziert sich selbst zwar unter anderem mit dem Lapsus, als Link ) zu der Krugman unterstellten Behauptung, Schulden spielten keine Rolle, ein Quelle anzugeben, in der Krugman genau dieser Behauptung entgegentritt und auf die aktuelle Krisensituation beschränkt (wobei Krugman übrigens gegen die Modern Monetary Economics argumentiert, denen er diese Aussage seinerseits unfair unterstellt). Aber wenngleich Krugmans Argumentation teilweise durchaus diskussionswürdig erscheint, wurden seine Überlegungen, die übrigens auch von der hier gerne vertretenen saldenmechanischen Sichtweise bestätigt werden, von der ökonomischen Realität inzwischen eindrucksvoll bestätigt.

Cameron hält am Sparprogramm fest

Während dies inzwischen auch einstmals scharfe Gegner wie der IWF zugeben müssen, tun sich als Sparmeister in Europa bekanntlich weiterhin vor allem Angela Merkel und der britische Premier David Cameron hervor, der sich dahingehend gerade in einer heftigen Debatte mit FT-Kolumnist Martin Wolf wieder findet. So verteidigte er in einer 4000 Worte Blut- und Tränen-Rede zur Lage der Wirtschaft seine Sparpolitik u.a. mit dem Hinweis, dass es keinen "magischen Geld-Baum" gebe und ohne weiteres Sparen die Zinsen steigen, Häuser versteigert und Unternehmen pleite gehen würden. Hingegen ortet Cameron erste Erfolge des 2010 eingeführten Sparprogramms, das das Budgetdefizit um ein Viertel verringert und die Zinsen auf rekordtiefes Niveau gedrückt hätte. Er tritt dafür ein, die Staatsausgaben weiter zu reduzieren und die Konjunkturbelebung allein einer super-lockeren Geldpolitik zu überlassen, wobei für das niedrige britische Wachstum ausschließlich die Finanzkrise, die Probleme der Eurozone und der Ölpreisanstieg verantwortlich sei. Es wäre "absolut klar, dass das Sparprogramm nicht dafür verantwortlich ist".

They say that our focus on deficit reduction is damaging growth. And what we need to do is to spend more and borrow more. It's as if they think there's some magic money tree. Well let me tell you a plain truth: there isn't. (…) If we don't deal with the debt problem interest rates will rise, homes will be repossessed and businesses will go bust…

Cameron

Wolf tritt Cameron mit dem Argument entgegen, dass einerseits dieser Baum in der Form der Bank of England existiere und eine solvente Regierung mit eigener Währung daher jederzeit Schulden machen könnten, ohne die Zinsen steigen zu lassen, was Japan und die USA beweisen würden.

(Cameron) is quite wrong. First, there is a money tree, called the Bank of England, which has created £375bn to finance its asset purchases. Second, like other solvent institutions, governments can borrow.

Wolf

Cameron möge sich ausrechnen, was passieren würde, wenn - wie Cameron selbst sagt - Unternehmen, Banken und Haushalte die höchste Verschuldung der Welt vorweisen und sparen müssten und dies auch die Regierung tue, deren Ausgaben noch dazu einen wesentlich höheren Anteil am BIP hätten wie in den USA. Nämlich genau das, was die Statistiken zeigen. So lag die jüngste Herbstprognose des Office for Budget Responsibility für das BIP des Fiskaljahres 2013/14 um 6,3 Prozent unter ihrer Prognose von Juni 2010, als das Sparprogramm verkündet wurde. Der öffentliche Finanzierungsbedarf bis 2016 wurde zu diesem Zeitpunkt indes noch auf 322 Milliarden Pfund geschätzt, während es in der jüngsten Herbstprognose bereits 462 Milliarden waren, was klar ist, da damals das BIP-Wachstum für diesen Zeitraum mit insgesamt 8,3 Prozent erwartet wurde, während es in der letzten Herbstprognose bescheidene 1,5 Prozent waren.

Wolf, Cameron, Sachs und Krugman sind sich allerdings einig, dass öffentliche Investitionen vor allem direkt in öffentliche Infrastruktur und Bildung fließen sollten und weniger in Steuersenkungen und höhere Transferleistungen, die vor allem zur Schuldenreduktion verwendet und folglich einen geringen Multiplikator aufweisen würden. Dass derartige Programme direkt von der Notenbank finanziert werden könnten, d.h. ohne die Regierung mit Staatsschulden zu belasten, haben bislang allerdings erst Wolf und die New Monetary Economics offen zu fordern gewagt, wobei angesichts des kommenden BoE-Chefs, dem Ex-Goldman Sachs Direktor Mark Carney, dem traditionelle geldpolitische Hemmungen fremd sein dürften, derartige Maßnahmen der BoE wohl auch niemand mehr überraschen sollten.

Das deutsche monetäre Experiment

Für den Euroraum scheint es derzeit indes undenkbar, dass Merkel auch nur eine Diskussion über direkte Infrastrukturfinanzierungen durch die EZB zulassen würde, was offenbar an den beiden deutschen Inflationszeiten nach den Weltkriegen liegt. Vergessen wird dabei, das Deutschland dazwischen das von Notenbanker Hjalmar Schacht ersonnene und weltweit als einziges erfolgreiche monetäre Experiment mit direkter Notenbankfinanzierung von Infrastrukturinvestitionen hinter sich gebracht hatte (mehr dazu hier). Das war freilich unter Hitler geschehen, der zwar mit Parolen wie dem "Brechen der Zinsknechtschaft" und "Verstaatlichung der Banken" angetreten war, dann aber – auf Basis absoluter Unkenntnis monetärer Ökonomie – die Geld- und Wirtschaftspolitik in die Hände des Technokraten Schacht gelegt hatte, der schon die Krise der ersten Inflationszeit beendete.

Schacht finanzierte neue Autobahnen und die aus Geldmangel in Städten und Gemeinden liegen gebliebene Projekte mit so genannten Mefo-Wechseln, die jederzeit von der Notenbank diskontiert wurden.. Die Wechsel hatten somit Geld-Charakter, weil laut Schacht (wie bei den traditionell von Notenbanken bevorzugten Warenwechseln) ausschließlich reale Geschäfte finanziert wurden. Die Geldmengenausweitung entsprach zudem dem Wachsen der Wirtschaftsleistung, weshalb keine Inflationsgefahr bestanden hat. Sie wurden zudem verzinst, weshalb nur rund die Hälfte davon zum Diskont eingereicht wurde. Laut Schacht hätten die Wechsel nach fünf Jahren auch problemlos aus den Steuereinnahmen getilgt werden können, nur hätte Hitler dies verweigert, da er die Gelder für die Kriegsführung benötigte. Schacht legte daraufhin seine Ämter zurück und wurde bei den Nürnberger Prozessen übrigens freigesprochen, obwohl er durch seine effektive Geldpolitik vielleicht den größten Anteil am Fortdauern der Nazi-Herrschaft hatte.

Wenn aber wie im Deutschland des Jahres 1934 umfangreiche öffentliche Investitionen ohne Erhöhung der Staatsschulden das Ziel sind, bleibt in der gegebenen Situation eben nur das Ausland oder die Notenbank als Finanzier, in der EU wird dies indes anders gesehen. Wie Kommissionspräsident José Manuel Durão Barroso nach der jüngsten Ratssitzung verlauten ließ, werde in Europa aber weiterhin Wachstum durch bessere Wettbewerbsfähigkeit bzw. Produktivitätssteigerungen angestrebt, was bezogen auf die gesamte EU ökonomisch folglich nur über eine Steigerung der Konkurrenzfähigkeit gegenüber den anderen Kontinenten erfolgen kann. Zur Mittelaufbringung verweist er noch auf Cameron, der in seinem Referat den weiteren Abbau von Handelsschranken und Anstrengungen zur Verhinderung von Steuervermeidung gefordert hatte.

Die "Reformen" (d.h. die öffentlichen Sparprogramme) müssten jedoch weitergehen, womit unter der Voraussetzung, dass auch Unternehmen wie Haushalte weitersparen, der weitere konjunkturelle Abstieg der Eurozone nur von den Exporten aufgehalten werden könnte. Dazu müssten die Sparmaßnahmen tatsächlich zu steigender internationaler Wettbewerbsfähigkeit führen, was derzeit kaum zu beobachten ist, und - wie es bereits durch den Kursanstieg seit vergangenem Sommer erfolgt ist - locker von einem Ansteigen des Euro-Wechselkurses zunichte gemacht werden könnte.