Der kaiserliche Konkneipant und die blitzgescheite Sau

Im Januar 1919 wurde die revolutionäre Sozialistin Rosa Luxemburg ermordet. Nur wenige Monate zuvor musste der letzte deutsche Kaiser Wilhelm II. abdanken.

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Zwei vollkommen unterschiedliche Persönlichkeiten einer längst vergangenen, brandaktuellen Epoche des Aufbruchs, der extremen gesellschaftlichen, kulturellen wie politische Spannungen.

Es war der 28. Dezember 1918 als Harry Graf Kessler die kaiserlichen Privatgemächer des Berliner Stadtschlosses besichtigte, um ein persönliches Urteil über den vor gerade einmal einem Monat ins Exil geflüchteten Hausherren zu fällen. Doch wer war dieser Mensch eigentlich?

Wilhelm Prinz von Preußen wurde am 27. Januar 1859 in Berlin geboren. Es folgte die bekannte tragische Geschichte vom sensiblen Prinzen mit dem verkrüppelten Arm in einer Zeit als Männlichkeit männlichstes Selbstverständnis, als Erziehung weniger Sache enttäuschter Mütter als vielmehr die calvinistisch-kalter Hinzpeters war. Georg Ernst Hinzpeter, Doktor der Philosophie wie der klassischen Philologie, disziplinierte den kaiserlichen Prinzen seit dessen siebtem Lebensjahr auf Anordnung der Mutter, Kronprinzessin Victoria. Diese schätzte die rigorosen Erziehungsmethoden Hinzpeters als Ausgleich für die von ihr als schweres Defizit wahrgenommene Behinderung ihres Sohnes, für die sie sich persönlich mitschuldig fühlte.

Wilhelm II. schon als Kind an Bord eines Schiffes

Wilhelm durfte die historischen Siege seiner Dynastie über die Habsburgermonarchie, später über Frankreich miterleben. Mit zehn wurde er Kadett des 1. Garde-Regiments zu Fuß. Disziplin, Strenge, Kaschieren, Haltung, dazu noch das Gefühl des Andersseins, des Besonderen, der Großartigkeit. Der Junge sollte schließlich eines Tages Kaiser werden. Der Kaiser. Monarch einer Epoche die nach ihm selbst benannt werden sollte.

Eine gänzlich anderes Leben

Fast exakt die Eckdaten des Zweiten Kaiserreiches decken Geburts- und Mordjahr einer ganz anderen Persönlichkeit ab. Im Jahr der Kaiserproklamation 1871 in Russischpolen geboren, erblickte Wilhelms direkter Gegenentwurf das Licht der Welt. Jüdisch, klein, nicht hübsch, blitzgescheit und eine Frau. Aber auch bei ihr durfte die Behinderung nicht fehlen. Ein schlecht behandeltes Hüftleiden zwang sie zeitlebens zum Hinken. Rosa Luxemburg - die lebende Ausnahme.

Als Fünfjährige musste sie aufgrund ihres Leidens ein Jahr das Bett hüten und brachte sich selbst Lesen und Schreiben bei, als Neunjährige übersetzte sie deutsche Gedichte ins Russische und versandte selbstgeschriebene in Russisch an eine Zeitschrift. In Warschau durfte die dreifach Geschlagene - als Mädchen, Polin in der russischen Provinz und Jüdin - aus einer mittelständischen Bürgerfamilie das Zweite Mädchengymnasium besuchen und lernte dabei auch, was Unterdrückung wirklich bedeutete. Die in Polen wütende russische Spitzel- und Terrorpolitik unter den Zaren Alexander II. und III. hinterließen Spuren und schärften den sozialen Gerechtigkeitssinn der jungen Luxemburg.

Rosa Luxemburg (1915). Bild: Deutsches Bundesarchiv (Bild 183-14077-006). Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Später wurde sie Mitglied des "II. Proletariats", engagierte sich fleißig und eignete sich ein fundiertes theoretisches Wissen über das Werk Karl Marx' an. Als 1889 die Massenverhaftungen auch sie bedrohten, sah sich Luxemburg zur Flucht gezwungen - unter einer Fuhre Stroh setzte sie sich abenteuerlicherweise nach Zürich ab.

Das Züricher Klima tat der Exilantin gut. Es herrschte Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Nicht ohne Begeisterung schrieb später Paul Fröhlich, SED Politbüro- und Zentralkomiteemitglied, von den hitzigen Diskussionsrunden der zahllosen polnischen und russischen Emigranten, denen Luxemburg allerdings fern blieb. Die Praktikerin hatte kein Interesse am ins Leere laufenden Dauerdisput, widmete ihre Zeit lieber dem Studium der Mathematik und Philosophie, der Volkswirtschaft und dem Öffentlichen Recht, nebenbei noch der Astronomie, der Botanik, der Zoologie.

Die junge Marxistin war stark interessiert an der Durchsetzung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung und kam so in Kontakt mit Leo Jogiches, dieser "zur Person gewordenen Konspiration". Nicht ihr einziger, aber wohl der bedeutendste Geliebte. Gemeinsam strebten sie die Unabhängigkeit Polens an.

Die "Vollendung" des Prinzen Wilhelm

Eine ähnliche Vielfalt und -zahl an Fächern tat sich auch Prinz Wilhelm in Bonn an. Seit 1877 studierte er an der dortigen Universität vier Semester lang Staats- und Völkerrecht, Nationalökonomie, Philosophie, Kunstgeschichte, Germanistik, Archäologie, allgemeine Geschichte, Physik und Chemie.

"Es bedarf wohl für Sie nicht besonderer Erwähnung oder Betonung, welche Gefühle Mein Herz durchzittern, wenn Ich Mich im lieben Bonn wieder unter Studenten finde!", kommentierte der spätere Kaiser Wilhelm II. 1901 während eines Festkommerses in der Beethovenhalle ehrlich bewegt.

Doch darf man dieses Zitat nicht falsch verstehen. Denn es war weniger das Studieren, das Lernen und Arbeiten, was Wilhelm sein Lebtag nicht vergessen konnte. Nein, der "Bummler und Tagedieb" (Mutter Victoria) schwärmte zeitlebens für die Bonner Borussen. Einem exklusiven Korps, dem er gleich nach seiner Ankunft in Bonn beigetreten war - allerdings nur als Konkneipant. Mittrinken war mehr als erlaubt, Mensuren schlagen dafür umso weniger. Daran hinderten königliches Blut und königliche Behinderung.

Prinz Wilhelm als Student in Bonn

Interessanterweise pries er später dennoch die "stählende" Wirkung, die von der Mitgliedschaft in einer schlagenden Verbindung ausgehe. Das sei "die beste Erziehung, die ein junger Mann für sein späteres Leben bekommen" könne. Eine ähnlich bierselige, kraftmeierische Atmosphäre konnte er anschließend noch einmal genießen.

Denn "vollenden" durfte Wilhelm seine Erziehung im Offizierskorps des 1. Garde-Regiments, indem er den "Geist von Potsdam" tief inhalierte. "Nicht Universalität, sondern Einseitigkeit der Bildung macht schneidig für den Zweck", sagte Generalfeldmarschall von Roon einmal. Jetzt, zu Wilhelms Zeit, war von dieser Bildung nur noch das Schneidigsein übrig geblieben.

Kaiser Wilhelm II. (mitte) an Bord der SMY Hohenzollern, 1908. Bild: Deutsches Bundesarchiv (Bild 183-R03954). Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Auch wenn dies alles ein eher zweifelhaftes Licht auf den Kronprinzen wirft, war Wilhelm doch keinesfalls dumm. Jedenfalls brachte er alle Eigenschaften mit, die man von einem Großrepräsentanten erwarten kann: Seine Zeitgenossen sprachen von seiner "großen Lebhaftigkeit, auch in der Auffassung", seinem Interesse für Archäologie wie für die moderne Technik, seiner nervösen Unruhe, die der "Reisekaiser" das gesamte Jahr lang ausleben durfte, seiner Begabung für das Blenden, das Imponieren trotz nur minimalen Wissens. Und gerade das war es auch, was ihn von Luxemburg unterschied. Denn auch wenn beide mühelos Fremdsprachen parlieren wie auch in ihnen Reden halten konnten, so wäre doch der eine niemals an die Brillianz der anderen herangelangt, welche sich auf ein detailliertes und umfassendes Wissen um den Gegenstand gründete.