Verdrehte Geschichte der Intoleranz

Vor 1597 oder 1598 Jahren zerstückelte ein christlicher Mob die Mathematikerin Hypatia

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Vorstellungen von Christen stimmen häufig nicht mit wissenschaftlichen Erkenntnissen überein. Das gilt nicht nur für die Evolution und die Schöpfungslehre, sondern auch für die Geschichte der Antike.

In der traditionellen christlichen Schilderung dieser Zeit verfolgen Nero und andere Kaiser Christen, die massenhaft als Märtyrer sterben, bis Konstantin 312 unter dem Zeichen des Kreuzes siegt und dem eine Ende setzt. Dann schaffen die Christen Gladiatorenkämpfe ab und die alten vergöttlichten Wirkkräfte verschwinden ebenso wie die neuen Mysterienkulte aufgrund eines überzeugenderen Angebots der Kreuzesreligion von ganz alleine.

Hypatia, gemalt von Charles William Mitchell (1854–1903). So sah die bei ihrem Tod etwa Sechzigjährige, von der keine zeitgenössischen Bildnisse existieren, wahrscheinlich nicht wirklich aus.

Tatsächlich gab es jedoch außerhalb der Massenhinrichtung nach dem Brand Roms im Jahre 64 und Galerius' vergeblicher Eindämmungsversuche 303 bis 311 nur verhältnismäßig wenige antike Christen die wegen ihrer Überzeugungen sterben mussten - und diejenigen, die dies taten, legten es fast immer darauf an, indem sie öffentlich zur Verweigerung des Staatskults aufriefen, der im Römischen Reich in etwa dem heutigen Bekenntnis zur Verfassungstreue entsprach.

Dafür waren nicht nur die (dafür bekannten) Donatisten, sondern auch andere frühe Jesusanhänger zu einen beträchtlichen Teil gewaltbereite Fanatiker, die sich nicht mit einem Nebeneinander von Christen und Nichtchristen zufriedengaben, sondern dem, was sie als "Heiden" schmähten, keinen Fußbreit Platz lassen wollen. Die militante Intoleranz führte bereits lange vor der Katharerverfolgung und dem Dreißigjährigen Krieg zu zahlreichen blutigen Auseinandersetzungen zwischen christlichen Bekenntnissen. Der Universalhistoriker Will Durant schätzt, dass bei Unruhen zwischen Arianern und Nicäern alleine in Alexandria in den Jahren 342 und 343 mehr Menschen ums Leben kamen als bei allen Christenverfolgungen im Römischen Reich.1

Patriarch Kyrill.

Besonders eindrucksvoll sichtbar wird die frühchristliche Gewaltbereitschaft am Schicksal der Mathematikerin und Philosophin Hypatia, die ein empörter christlicher Mob im März 415 oder 416 in eine Kirche in Alexandria zerrte, dort auszog und ihren Körper mit Dachziegeln zerteilte. Den Aufschrei, der zur Ermordung Hypatias führte, löste der Präfekt Orestes aus, der es wagte, den Mönch Ammonios töten zu lassen, nachdem dieser ihm während einer gewalttätigen Demonstration mit einem Stein am Kopf verletzte.

Ammonios war ein fanatischer Anhänger des alexandrinischen Patriarchen Kyrill, der mit Orestes aneinandergeraten war, nachdem er die Vertreibung der Juden aus der damaligen ägyptischen Metropole angeordnet hatte. Mutmaßlich, um zu zeigen, wer der wahre Herr der Stadt ist, rächten Kyrills Anhänger den Tod des Ammonius an der "heidnischen Zauberin" Hypatia. Die war zwar keine religiöse Würdenträgerin, sondern lehrte Mathematik und neuplatonische Philosophie, aber viele Christen waren Anfang des fünften Jahrhunderts relativ großzügig beim Verteilen der Zuschreibungen "Heiden", "heidnisch" und "Zauberei". Außerdem rechtfertigte man ihre Tötung damit, dass sie eine geistige Brandstifterin gewesen sei, die auf den angeblichen Krypto-Heiden Orestes einen hetzerischen Einfluss ausgeübt habe.

In der christlichen Überlieferung nahm man sich diesem Gewaltakt möglicherweise zum Vorbild für die Legende von der Heiligen Katharina, bei der die Rollen von Christen und Heiden vertauscht wurden: In dieser erfundenen Erzählung lässt der römische Kaiser Maxentius, der von 306 bis 312 herrschte, eine wortgewandte Alexandrinerin gegen 50 "Meister der Grammatik und Rhetorik" debattieren, die Katharina dabei allesamt vom Christentum überzeugt. Dies erzürnt den Vorgänger Konstantins so, dass er die Philosophen verbrennen und die heutige katholische Schutzpatronin der Schulen und philosophischen Fakultäten foltern und enthaupten lässt. Lediglich der Legendenteil, dass ein Engel das kaiserliche Folterwerk "mit großer Ungestümigkeit [zerstörte], daß viertausend Heiden davon erschlagen wurden", lässt noch ein wenig davon erahnen, wie die Opfer- und Täterrollen damals wirklich verteilt waren.

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