Zwischen "Elite" und Prekariat soll es fünf weitere Klassen geben

Eine Studie führt nach einer multidimensionalen Befragung ein neues Schichtenmodell der britischen Gesellschaft ein, das Fragen aufkommen lässt

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Eine große Umfrage von der BBC soll begründen, warum man jetzt davon sprechen kann, dass es nicht mehr die drei üblichen Klassen - sozioökonomische Arbeiter-, Mittel- und Oberschicht - geben soll, sondern sieben. Während die Einkommens- und Vermögenskluft weiter auseinander geht, sollen also die Schichten oder Klassen zwischen dem Prekariat und einer superreichen Elite ausdifferenziert werden. Das macht die Kluft dann weniger tief und lässt die Gesellschaft ausgeglichener erscheinen.

161.400 Briten haben an dem Great British Class Survey teilgenommen. Die Online-Umfrage, bei der jeder mitmachen konnte und die deshalb nicht repräsentativ ist, wurde vom Januar bis zum Juli 2011 von der BBC durchgeführt und gilt als die bislang größte zum Thema der sozialen Schichten. Allerdings nahmen überdurchschnittlich viele aus der höheren Bildungsschicht daran teil, weswegen sie eigentlich keine Einsicht in die britische Gesellschaft gewährt. Die in der Zeitschrift Sociology veröffentlichte Studie des wissenschaftlichen Teams unter der Leitung von Mike Savage von der London School of Economics und Fiona Devine von der University of Manchester hat die BBC-Umfrage deshalb mit einer parallel ausgeführten repräsentativen Umfrage bei 1026 Briten ergänzt oder überhaupt erst valide gemacht.

Die Klassenzugehörigkeit wurde nicht mehr allein nach Art der Tätigkeit, des Vermögens und der Bildung bestimmt, sondern, angeregt durch den Soziologen Pierre Bourdieu, nach wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Bedingungen oder "Vermögen" (capitals). Gefragt wurde etwa, wie groß das Haushaltseinkommen ist, ob Immobilieneigentum vorhanden und wie viel es wert ist und wie viel gespart wurde (wirtschaftliches Kapital), aber auch welche politischen Ansichten man hat, welche Menschen man kennt (soziales Kapital), welche Freizeit- und Kulturinteressen oder welche Essensvorlieben man hat (kulturelles Kapital). Mit letzterem sollte bestimmt werden, ob man der neuen Kultur (Computerspiele, Hip Hop etc.), der Populär- oder Hochkultur zugehört. Dass man mit solchen Ausdifferenzierungen praktisch beliebige viele "Klassen" unterteilen kann, liegt auf der Hand. Nach den neuen Kriterien würden nur noch 39 Prozent der Menschen in die traditionellen Kategorien der Arbeiter- und Mittelschicht fallen, die Arbeiterschicht wäre auf einen Anteil von 14 Prozent geschrumpft und weist auch mit 66 Jahren das höchste Durchschnittsalter auf. Stirbt die Arbeiterschicht aus, so könnte man fragen, ist dann auch der Kapitalismus Marxscher Prägung ad acta zu legen?

Aus den drei Achsen des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Kapitals sollen nach einer latenten Klassenanalyse sieben Schichten in der britischen Gesellschaft vorhanden sein. Die Wissenschaftler beziehen sich auf vorhergehende Modelle, die bereits sechs oder sieben Schichten nach unterschiedlichen Kriterien ausfindig gemacht hatten. Für sie ist vor allem der Umstand interessant, dass sich zwischen Prekariat oder Proletariat und der Mittelklasse weitere Schichten finden, die sich möglicherweise auch selbst weder dem Prekariat noch der Mittelschicht zuordnen würden.

Die sieben Klassen oder Schichten werden von Wissenschaftlern so benannt und definiert:

  • Elite (6 Prozent): das höchste Vermögen (89.000 Pfund Haushaltseinkommen, 142.000 Pfund Sparguthaben, 325.000 Pfund Immobilien) , hohes soziales Kapital, sehr hohes kulturelles Kapital (Hochkultur)
  • Etablierte Mittelklasse (25 Prozent): die größte Schicht ist am zweitreichsten (47.000, 26.000, 176.000) und hat hohes soziales und kulturelles Kapital
  • Technische Mittelklasse (6 Prozent): eine neue vermögende Schicht (37.000, 65.000, 163.000), die aber geringes soziales (wenige Kontakte, aber gut statusmäßig vernetzt) und kulturelles Kapital aufweist
  • Neue wohlhabende Angestellte (15 Prozent): eine aus jungen Menschen bestehende Schicht mit einem mittleren wirtschaftlichen Kapital (29.000, 5.000, 128.000), sozial und kulturell aktiv, nicht viele, aber sozial hohe Kontakte, eher auf neue Kultur ausgerichtet.
  • Traditionelle Arbeiterklasse (14 Prozent): geringes wirtschaftliches Kapital (13.000, 9.500, 127.000), kaum Ersparnisse, aber relativ gute Immobilien, wenige soziale Kontakte, geringes kulturelles Kapital
  • Neue Dienstleister (19 Prozent): eine neue, urbane und relativ junge Schicht mit geringem wirtschaftlichen Kapital (21.000, 1000, 18.000), aber mittlerem Einkommen, soziales Kapital ist ebenfalls im mittleren Bereich, kulturelles Kapitel hoch bei neuer Kultur.
  • Prekariat (15 Prozent): die ärmste Schicht (8.000, 800, 27.000), die auch die geringsten Werte für soziales und kulturelles Kapital aufweist

Die "neuen Dienstleister" und die "neuen wohlhabenden Angestellten" seien vermutlich mit der Deindustrialisierung aus der einstigen großen Arbeiterschicht entstanden. Die Wissenschaftler beanspruchen, mit ihren sieben sozialen Schichten die "komplexe und multidimensionale Natur der Ungleichheit der sozialen Klassen in Großbritannien" darstellen zu können, so dass die weiter voranschreitenden Aufteilungen in der sozialen Schichtung der Gesellschaft deutlich würden .

Die "Elite" ist eine weitgehend abgeschottete Klasse der nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sozial und kulturell Privilegierten. Während die Wissenschaftler auf die Extreme von Elite und Prekariat hinweisen, die sie herausgearbeitet hätten, ist diese Kluft wohl kaum neu zu nennen. Eher schon der Versuch, zwischen der Mittelschicht und dem Prekariat weitere sozioökonomische Schichten zu etablieren. Sie könnten zeigen, so die Wissenschaftler, dass die Grenzen zwischen der Arbeiterklasse und der Mittelschicht verschwimmen und dass die beruflichen Tätigkeiten keine primären Merkmale von sozialen Schichten mehr seien. Hervorgehoben wird aber beruhigend, dass die Mittelschicht die größte und stabilste Schicht sei, die als Klasse der Dienstleister gelten könne. Man könnte die Ausdifferenzierung allerdings auch so sehen, dass sich bei allen Unterschieden in den unteren sozioökonomischen Schichten eine neue Unterschicht ausbildet, zu der auch gut ausgebildete und kulturell interessierte Menschen gehören, die es nicht schaffen, in die Mittelschicht oder die technische Mittelklasse aufzusteigen.