Alle 15 Minuten wird derzeit in Spanien eine Wohnung geräumt

Protest gegen Banken und Zwangsräumung in Donostia-San Sebastián. Foto: Ralf Streck

Die andalusische Regierung greift zu drastischen Maßnahmen: Sie bestraft Banken und Immobilienfirmen, wenn sie leerstehende Wohnungen nicht vermieten. Im Land kommt es zu neuen Protestformen, den "escraches", direkt vor den Häusern der Verantwortlichen für die Krise

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Mit schweren Geschützen schießt die regierende Volkspartei (PP) auf die von Räumung betroffenen Familien. Weil von Räumung Betroffene ihre Proteste auch vor die Haustüren derer tragen, die dafür verantwortlich sind, wirft die PP ihnen sogar "Nazi-Methoden" vor und versucht friedliche Proteste als gewalttätig zu diskreditieren. Das Ministerium für Staatsanwaltschaft hat die Staatsanwälte zu Ermittlungen angehalten, damit leistet man der Kriminalisierung der Proteste Vorschub. Im Gegenteil dazu setzt das südspanische Andalusien die Urteile des Menschenrechtsgerichtshofs in Straßburg und des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg um und sichert das durch die Verfassung garantierte Recht auf Wohnraum.

Das südspanische Andalusien macht ernst, um nicht immer mehr Familien obdachlos werden zu lassen, weil sie ihre Hypotheken wegen extremer Arbeitslosigkeit nicht bezahlen können. Seit Ausbruch der Krise 2007 kam es allein in dieser Region zu knapp 90.000 Räumungen und in ganz Spanien etwa 400.000. Allein 2012 wurden mehr als 100.000 Verfahren eingeleitet und 50.000 vollstreckt. Kürzlich hat der Kontrollrat für Justizgewalt (CGPJ) einen neuen Rekord ermittelt. Alle 15 Minuten wird derzeit in Spanien eine Wohnung geräumt.

"Es reicht"

"Bis hier und nicht weiter!", sagte deshalb die andalusische Wohnungsbauministerin Elena Cortés zur Tatsache, dass es bisher täglich allein in Andalusien zu knapp 50 Räumungen kam. Das entsprechende Dekret, das auch "temporäre Enteignungen" zulässt, wurde im Eilverfahren am Mittwoch beschlossen und schon am Donnerstag im Gesetzesblatt veröffentlicht.

Die Regionalregierung aus Sozialisten (PSOE) und der Vereinten Linken (IU),der Cortés angehört, will nicht länger zusehen, dass immer mehr Wohnungen leer stehen, während immer mehr Familien auf Antrag von Banken oder Sparkassen aus ihren Wohnungen geworfen werden, die oft sogar mit Steuermilliarden gerettet wurden. (Spanien stellt Nothilfe-Antrag). Da die Arbeitslosigkeit in Andalusien extrem hoch ist, sind dort auch besonders viele Menschen von Räumungen betroffen. Im Durchschnitt sind fast 34 Prozent der Bevölkerung arbeitslos und in einigen Provinzen wie Jaen oder Granada schon fast 40 Prozent.

"Es reicht", sagte die Ministerin zur Tatsache, dass zwischen 700.000 und eine Million Wohnungen in Andalusien unbewohnt sind und es trotzdem kaum Mietwohnungen gibt. Deshalb sollen nun Banken und Immobilienfirmen mit bis zu 9.000 Euro bestraft werden, wenn sie ihre Wohnungen nicht vermieten. Cortés kündigte auch an, dass innerhalb eines Monats ein Gesetz verabschiedet werde. In dessen Folge soll der Leerstand festgestellt und Strafmaßnahmen eingeleitet werden, "um mit Dringlichkeit die negativen Auswirkungen des Leerstands zu mildern".

Die Enteignung soll für höchstens drei Jahre in besonderen Fällen angewendet werden. Das gilt, wenn Familien durch den Verlust ihrer Wohnung die "soziale Ausgrenzung" und damit die absolute Misere droht. Es muss ihr einziger Wohnsitz sein und eine unverschuldete Verarmung (wie Arbeitslosigkeit) seit der Kreditvergabe nachgewiesen werden. Das Familieneinkommen darf 1.596 Euro nicht übersteigen und 25 Prozent des verfügbaren Einkommens muss fortan als "Sozialmiete" gezahlt werden.

Wenn die Bedingungen erfüllt sind, muss eine Räumung "imminent" bevorstehen, damit die die Regionalregierung die Wohnung übernehmen kann, wird im Gesetz ausgeführt. Es nennt auch "physische und psychische Gefahren für die Gesundheit", womit auf dramatische Szenen bei Räumungen angespielt wird. Denn immer wieder stürzen sich Menschen dabei aus dem Fenster, werden erhängt aufgefunden oder verbrennen sich selbst, weil sie keinen anderen Ausweg mehr sehen (Neuer Selbstmord in Spanien bei Zwangsräumung).

Menschenrecht auf Wohnraum

In Andalusien wird nun gesichert, dass es nicht weiter zu gravierenden Verstößen gegen EU-Verbraucherrechte und Menschenrechte kommt. "Wir verteidigen in Andalusien das Menschenrecht auf Wohnraum", sagte Cortés. Denn die spanische Verfassung sieht in Artikel 47 "das Recht auf eine menschenwürdige und angemessene Wohnung" vor. Zudem hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) schon mehrfach Räumungen gestoppt, wenn auch Kleinkinder betroffen waren und die Behörden wie üblich keinen Ersatzwohnraum angeboten haben.

Die IU-Ministerin sieht sich vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) bestärkt. Dessen Richter hatten sich Mitte März gegen die Praxis der Räumungen ausgesprochen. Viele Räumungen in Spanien wurden mit dem Urteil als illegal eingestuft. Mehr als 100 Jahre alte Hypothekengesetze hebelten EU-Verbraucherrechte aus. Es sei für Betroffene "praktisch unmöglich", eine Räumung auf dem Rechtsweg zu stoppen, auch wenn ihre Kreditverträge offensichtlich missbräuchliche Klauseln enthielten.

Banken werden mit Aufklebern zugeklebt. Foto: Ralf Streck

Andalusien schafft nun Zeit, damit die geforderten Gesetzesreformen umgesetzt werden können. Trotz der Urteile hat die konservative spanische Regierung kein Räumungsmoratorium verfügt. Justizminister Alberto Ruiz-Gallardón zweifelt an der Verfassungskonformität des Gesetzes. Die Zentralregierung will gegen den andalusischen Vorstoß vors Verfassungsgericht ziehen. "Wir haben das Gesetz so wasserdicht gemacht, dass jeder Versuch zwecklos ist", zeigt sich Cortés überzeugt, dass die Verfassung das Vorgehen deckt.

Während die regierende Volkspartei (PP) davon spricht, in Andalusien sei nun eine "Rechtsunsicherheit" geschaffen worden, sprechen Immobilienfirmen und Banken davon, dass die von Cortés genannten Zahlen übertrieben seien. Der Generalsekretär der andalusischen Vereinigungen von Bau- und Immobilienfirmen spricht von nur 250.000 leerstehenden Wohnungen. Emilio Corbacho meint, es müsse zwischen "unverkauften" und "leerstehenden" Wohnungen unterschieden werden.

Die "escraches" und die Versuche, die Proteste zu kriminalisieren

Von Zwangsräumungen betroffene Menschen haben längst neue Protestformen gefunden, die "escraches" genannt werden. Proteste werden auch vor die Häuser derer getragen, die für die Situation verantwortlich sind. Vor allem wird Druck auf Parlamentarier der Volkspartei ausgeübt, damit die mit absoluter Mehrheit regierende Partei aufgebrochen wird und die Volksinitiative (ILP) angenommen werden kann. Sie wurde am Jahresanfang ins Parlament eingebracht, nachdem 1,5 Millionen Menschen unterschrieben haben, und im Augenblick dort behandelt. Dass sie überhaupt dafür zugelassen wurde, war ein erster Sieg der Betroffenen, weil die PP erst am Tag der Abstimmung angesichts neuer Selbstmorde umschwenkte.

Jetzt soll im zweiten Schritt dafür gesorgt werden, dass die Initiative auch eine Mehrheit erhält. "Wir Betroffenen wollen die Parlamentariern direkt auffordern, für die Volksinitiative (ILP) zu stimmen", sagt Iván García. Er ist ein Sprecher der Plattform der Hypothekengeschädigten (PAH) in Madrid.

Auch er demonstrierte am Dienstag am PP-Sitz in der Hauptstadt. Wie in Madrid haben in mehr als 40 Städten des Landes von Zwangsräumung betroffenen Familien versucht, vor den PP-Büros zu protestieren. Wie in Madrid wurde das auch in einigen anderen Städten nicht gestattet. Die Polizei riegelte in Madrid die Genova-Straße ab. Hunderte Demonstranten wurden nur bis zum Platz Alonso Martínez vorgelassen.

Die Regierung will nun dauerhaft das Demonstrationsrecht weitgehend aushebeln. Die Demonstranten sollen fortan einen Sicherheitsabstand von 300 Metern einhalten. Diese Bannmeilen sollen für Wohnungen von Bankern, Politikern und Parteibüros der PP gelten. Dabei hatte die PAH am Dienstag sogar den Druck etwas zurückgenommen und war nicht im ganzen Land in die Nobelviertel gezogen oder in Luxusrestaurants aufgetaucht, sondern wollte nur vor den Parteibüros demonstrieren.

Strafbefehle in Vorbereitung

Doch die von Korruption schwer erschütterte Partei fühlt sich derartig in die Enge getrieben, dass sie schwere Geschütze auffährt. Staatsanwälte werden vom zuständigen Ministerium aufgefordert, Ermittlungen gegen escrache-Demonstranten anzustellen. Die Tageszeitung El País zitierte aus einem Schreiben von Generalstaatsanwalt Eduardo Torres-Dulce. Es sei zu "Missbrauch im persönlichen Umfeld verschiedener Parlamentarier" gekommen, heißt es darin, gemeint waren friedliche Hausbesuche. "Die Generalstaatsanwaltschaft wird eine strafrechtliche Analyse jeder einzelnen Situation vornehmen", wird angefügt.

Schon zuvor hatte das Innenministerium die Nationalpolizei angewiesen, die zu identifizieren, die an derlei Aktionen teilnehmen. Die ersten 18 Strafbefehle gegen Teilnehmer eines escrache vor dem Haus der Vize-Ministerpräsidentin Soraya Saénz de Santamaría werden schon vorbereitet. Wie breit diese Proteste getragen werden, zeigt sich daran, dass auch Jorge Verstrynge bestraft werden soll, womit die PP gegen Leute aus den eigenen Reihen vorgeht. Denn es handelt sich um den ehemaligen Generalsekretär der Volksallianz (AP), aus der die PP hervorgegangen ist. Verstrynge soll den Hausbesuch federführend mitorganisiert haben.

Für die Betroffenen sieht es klar danach aus, dass eine unangenehme Bewegung kriminalisiert werden soll. Die Madrider PP-Stadtverordnete Eva Durán sprach sogar von Nazi-Methoden seitens der Demonstranten. Sie fühlte sich vergangene Woche bei einem escrache an Methoden in Nazi-Deutschland erinnert, als Wohnungen von Juden "markiert" worden seien. "Das darf es in einem Rechtstaat nicht geben", sagte sie.

"Unsere Aktionen sind stets gewaltfrei"

Dass solche absurden Vergleiche ausgerechnet von der postfaschistischen PP kommen, erstaunt doch sehr. Erstens geht hier keine staatliche Macht gegen eine diskriminierte Minderheit vor, sondern Bürger demonstrieren für ihre Verfassungsrechte und gegen staatliche Willkür und Missbrauch. Zudem es handelt sich bei der PP um eine Partei, die sich vom Putsch gegen die Republik 1936 und der Franco-Diktatur nie distanziert hat (Katholische Kirche stellt sich hinter Franquisten). Die PP wurde von Ministern einer Diktatur gegründet, die mit Nazi-Deutschland kollaborierte und an der Judenverfolgung beteiligt war.

Demonstration gegen Zwangsräumungen in Donostia-San Sebastián. Foto: Ralf Streck

Ein weiteres Ablenkungsmanöver besteht darin, die friedlichen Proteste als gewalttätig darzustellen oder in das Umfeld des Terrorismus zu rücken. Cristina Cifuentes, Vertreterin der Zentralregierung in Madrid, warf die PAH mit dem Umfeld der baskischen Untergrundorganisation ETA in einen Topf. Sie sprach vom "Straßenkampf, der fast an die kale borroka" heranreiche, wie Straßenkampf im Baskenland genannt wird.

Doch ein Beispiel, das zeigt, dass Steine oder Molotow-Cocktails bei diesen Protesten geflogen wären, konnte sie nicht angeben. Der einziges Hinweis war, dass "Stopp Räumungen" in der baskischen Provinz Biskaya - zusammen mit zahllosen Parteien, Gewerkschaften und Organisationen - zu einer Demonstration aufgerufen hatte, die eine Strafverbüßung baskischer Gefangener in ihrer Heimat gefordert hat, wie es das spanische Strafrecht vorsieht. Mehr als 100.000 Menschen gingen auf der genehmigten Demonstration auf die Straße.

Die Manöver und autoritären Ticks der PP sind bekannt. Doch die Kriminalisierung kann extreme Folgen haben. Denn mit derlei Vorgaben wurden sogar schon missliebige Zeitungen geschlossen und ihre Journalisten gefoltert. In einem Video wenden sich die Betroffenen an die PP-Wähler um klarzustellen, dass man weder Gewalttäter noch Terrorist sei, sondern Nachbarn, Freunde, Eltern oder sogar Mitglieder der PP.

Konkret greifen PP-Führungspolitiker wie Cifuentes gerne Ada Colau an. Die Katalanin ist die bekannteste PAH-Sprecherin und hat juristische Schritte gegen die "infamen Unterstellungen" angekündigt. Colau stellte klar: "Unsere Aktionen sind stets gewaltfrei". Da man effektiv sei, sollen sie kriminalisiert werden, davon ist auch Leandro Álvarez aus Madrid überzeugt. "Der wirkliche Missbrauch geht vom Staats aus, wenn er eine Familie aus der Wohnung werfen lässt", meint er. Denn dabei werde oft Gewalt von der Polizei ausgeübt, obwohl mit vielen Räumungen gegen die Verfassung und gegen internationales Recht verstoßen werde.

Unbezahlbare Schuldentürme für Hausbesitzer

Colau machte deutlich, dass ihre Befürchtungen berechtigt waren. Nachdem die PP wegen der massiven Proteste die Volksinitiative nicht sofort vom Tisch wischen konnte, wurden nun die Mindeststandards verwässert. Die PP hat die ILP mit einem eigenen Vorschlag zur Reform der Hypothekengesetze "verschmolzen", womit die wichtigsten Anliegen verschwunden sind. Vor allem störte die PP die Restschuldbegleichung bei Übergabe der Wohnung an die Bank, wie es in den USA üblich ist.

Die Banken übernehmen in Spanien Wohnungen nur für 50 Prozent der Summe, auf sie einst auf Veranlassung der Bank geschätzt wurden. Schuldner bleiben auf folglich hohen Restschulden sitzen, auch wenn sie lange Jahre ihren Kredit abbezahlt haben. Die sind manchmal sogar höher als der einst von Banken gewährte Kredit. Neben Kosten für das Verfahren und eine Zwangsversteigerung fallen hohe Verzugszinsen an. "Wucher" nennt das die PAH, da sie bis zu 30 Prozent betragen. Die Schulden steigen darüber schnell stark an. Da es eine Privatinsolvenz wie in Deutschland auch nicht gibt, ist für Betroffene bis zum Lebensende jeder Neuanfang praktisch unmöglich. Jedes Einkommen würde sofort gepfändet.

PP-Zentrale in Madrid. Hier darf nicht demonstriert werden. Foto: Ralf Streck

Der PP-Gesetzesentwurf sieht zwar vor, die Restschulden zu begrenzen, aber 65 Prozent davon sollen in nur fünf Jahren abbezahlt werden. Wie das Familien schaffen sollen, die schon die Zinsen ihres Kredits nicht zahlen konnten, ist eines der Geheimnisse der Regierung. "Ich weiß nicht, ob sich dahinter böser Wille oder die Unkenntnis der sozialen Realität verbirgt", sagte Colau. Denn viele Familien erhalten nicht einmal mehr das schmale Sozialgeld von 400 Euro. Es wird nur für sechs Monate gezahlt und kann ohnehin jederzeit abgeschafft werden. Zwei Millionen Menschen haben längst keinerlei Einkommen mehr und können sich oft nicht einmal mehr eine Gesundheitsversorgung oder Medikamente leisten. (Wenn Gesundheit zum Luxus wird)

Druck auf die Banken ausüben

Eine Verbesserung der Lage ist nicht in Sicht. Die Arbeitslosigkeit steigt auf immer neue Rekordwerte und auch die EU-Kommission glaubt den schön gefärbten Prognosen aus Madrid immer weniger und fordert durchgreifende Maßnahmen. Die hatte auch der Luxemburger Gerichtshof in Bezug auf "missbräuchliche Klauseln" angemahnt, weil Verbraucherrechte ausgehebelt werden.

Die gesamte Opposition kritisiert auch, dass im Gesetzesentwurf der Regierung davon nichts zu sehen ist. Die Opposition fordert ebenfalls ein Räumungs-Moratorium, solange diese Probleme nicht gelöst sind und die Gesetzeslage nicht klar ist.

Colau sagt deshalb, dass ohne die Restschuldbegleichung Spanien nicht aus der Krise kommen kann. "Wie soll das gehen, wenn die Leute ihre Schulden nicht bezahlen können und ihnen kein Neustart gewährt wird." Unterstützt wird sie auch von den Gewerkschaften. Mit Blick auf die Urteile in Luxemburg und Straßburg kündigte sie an: "Wir werden weiter das tun, was die Regierung nicht tut."

Man werde Räumungen verhindern und Druck auf die Banken ausüben, die Restschulden zu streichen, um Familien den nötigen Neuanfang zu ermöglichen. Die Regierung müsse aufhören, "den Anweisungen der Banken zu folgen", denn die hätten mit ihrem zum Teil kriminellen Vorgehen das Land in diese tiefe Krise gestürzt.