BND-Schattenmann Kramer in tödlicher Mission?

Interview mit dem Stay-Behind-Forscher Daniele Ganser zu den aktuellen Enthüllungen in Luxemburg

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Letzte Woche belastete der Zeuge Andreas Kramer vor einem Luxemburger Gericht seinen verstorbenen Vater, den offenbar für den BND tätigen Johannes Karl Kramer, in den 1970er und 1980er Jahren Drahtzieher der scheinbar linksterroristischen Anschläge in Bologna, beim Münchener Oktoberfest und in Luxemburg gewesen zu sein. Der rechtskonservative Schattenmann Kramer soll dabei eigenmächtig Strukturen des von der NATO aufgebauten paramilitärischen Stay-Behind-Netzwerks missbraucht haben. Hierzu haben wir den Stay-Behind-Forscher, Historiker und Gründer des Swiss Institute for Peace and Energy Studies Dr. Daniele Ganser um seine Einschätzung gebeten.

Bei Ihrer Dissertation von 2005 über Stay Behind bzw. Gladio, die 2008 auch in deutscher Sprache verlegt wurde (NATO – Geheimarmeen in Europa), stießen Sie bei etlichen offiziellen Anfragen auf Schweigen. Wie hat sich der Forschungsstand seither entwickelt?

Dr. Daniele Ganser: Der Forschungsstand unterteilt sich heute in einen Bereich, der völlig klar ist, und einen anderen Bereich, wo noch viele Unklarheiten bestehen. Zuerst zum klaren Bereich: Es ist heute völlig klar und bewiesen, dass die NATO im Kalten Krieg Stay-Behind-Geheimarmeen unterhielt, ausgerüstet mit geheimen Waffenlagern. Klar ist auch, dass in allen beteiligten Ländern der nationale Geheimdienst involviert war und direkt mit dem amerikanischen Geheimdienst CIA und dem britischen Geheimdienst MI6 kooperierte. Klar ist zudem, dass sich die Stay-Behind-Armeen auf eine Invasion durch die Sowjetunion vorbereiteten. Das ist ein Fortschritt für die historische Forschung. Diese Punkte waren vor 25 Jahren noch völlig unbekannt.

Schwierig und umstritten hingegen ist die Quellenlage hinsichtlich der Verbindungen der Geheimarmeen zu Terroranschlägen, zur rechtsextremen Szene, zu Staatsstreichen und zu Folter. Hier muss man von Land zu Land und von Fall zu Fall ganz genau unterscheiden. Da braucht es sicher noch einige Jahre oder Jahrzehnte, bis Klarheit geschaffen werden kann. Wir haben Quellen, die sagen, in der Türkei sei die Geheimarmee in Folter und Staatsstreiche involviert gewesen. Wir haben Quellen, die sagen, in Deutschland seien Rechtsextreme in die Geheimarmee integriert gewesen. Wir haben Quellen, die sagen, in Italien, Belgien und Frankreich und anderen Ländern habe die Geheimarmee Terroranschläge ausgeführt.

Das Problem ist aber, dass sich die NATO weigert, zum Thema Stellung zu beziehen. Ich habe vor vielen Jahren über die Schweizer Botschaft die NATO um Auskunft zum Thema Stay Behind gebeten. Vergeblich. Auch die CIA und der MI6 mauern. Ich habe vor vielen Jahren über das Freedom-of-Information-Gesetz (FOIA) in den USA die Herausgabe von CIA-Dokumenten zu Stay Behind verlangt, doch ohne Erfolg. Zuerst wurde meine Anfrage abgewiesen. Als ich Berufung einlegte, wurde sie angenommen, aber auf die lange Bank geschoben. Weder die NATO noch die CIA klären die betroffenen Demokratien über die Geheimarmeen auf. Die meisten Menschen wissen auch heute nicht, dass es NATO-Geheimarmeen gab. Das bedeutet für mich als Historiker: Es braucht weiterhin Forschung zu der delikaten Frage, ob die NATO und die CIA in Terroranschläge in Europa verstrickt waren.

Lügende Politiker

Aktuell wird in Luxemburg eine Staatsaffäre vor Gericht verhandelt, die eine Menge Staub aufgewirbelt hat. So wurde Jacques Santer, der 1990 zwar Kenntnis von Stay Behind eingeräumt, jedoch sogenannte „Übungen“ mit ausländischen Diensten abgestritten hatte, durch einen geleaktes Dokument in Verlegenheit gebracht. Was war bisher über die Rolle des Luxemburger Geheimdienstes bekannt?

Dr. Daniele Ganser: Man wusste seit 1990, dass die NATO auch in Luxemburg eine Geheimarmee unterhielt, und dass diese durch den SREL, den Geheimdienst in Luxemburg, koordiniert wurde. Angenommen werden konnte auch, dass es internationale Kooperation gab. Das entspricht dem europäischen Muster. Als 1990 in Italien Premierminister Andreotti die Geheimarmee Gladio in Italien als erster enthüllte, waren auch andere Länder gezwungen, das Geheimnis zu lüften.

Damals war Jacques Santer Premierminister in Luxemburg. Vor dem Parlament sagte er 1990: „Ich kann sagen, dass ich persönlich keine Kenntnis von der Existenz des Netzwerks hatte, und genau wie der Premierminister in Belgien war ich sehr überrascht, als ich davon erfuhr. Ich glaube nicht, dass ein anderes Regierungsmitglied dessen Existenz vermutet haben könnte.“

Doch jetzt, 23 Jahre später, wird durch den laufenden Prozess klar, dass Santer log. Ein Dokument aus dem Jahre 1985, unterzeichnet von Charles Hoffmann, dem Chef des Geheimdienstes SREL, zeigt, dass Santer sehr wohl um die Existenz der Geheimarmee wusste. Die Aufarbeitung der Geschichte der NATO-Geheimarmeen ist daher so kompliziert, weil immer wieder auch hohe Regierungsvertreter wie Premierminister Falschaussagen zum Dossier machen. Das erschwert die Arbeit für uns Historiker. Zudem schädigt es das ohnehin schon angeschlagene Vertrauen der Bevölkerung in die Ehrlichkeit der Politiker.

Bei den Untersuchungen zu den Bombenanschlägen Mitte der 1980er Jahre verschwanden etliche Beweismittel. Umgekehrt deutet vieles darauf hin, dass die Täter detaillierte Insiderkenntnisse hatten, etwa wussten, welche Strommasten bewacht wurden. Die meisten Anschläge wurden offenbar genau um 23.30 Uhr ausgeführt. Verhalten sich so echte Terroristen?

Dr. Daniele Ganser: Was bei den Terroranschlägen in Luxemburg auffällt, ist, dass niemand getötet wurde. Scheinbar wollte man der Bevölkerung nur einen großen Schrecken einjagen. Es ist für mich noch nicht geklärt, wer die Verantwortung für diese Terroranschläge trägt. Wenn wir als These annehmen, dass es die NATO-Geheimarmee war, und ihre Helfer in Luxemburg, dann war dies zwar ein Verbrechen, aber man muss den Akteuren auch anrechnen, dass sie niemanden töteten. In anderen Ländern wie Belgien und Italien, wo die Geheimarmeen im Verdacht stehen, mit Terroranschlägen auch Menschen getötet zu haben, ist die Aufklärung der Verbrechen viel schwieriger.

Diese Woche wurde unter anderem eine angebliche Mitgliederliste des Luxemburger Stay-Behind-Netzwerks geleakt. Halten Sie das Dokument für echt?

Dr. Daniele Ganser: Ich habe das Dokument gesehen. Es ist gut möglich, dass es echt ist, aber sicher kann man da nie sein. Auch da muss man weiter forschen. Woher kommt das Dokument? Was sind die Nachnamen der Personen, welche ja auf der Liste so durchgestrichen sind, dass man nur die Vornamen lesen kann? Danach müsste man sehen, ob die Menschen noch leben, oder ihre Kinder - und die befragen. In Schweden zum Beispiel haben einige Kinder von verstorbenen Stay-Behind-Agenten interessante Aussagen gemacht. Diese Kinder sind ja inzwischen Erwachsene und versuchen zu verstehen, was ihre Väter in der Geheimarmee überhaupt machten.

Mitte der 1980er Jahre soll in Luxemburg kein Geringerer als CIA-Agent Licio Gelli gelebt haben, der in Italien die Geheimloge Propaganda Due kontrolliert hatte. Gelli wird mit dem Anschlag in Bologna in Verbindung gebracht und soll von 1984 bis 1986 in Luxemburg untergetaucht und sogar eine luxemburgische Sozialversicherungsnummer besessen haben. Wie passt das ins Bild?

Dr. Daniele Ganser: Licio Gelli ist in Italien eine bekannte Figur. Er hat gegen die Kommunisten gekämpft und war stets davon überzeugt, dass auch verdeckte Mittel in diesem Kampf eingesetzt werden müssen. Für ihn war der Kalte Krieg ein heißer Krieg, in dem es auch in Europa Tote geben musste, weil das eben die Natur des Krieges ist. Was aber Gelli in Luxemburg machte (und ob er etwas mit dem Terror in Luxemburg zu tun hat) weiß ich nicht.

In dem Prozess trat diese Woche der ungewöhnliche Zeuge Andreas Kramer auf, der behauptet, sein Vater Johannes Karl Kramer sei ein BND-Mann einer abgeschirmten „Abteilung 4“ gewesen, der Gladio-Aktionen mit Diensten u.a. in den Benelux-Ländern koordiniert haben soll. Kramer senior und Hoffmann hätten dem „Allied Clandestine Committee (ACC)“ angehört, das auch in Ihrem Buch beschrieben wird. Was halten Sie von der Geschichte?

Dr. Daniele Ganser: Die Geschichte ist interessant. Ich habe Andreas Kramer auch in der Schweiz getroffen, als er seine Geschichte der Schweizer Zeitung Tageswoche erzählte. Nun muss man die Kramer Geschichte mit Quellen prüfen, die von Kramer unabhängig sind, um herauszufinden, was wahr ist. Ideal wären natürlich schriftliche Dokumente, aber die sind selten in diesem Gebiet. Er sagt ja, sein Vater Johannes Kramer habe beim BND gearbeitet und sei dort für die Stay-Behind-Operationen zuständig gewesen. Nun müsste der BND Dokumente vorlegen und über die eigene Stay-Behind-Geschichte berichten.

Aber ebenso wie die CIA hat der BND seit 1990 immer wieder gemauert. Man will bis heute nicht über die NATO-Geheimarmeen sprechen, vor allem nicht über die Verbindung zu Terror und die Präsenz von Rechtsextremen in der Geheimarmee. Und dies, obschon das EU-Parlament schon 1990 eine Aufklärung über die NATO Geheimarmeen forderte. Die Sache ist brisant, weil Andreas Kramer behauptet, die deutsche Stay-Behind-Armee habe den Terroranschlag 1980 auf das Münchner Oktoberfest ausgeführt und sein Vater sei direkt beteiligt gewesen. Wenn das stimmt, geht es hier um Staatsterrorismus. Das muss untersucht werden, so viel steht fest. Kramer behauptet auch, sein Vater sei in die Terroranschläge in Luxemburg involviert gewesen. Nicht nur das Gericht in Luxemburg, sondern auch Journalisten und Historiker fragen sich nun: Stimmt das alles? Ich weiß es nicht. Aber prüfen muss man es auf jeden Fall.

Macht es nach NATO-Logik Sinn, inszenierte Attentate mit Sprengfallen nach Luxemburg zu verlegen, weil dort die Haager Landkriegsordnung damals noch nicht galt?

Dr. Daniele Ganser: Das macht für mich wenig Sinn. Jene, die Terroranschläge in Auftrag geben und sie ausführen, kümmern sich nicht um die Rechtslage.

"Man muss im Auge behalten, dass die NATO mächtig ist"

Schattenmann Kramer soll eigenmächtig seinen Vorgesetzten, den Oberbefehlshaber der Alliierten Streitkräfte Europa Mitte (CINCENT, NATO), General Leopold Chalupa, hintergangen haben. So soll Kramer mit den Attentaten in Bologna und München zu tun gehabt haben, welche die Kommunisten in Misskredit bringen sollten. Ließe sich diese Darstellung mit dem Stand der Forschung in Einklang bringen?

Dr. Daniele Ganser: Die Forschung kann bestätigen, dass die NATO Geheimarmeen unterhielt. Die Forschung kann auch bestätigen, dass diese Geheimarmeen über die zwei geheimen NATO-Kommandostrukturen Allied Clandestine Committee ACC und Clandestine Planning Committee CPC koordiniert wurden. Das wissen wir von Offizieren des italienischen Militärgeheimdienstes, die an den ACC und CPC Sitzungen teilnahmen. Die NATO führte die Geheimarmeen, das ist klar.

Wir wissen, dass 1990 Ramond Van Calster, der Chef des belgischen militärischen Geheimdienstes SGR die ACC Sitzung leitete. Auch der höchste NATO-General, der Supreme Allied Commander Europe, SACEUR (immer ein Amerikaner übrigens) hat 1990 die Existenz des Stay-Behind-Netzwerkes bestätigt, das war damals SACEUR John Galvin.

Über die Rolle von General Chalupa weiß ich nichts. Dass er über die Existenz der Stay-Behind-Armee informiert war, ist wahrscheinlich. Ob Johannes Kramer außerhalb der NATO-Kommandokette 1980 die Terroranschläge von Bologna und München durchführen ließ, muss sorgfältig geprüft werden.

Man muss im Auge behalten, dass die NATO mächtig ist, sie ist die größte Militärallianz der Welt, sie hat Gaddafi in Libyen gestürzt, führt Krieg in Afghanistan und hat 1999 Serbien bombardiert. Wenn Journalisten, Historiker und Gerichte die brisante These bestätigen könnten, dass die NATO in Europa in Terroranschläge verwickelt war, dann wäre die Glaubwürdigkeit der größten Militärallianz der Welt völlig erschüttert. Man muss hier also sehr präzise recherchieren, es geht ums nichts weniger als um die Glaubwürdigkeit der NATO.

Laut dem Zeugen soll SREL-Chef Charel Hoffmann die zunehmenden Eigenmächtigkeiten des BND-Schattenmannes nicht mehr gebilligt und bei den Amerikanern um Hilfe gebeten haben. Diese jedoch scheinen Kramer zwar nicht angefasst zu haben, allerdings hörten die Attentate 1986 schlagartig auf. Wäre dies eine plausible Erklärung für das Ende der Anschläge?

Dr. Daniele Ganser: Ich weiß nicht, warum die Anschläge in Luxemburg 1986 aufhörten. Der Einfluss der USA auf die Terroranschläge in Europa ist bis heute nicht geklärt, auch nicht auf die Anschläge in Luxemburg. In Italien gab es 1969 einen Anschlag in Mailand auf der Piazza Fontana mit 17 Toten. 2001 erklärte der angeklagte italienische Geheimdienstgeneral Giandelio Maletti vor einem italienischen Gericht, die CIA habe in Italien Rechtsextreme angeworben und diese hätten den Terroranschlag ausgeführt.

Maletti deutete damit an, die USA hätten in Europa Terroranschläge verübt. Auch der italienische Senat kam bei seinen Untersuchungen zu der Geheimarmee Gladio zu diesem Resultat. Aber auch heute ist es sehr schwierig, über Staatsterrorismus zu forschen und zu sprechen. Fragen Sie mal ihren besten Freund, ob er sich vorstellen kann, dass die USA im Kalten Krieg in Europa Terroranschläge durchführen ließen? Die meisten halten das für völlig verrückt. Die historischen Daten deuten aber in diese Richtung, auch wenn man es nicht beweisen kann.

Obwohl der Fall in Luxemburg alles bietet, was die Presse interessieren könnte (wie Hochadel, Sex-Skandale, Bomben, Geheimagenten, Vertuschung usw.), erfährt der Fall in der deutschen Presse kaum Aufmerksamkeit, während zur Verkündung der Lockerung des Bankgeheimnisses diese Woche sogar TV-Teams geschickt wurden. Haben Sie eine Erklärung?

Dr. Daniele Ganser: Über die NATO Geheimarmeen und mögliche Verbindungen zu Rechtsextremen und Terroranschlägen will man in Deutschland nicht sprechen. In anderen Ländern übrigens auch nicht. Es ist ganz klar, dass der Gerichtsprozess in Luxemburg über das Land hinausreicht und internationale Dimensionen hat, auch wenn noch nicht klar ist, was am Schluss herauskommt.

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