Der "spartanische Luxuslebenswandel" einer ALG-II-Bezieherin

Text anonymisiert, Leute verwirrt - Teil 2

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Ein Regelsatz, den keiner in dieser Höhe kennt

Wie in Teil 1: Text anonymisiert, Leute verwirrt beschrieben, hat ein in der Zeitung "Die Welt" erschienener Artikel, der den "spartanischen Luxuslebenswandel" einer ALG II-Empfängerin dokumentieren soll, irritiert. Dies tut er unter anderem, weil die Zahlen und die Art und Weise, wie z.B. die Kontoauszüge dargestellt wurden, nicht stimmig erschienen.

Entsprechende Reaktionen auf den Zeitungsartikel blieben nicht aus. So bemerkt dazu kopperschlaeger.net:

Hier stimmt schlichtweg gar nichts! Der Buchungstag ist (von Pannen und Verzögerungen mal abgesehen) stets der letzte Tag des Vormonats, da das Gesetz besagt, dass die Regelleistung dem Empfänger am ersten Tag des Monats zur Verfügung zu stehen hat. Liegt beispielsweise ein Monatserster auf einem Montag, erfolgt die Gutschrift in der Regel bereits am vorausgehenden Freitag. Auch der Regelsatzbetrag in Eurem Pamphlet entspricht nicht dem aktuellen Regelsatz von 382 Euro, dürfte also kaum vom 01.03.2013 sein.

Weiter geht es bei der angeblich getrennten Ausweisung von Regelsatz und Miete: auch dieses ist im Onlinebanking bei keiner mir bekannten Bank der Fall, da lediglich der Gesamtbetrag aus Regelsatz und KdU (Kosten der Unterkunft = Miete plus Heizkosten) ausgewiesen wird....

Auch der Freitag-Autor Harald Blumenau siedelt die Dokumentation im Bereich der "iMärchen" an und bezichtigt die Welt des "Kampagnenjournalismus".

Um den zunehmenden Vermutungen, es handele sich bei dem Text um eine erfundene Geschichte, entgegenzutreten, bot die "Welt" noch einen Chat mit Susanne Müller an.

Tatsächlich irritiert bereits am Anfang der angegebene Regelsatz in Höhe von 372 Euro monatlich. Da als Buchungstag der 01.03.2013 angegeben ist, sind die aktuellen Regelsatzsätze für Alleinstehende anzuwenden, was bedeutet, dass Susanne Müller 382 Euro bekommen müsste. Eine Sanktionierung ist weder im Text erwähnt, noch wäre sie schlüssig, da diese selbst in der ersten Stufe einen höheren Betrag als 10 Euro ergeben würde.

Doch dass eben nicht gekürzt wird, ist einer der im Text ja herausgestellten Aspekte, denn Frau Müllers Bemühungen laufen ja dahingehend, dass nicht bemerkt wird, dass sie sich nicht tatsächlich um eine Erwerbstätigkeit bemüht, sondern sie vielmehr Zeit und Arbeit dahingehend investiert, den Arbeitgeber mehr oder minder subtil davon zu überzeugen, dass sie ungeeignet ist. Wohin sind also die fehlenden 10 Euro verschwunden?

Die Anonymisierung von Daten ist keine wirklich leichte Arbeit

Des Rätsels Lösung ist verhältnismäßig einfach: Der Regelsatz wurde nach Auskunft der Autorin, ebenso wie andere Daten, verändert, um die Identität von Susanne Müller zu schützen. Hierfür wurde nicht nur der Name verändert, wie am Ende des Textes angegeben, vielmehr wurden eben auch die Daten, die ggf. zu einer Identifizierung und damit zu einer Verfolgung durch die zuständige Behörde führen könnten, angepasst. Einen Hinweis darauf lässt der Text allerdings missen.

Hier zeigt sich, dass Anonymisierung von Daten keine wirklich leichte Arbeit ist, denn zum einen muss darauf geachtet werden, dass die Veränderung der Daten nicht dazu führt, dass die dahinterstehende Geschichte per se angezweifelt werden kann, zum anderen müssen natürlich auch alle Daten entsprechend angepasst werden. Aus dem Text geht weder hervor, dass Daten an sich verändert wurden, noch in welchem Bereich, bzw. ob die Relationen gewahrt bleiben.

Das Ergebnis ist eine stete Irritation bei den Lesern. Auch überzeugt die Argumentation, dass selbst der Regelsatz in seiner Höhe verändert werden müsse, wenig, denn außer der Tatsache, dass Frau Müller allein lebt, was im Text des öfteren ja deutlich geschrieben wurde, geht aus dem Regelsatz für Alleinstehende noch nichts hervor.

Diese Veränderung des Regelsatzes, gerade auch bereits am Anfang des Textes, birgt insofern die Gefahr in sich, dass kritische Leser den Bericht an sich anzweifeln. Denn wenn hier 10 Euro letztendlich nach unten korrigiert wurde, wie ist es mit den weiteren Daten im Text? Kostet der erwähnte Pagenschnitt also wirklich 15 Euro und gibt es einen Friseur Yilmaz? Gibt es das "Cafe Morgenrot", an dem Frau Müller, wie an jedem Tag, an dem sie das ALG II-Geld erhält, frühstückt, bevor sie sich bei Yilmaz die Haare schneiden lässt? Oder ist es, da dies ja auch Rückschlüsse auf Frau Müllers wahre Identität bieten könnte, eher ein Synonym? Wie hoch ist der Preis des Frühstücks wirklich? Wurde auch die Miete samt Nebenkosten korrigiert und wenn ja, in welcher Richtung?

All dies sind Fragen, die im Text oder in Anmerkungen zum Text nicht behandelt werden und daher die Intention des Textes, hier nur einen alternativen Lebensentwurf vorstellen zu wollen, fragwürdig erscheinen lassen.

Sorglosigkeiten

Der von der "Welt" anberaumte Chat, der Frau Müller eine halbe Stunde lang Gelegenheit geben sollte, einerseits zu beweisen, dass Susanne Müller tatsächlich existiert (was letztendlich absurd ist, da ja auch eine andere Person am Keyboard hätte sitzen können), und andererseits noch etwas mehr Einblick in ihre Gefühls- und Gedankenwelt zu geben, führte jedoch zu wenig Erkenntnissen.

Auf die Frage, ob sie denn nicht letztendlich auch betrüge, um so lange trotz fehlender realer Eigenbemühungen um eine Erwerbstätigkeit im Bezug zu bleiben, antwortet sie:

Es geht natürlich nicht ohne Trickserei. Man kann es als eine Form von Betrug sehen, aber da ich nicht einzelne Personen betrüge, fühle ich mich damit auch nicht schlecht.

Ob sie ein Vorbild sei? "Nein, da habe ich tatsächlich noch nie drüber nachgedacht. Aber jetzt, wo Sie nachfragen, könnte ich mir vorstellen, dass ich vielleicht Menschen Mut mache, einen Ausstieg zu riskieren "

Bezüglich ihrer Zukunft und eventuell auftretender Notlagen ist Susanne Müller von bemerkenswerter Sorglosigkeit. So ist die Gefahr, dass Elektrogeräte defekt sein könnten und ersetzt werden müssten, für sie nicht wirklich ein Grund zur Sorge.

Wenn ich ehrlich bin, habe ich keine Angst, denn ich habe gute Markengeräte, und die sind erst vier Jahre alt. Und falls doch, muss ich öfter Blut spenden gehen - oder Plasma.

Hier zeigt sich dann auch, dass diese Sorglosigkeit erst durch ein vorheriges großes finanzielles Polster sowie auch spezielle Möglichkeiten, die z.B. nur bestimmten Menschen offenstehen, ermöglicht wird. Susanne Müller hatte, wie der Artikel informiert, 30.000 Euro gespart, die sie dann innerhalb von drei Jahren verbrauchte. Auch in dieser Hinsicht lässt der Text Fragen offen, denn obgleich sie bereits im Oktober 2004 ihre Stelle kündigte und nach drei Jahren das Ersparte verbraucht hatte, heißt es, dass sie ihre zehnjährige Hartz- IV-Phase in den Bewerbungen betont. Wird hier Hartz IV-Phase als Synonym für die Phase ohne Erwerbstätigkeit genutzt? Die Zeit des Leistungsbezuges kann nicht gemeint sein, da diese ja erst ca. 6 Jahre beträgt.

Der Text ist insofern verwirrend - zwar soll ein "alternativer Lebensentwurf" eines Menschen, der seine Wünsche und Bedürfnisse im Griff hat, dargestellt werden, doch durch die nicht kenntlich und transparent erfolgte Anonymisierung wie auch durch die sprachliche Darstellung des Lebens ist nicht klar, ob die Dokumentation wirklich so neutral gedacht war.

Frau Müllers Kommentar bezüglich des Chats, in dem sie sich bei den Diskussionsteilnehmern bedankt, wirkt denn auch etwas süffisant bis zynisch. Während sie sich selbst bzw. ihr Leben als faul, frech und frei ansieht, konnte sie sich offensichtlich nicht vorstellen, dass auch andere ähnlich leben, dank ALG II eben manche ihrer Möglichkeiten nicht haben oder gar aus anderen Gründen keiner Erwertbstätigkeit mehr nachgehen: "Ich bedanke mich bei allen Leserinnen und Lesern für die zahlreichen Diskussionsbeiträge, obwohl dies in Ihrer Arbeitszeit geschah."