"Der Staat subventioniert die Niedriglohnstrategie"

Gut 1,3 Millionen Beschäftigte stocken ihren Lohn mit Hartz-IV-Leistungen auf. Ein Interview mit dem Sozialwissenschaftler Gerhard Bäcker

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Die Zahl der Hartz-IV-Empfänger sinkt, doch der prozentuale Anteil der sogenannten Aufstocker steigt weiter an. Während 2007 noch 23,1 Prozent der 5,2 Millionen Hartz-IV-Empfänger ihr Erwerbseinkommen aufstockten, lag ihr Anteil im Oktober des vergangenen Jahres bei 30,4 Prozent - von nun 4,3 Millionen Hartz-IV-Empfängern. Zu diesem Befund kam eine Analyse der offiziellen Arbeitsmarktstatistik, die vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen veröffentlicht wurde. Telepolis sprach mit Gerhard Bäcker über die Ergebnisse. Der emeritierte Professor der Universität Duisburg-Essen ist Senior Fellow des IAQ.

Herr Bäcker, die absolute Zahl der Aufstocker ist seit 2007 nicht gestiegen. Trotzdem ist ihr prozentualer Zuwachs in der Gruppe der Hartz-IV-Empfänger signifikant. Was schließen Sie daraus?

Gerhard Bäcker: Dass in Deutschland zu viele Menschen nicht von ihrem Arbeitseinkommen leben können. Fast jeder dritte ALG II-Bezieher ist mittlerweile Aufstocker, da müssen wir uns natürlich fragen, ob hier arbeitsmarktpolitisch die richtigen Weichen gestellt werden oder ob der Staat nicht vielmehr eine Niedriglohnstrategie bestimmter Unternehmen aus Steuermitteln subventioniert.

Aufstocker ist offenbar nicht gleich Aufstocker. Sie selbst unterscheiden zwischen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten (44 Prozent), Minijobbern (36 Prozent) und Selbständigen (10 Prozent). Werfen wir zunächst einen Blick auf die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. 57,7 Prozent von ihnen arbeiten Vollzeit, doch ihr Einkommen reicht nicht zur Existenzsicherung.

Gerhard Bäcker: Das ist eine bedenkliche Entwicklung, zumal wir von einer sehr viel höheren Dunkelziffer ausgehen. Die Daten der Bundesagentur, die von uns ausgewertet wurden, erfassen schließlich nur die Personen, die beim Jobcenter eine Aufstockung beantragt haben. Viele Menschen wissen aber gar nicht, dass sie Anspruch auf eine Fürsorgeleistung nach dem ALG II haben, wenn ihr Haushaltszusammenhang als bedürftig eingestuft wird.

Ein Rechenbeispiel: In einem Ein-Personenhaushalt müsste ein Vollzeit-Erwerbstätiger mindestens 7,90 Euro pro Stunde verdienen, um keinen Anspruch auf Hartz IV zu haben. Viele Menschen bekommen aber keine 7,90 Euro, und wenn sie in Mehr-Personen-Haushalten leben, ist der Bedarf noch deutlich höher.

Wie sieht es mit den Minijobbern aus? Handelt es sich da um freiwillige Aufstocker?

Gerhard Bäcker: Hier geht es vorwiegend um Alleinerziehende, denen Erwerbstätigkeit nicht zugemutet wird, oder um Arbeitslose, die bis zu 450 Euro im Monat dazuverdienen können. Minijobber arbeiten durchaus freiwillig, aber trotzdem gibt es eine grundlegende Schwierigkeit. Dieses System hält Menschen dazu an, die Verdienstgrenzen nicht zu überschreiten, weil sich die Arbeit dann überhaupt nicht mehr lohnen würde. Betroffen sind vor allem Frauen, die kaum Chancen haben, den Niedrigstundenbereich zu verlassen, wenn sie dort erst einmal beschäftigt sind.

Bei den Selbstständigen würde man am wenigsten Aufstocker vermuten. Nicht nur Ihre Zahlen, sondern auch die Ergebnisse einer DIW-Studie zeigen allerdings, dass auch sie in hohem Maße betroffen sind. Wo liegen die Ursachen?

Gerhard Bäcker: Die Zahl der Selbstständigen hat deutlich zugenommen, das gilt insbesondere für die Ein-Personen-Betriebe im Dienstleistungssektor. Kein Wunder, denn man braucht kein großes Kapital und die Bundesagentur hat solche Existenzgründungen auch noch gefördert. Nun zeigt sich aber, dass viele Geschäftsmodelle in keiner Weise überlebensfähig sind. Das ist hochproblematisch. Wenn Selbständige nicht einmal ihr eigenes Existenzminimum sichern können, haben sie erst recht kein Geld, um für die Rente oder Fälle der Berufsunfähigkeit vorzusorgen. Das bedeutet: der Weg in die Altersarmut ist vielfach vorgezeichnet.

"Die Arbeitsmarktpolitik hat keine Brücke, sondern eine Falle gebaut"

Die Befürworter des Aufstocker-Modells argumentieren, dass dadurch der Kontakt zum ersten Arbeitsmarkt gehalten wird.

Gerhard Bäcker: Dagegen ist auch nichts zu sagen. Selbstverständlich haben Minijobber oder Arbeitslose mehr davon, wenn sie mit dem Arbeitsmarkt in Kontakt sind und ihre Voraussetzungen verbessern, als wenn sie einfach zu Hause bleiben.

Aber wird auch die Aufnahme eines regulären Beschäftigungsverhältnisses erleichtert?

Gerhard Bäcker: Leider nur selten. Beschäftigungsverhältnisse dieser Art sollten eigentlich eine Brücke zum ersten Arbeitsmarkt bauen. Das war die Idee - und die Idee war gut. Aber die Umsetzung funktioniert nicht, weil es keine Anreize gibt, das Einkommen und die Arbeitszeit über den Minijob-Bereich hinaus auszudehnen. Insofern hat die Arbeitsmarktpolitik hier keine Brücke, sondern eine Falle gebaut.

Der Staat lässt sich das Aufstocken von Löhnen einiges kosten. Zwischen 2007 und 2011 wurden mehr als 53 Milliarden Euro ausgegeben. Könnte man das Geld sinnvoller investieren?

Gerhard Bäcker: Es wird immer Aufstocker geben, die Frage ist nur: wie viele Menschen sind letztlich betroffen? Die Entwicklung der vergangenen Jahre bietet reichlich Anlass zur Sorge. Um den Abwärtstrend umzukehren, wären zunächst vier Maßnahmen sinnvoll:

1.) Wir brauchen dringend einen gesetzlichen Mindestlohn, um zu verhindern, dass Menschen in diesem Land systematisch ausgebeutet werden können und Unternehmen ihre Niedriglöhne vom Staat subventionieren lassen.

2.) Die Möglichkeiten, von einer Teilzeitbeschäftigung wieder zu einem höheren Stundenvolumen zu kommen, sollten deutlich verbessert werden.

3.) Die Regelungen für Minijobber müssen grundlegend überarbeitet werden. Sie müssen eingegrenzt und nicht - wie seit Anfang 2013 - auch noch (auf 450 Euro) ausgedehnt werden.

4.) Wir brauchen außerdem eine Strategie, um einkommensschwache Haushalte mit mehreren Kindern zu entlasten. Eine gezielte Erhöhung des Kindergeldes, die genau diesen Personenkreis begünstigt, wäre eine Überlegung wert.

Wenn Sie für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns plädieren, reden wir doch einmal über die Höhe. In der Öffentlichkeit werden 8,50 Euro diskutiert. Doch damit wäre die Aufstockung noch lange nicht vom Tisch. Ein Alleinverdiener, der in einer Beziehung lebt und ein Kind hat, müsste mehr als 10 Euro verdienen, um seinen Anspruch auf Hartz IV-Leistungen zu verlieren.

Gerhard Bäcker: Das ist richtig, deshalb habe ich auch nie für exakt 8,50 Euro votiert. Die Zahl kann aber eine Orientierungsgröße sein. Über die genaue Höhe und die Anpassung des Mindestlohns an die wirtschaftliche Entwicklung sollte eine Sachverständigenkommission unter Berücksichtigung vieler unterschiedlicher Faktoren entscheiden. Es steht ja auch außerfrage, dass Mindestlöhne immer wieder überprüft und veränderten Bedingungen angepasst werden müssen.

"Die Spaltung des Arbeitsmarktes wurde weiter vorangetrieben"

Die Zahl der Hartz-IV-Empfänger ist leicht gesunken, dennoch gibt es nach Ihren Berechnungen insgesamt rund 6 Millionen Personen, die auf Arbeitslosengeld II und Sozialgeld angewiesen sind. 72,3 Prozent gelten als erwerbsfähig, die anderen sind in der Regel noch nicht volljährig. Wie soll die deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik mit diesen Menschen umgehen – haben sie überhaupt eine realistische Chance auf gesellschaftliche Teilhabe?

Gerhard Bäcker: Das ist eine ganz zentrale Frage, denn in der Tat ist die Zahl der Hartz-IV-Empfänger im Jahresdurchschnitt nur leicht zurückgegangen. Von dem viel zitierten Aufschwung und dem Rückgang der Arbeitslosigkeit hat diese Gruppe wenig profitiert. Durch die extremen regionalen Unterschiede wird die Situation zusätzlich erschwert. Im Süden Deutschlands ist der Anteil der Hartz-IV-Empfänger geringer, wir haben aber große Bereiche - etwa in Berlin, in weiten Teilen Ostdeutschlands, aber auch im Ruhrgebiet oder in Wilhelmshaven -, wo die Empfängerquoten bei über 20 Prozent liegen. Der Länderfinanzausgleich und Arbeitsmarktprogramme haben bislang nur bedingt dazu beigetragen, diese Schieflage wieder zu begradigen. Wir müssen uns deshalb noch sehr viel intensiver mit den regionalen Arbeitsmarkt- und Beschäftigungsbedingungen auseinandersetzen.

Die Opposition hat das Thema "Aufstocker" dankbar aufgegriffen und beschäftigt den Bundestag ohnehin mit diversen Gesetzesinitiativen, die den Niedriglohnbereich eindämmen und höhere Verdienste ermöglichen sollen. Aber haben SPD, Grüne oder Linke wirklich überzeugendere Konzepte als Schwarz-Gelb?

Gerhard Bäcker: Es gibt kein Patentrezept und wir sollten auch nicht vergessen, dass zwei dieser Oppositionsparteien an der Etablierung eines Niedriglohnsektors entscheidend beteiligt waren. Trotzdem denke ich, dass Schwarz-Gelb massive Fehler gemacht hat, indem die Spaltung des Arbeitsmarktes nicht kontrolliert und gestoppt, sondern noch weiter vorangetrieben wurde.

Nun muss dringend etwas geschehen und ich denke, dass die Vorschläge der Opposition, die sich auf die Einführung eines Mindestlohns, ein Rückkehrrecht auf Vollzeitarbeit oder eine Neustrukturierung der Minijobs beziehen, in die richtige Richtung weisen. Die Probleme des Arbeitsmarkts werden damit nicht verschwinden, aber wir kommen der Zielsetzung, wieder Ordnung auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen, ein Stück näher.