"Viele Unternehmen vollführen vor den Finanzmärkten eine Art Schaulaufen"

Joachim Bauer über die Überanspruchung der Arbeitnehmer in der schönen neuen Arbeitswelt

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Die mit dem Stichwort "Flexibilisierung" überdeckte Entrechung der Lohnabhängigen fordert ihren Tribut: Psychische Erkrankungen und physische Beeinträchtigungen, die vor allem auf zu viel Arbeitsstress zurückzuführen sind, haben in den letzten Jahren um schier unglaubliche 1.800 Prozent zugenommen. Der Neurobiologe, Arzt und Psychotherapeut Joachim Bauer setzt sich in seinem Buch Arbeit - Warum unser Glück von ihr abhängt und wie sie uns krank macht mit diesem Phänomen auseinander.

Herr Bauer, welchen Faktor stellt Arbeit generell im Leben der Menschen dar?

Joachim Bauer: Die Arbeit kann eine Quelle großer Befriedigung, im Idealfall sogar eine Quelle des Glücks sein. Sie kann ein Betätigungsfeld für unsere Kreativität sein, sie kann uns Selbstwirksamkeit erleben lassen, sie kann uns zu Wertschätzung und Anerkennung verhelfen und - nicht zuletzt - kann sie uns soziale Verbundenheit erleben lassen. Die Kehrseite kommt zum Vorschein, wenn schlechte Arbeitsbedingungen uns körperlich und seelisch zusetzen.

Wie hat sich die Arbeit in den letzten 50 Jahren verändert?

Joachim Bauer: Vor 50 Jahren hat die Arbeit viele Menschen vor allem körperlich stark belastet, heute dagegen sind es vor allem psychomentale, also seelische Belastungsfaktoren, die uns zusetzen. Als Belastungsfaktoren ins Gewicht fallen heute vor allem die Beschleunigung der Arbeitsabläufe, die Verdichtung von Arbeit, ständige Unterbrechungen, Multitasking, die Bewältigung großer Mengen an Information und - aufgrund der jederzeitigen Erreichbarkeit durch Internet und Smartphone - das Eindringen der Arbeit in den privaten Bereich. Oft fehlen auch die notwendigen Pausen.

Joachim Bauer. Foto © privat

Welche Rolle spielt die Qualität der Führungspersonals?

Joachim Bauer: Sie spielt eine herausragende Rolle. Ein schlechtes Arbeitsklima, insbesondere eine ungute Art der Mitarbeiterführung wirken sich auf die Gesundheit am Arbeitsplatz besonders schwerwiegend aus. Die Motivationsbotenstoffe unseres Gehirns werden nur dann gebildet, wenn wir für unsere Anstrengungen Anerkennung und Wertschätzung zurückbekommen. Wer sich am Arbeitsplatz verausgabt und keinerlei Rückmeldung bekommt, landet im Burnout.

Mit welchen ökonomischen, politischen und sozialen Entwicklungen hängt diese Veränderung zusammen?

Joachim Bauer: Den Hintergrund für die neuen Belastungen am Arbeitsplatz bilden in den Fabriken elektronisch gesteuerte Arbeitsabläufe und in den Büros die modernen Informationstechnologien. Zu diesen technischen Aspekten kommen die Veränderungen auf den internationalen Finanzmärkten hinzu, die zur "Kultur des neuen Kapitalismus" geführt haben (wie Richard Sennett das nennt) und massiv auf die Arbeitsplätze durchschlagen.

Permanente Umstrukturierung der Unternehmen

Warum?

Joachim Bauer: Das Management großer Industriebetriebe orientiert sich heute vielerorts nicht mehr primär am Ziel einer gedeihlichen langfristigen Entwicklung des Unternehmens. Stattdessen unterwerfen sich Führungskräfte zunehmend dem Wunsch der Investoren nach einer Unternehmenspolitik, die vor allem zu raschen Kursanstiegen an den Börsen führt.

Damit dies geschieht, muss man auf die Finanzspekulanten einen guten Eindruck machen, indem man permanent umstrukturiert und in diesem Zusammenhang die bewährten, qualifizierten, aber angeblich zu teueren Arbeitskräfte entlässt. Die Entlassenen werden durch junge, weniger qualifizierte und vor allem billigere Arbeitskräfte ersetzt, die nur für begrenzte Zeit eingestellt werden und jederzeit wieder entlassen werden können. Derartige Maßnahmen machen an der Börse einen guten Eindruck und lassen die Kurse steigen. Viele Unternehmen vollführen, wie es Richard Sennett ausdrückte, vor den Finanzmärkten eine Art "Schaulaufen".

Welche Folgen zeitigt die Veränderung im Arbeitsleben auf die menschliche Psyche und Gesundheit?

Joachim Bauer: Beschleunigung, Verdichtung, Multitasking, fehlende Pausen und schlechte Mitarbeiterführung haben in den letzten Jahren zu einer massiven Zunahme stressbedingter Gesundheitsstörungen mit geführt. Die Statistiken über die Ursachen von Arbeitsunfähigkeit und Frühberentung sprechen hier eine eindeutige Sprache. Viele Beschäftigte entwickeln ein Burnout-Syndrom, manche rutschen vom Burnout dann sogar in eine Depression.

Was ist der Unterschied zwischen einem Burnout-Syndrom und einer Depression?

Joachim Bauer: Beim Burnout-Syndrom handelt es sich um eine auf den Arbeitsplatz bezogene Leistungs- und Motivationsstörung, während die Depression alle Lebensbereiche eines Menschen erfasst. Typische Kennzeichen einer Depression sind der Verlust des Selbstwertgefühls, der Verlust der Lebensfreude und Gedanken, sich etwas anzutun. Beim Burnout handelt es sich um eine Erschöpfung mit einer Unfähigkeit, sich zu erholen, um einen Verlust der Arbeitseffizienz und um einen vorher nicht vorhandenen Widerwillen gegenüber dem Arbeitsumfeld.

Dann ist eine Gleichsetzung von Burnout-Syndrom und Depression ist unsinnig?

Joachim Bauer: Mit der Beseitigung des Burnout-Konzeptes und seiner Gleichsetzung mit einer Depression würde die Bedeutung des Arbeitsplatzes für die Gesundheit außer Betracht geraten. Wir sollten uns dafür hüten, arbeitsbedingte Gesundheitsstörungen zu psychiatrisieren. Psychopharmaka sind kein Ersatz für gute Arbeitsbedingungen.

Sie stellen in Ihrem Buch die These auf, dass der Mensch evolutionär nicht für die aktuelle Form von Arbeit geeignet sei. Auf welche Erkenntnisse und Forschungsergebnisse konnten Sie sich dabei stützen?

Joachim Bauer: Dazu reicht ein Blick zurück in die Evolutionsgeschichte des Menschen. Unsere Vorfahren waren über Jahrhunderttausende umherziehende, sich in freier Natur aufhaltende Lebewesen. Menschliche Arbeit im heutigen Sinne - vor allem Arbeitsteilung - gibt es erst seit etwa 10.000 Jahren. Erst seit dieser Zeit hat der Mensch begonnen, in Steinbrüchen zu schuften, Felder zu beackern und zu bewässern oder Tiere zu züchten. Für Sesshaftigkeit, Bewegungsmangel und soziale Desintegration, wie sie die Arbeitswelt mit sich bringen, sind wir weder biologisch noch psychologisch gemacht.

Wie müsste Arbeit generell beschaffen sein, um von den Menschen nicht mehr als Belastung und Qual empfunden zu werden?

Joachim Bauer: Arbeit darf uns durchaus anstrengen, die uns gestellten Aufgaben müssen sich aber an unserer Leistungsfähigkeit und unseren Erholungsbedürfnissen orientieren. Andauernde Hetze und Zeitdruck sind zu vermeiden, ebenso eine zu große Monotonie. Die Arbeit sollt eine gewissen Anforderungsvielfalt beinhalten. Etwa stündlich sollten kurze Pausen, nach etwa vier Stunden eine längere Pause möglich sein. Besonders wichtig ist ein gutes kollegiales Klima und eine freundliche und gerechte Mitarbeiterführung.

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