Hoeneß und die Doppelmoral im Sport

Der Sport ist zum Abbild gesellschaftlicher Ungerechtigkeit und Unmoral geworden

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Der Fußball wird bald offiziell 150 Jahre alt - die englische Football Association (FA) feiert ihr großes Jubiläum. Einst als proletarisches Gehaue verschrien, ist er heute die wohl beliebteste Sportart der Welt, und ihre Repräsentanten aus den Verbänden und Vereinen feiern sich selber gerne als Stützen der Gesellschaft. Der Sport allgemein wird gerne als unpolitisches Faszinosum dargestellt: die Alltagssorgen bleiben draußen, denn im Stadion geht es angeblich nur um Leidenschaft und Emotionen, um Fair-Play und menschliche Werte. Ein spielerisches Kräftemessen unter Freien und Gleichen - quasi das Gegenteil von Kapitalismus.

In Wirklichkeit ist aber das genaue Gegenteil der Fall, wenn man die Fußball- und Sport-Geschichte der letzten Jahrzehnte realistisch betrachtet: Der Sport ist zum Abbild gesellschaftlicher Ungerechtigkeit und Unmoral geworden. Dass nun gerade der Fall Hoeneß als angeblich großer Skandal benannt und diskutiert wird, zeigt gerade nicht die Selbstreinigungskräfte dieser Dynamik auf, sondern entblößt eigentlich nur die dahinterstehende Verlogenheit. Hinter den großspurig vorgetragenen moralischen Anklagen gegen Hoeneß von Seiten der Presse, der Fans, der Bevölkerung und der Politik verbirgt sich eine billige Doppelmoral gegenüber der eigenen Beteiligung an dieser Entwicklung des Sports.

Am deutlichsten wurde dies im sogenannten Doping-Skandal des Radsports. Nachdem die lukrativen Events der Tour der France, des Giro d'Italia und der Vuelta jahrzehntelang von den großen Radsport-Nationen Frankreich, Italien, Spanien und Deutschland dominiert wurden, schien den Verantwortlichen, die größere internationale Profite in der Vermarktung etwa der TV-Rechte einfahren wollten, klar zu werden, dass diese Hegemonie für das Publikum andere Länder unattraktiv wurde. Die Gründung etwa des kasachischen Astana-Teams - finanziert mit Geldern der Öl-Diktatur, die by the way von der deutschen Regierung als "strategischer Wirtschaftspartner" bezeichnet wird - zeigte, dass das große Geld für die großen Sportarten in Zukunft woanders zu holen sein wird.

Einige Fußballstars und -teams hatten dies schon lange zuvor begriffen: Didier Drogbar, Zinedine Zidane, die brasilianische Selecao oder auch der FC Bayern ließen sich Show-Auftritte, Saison-Engagements oder gar Trainingslager in den Unrechts-Staaten Dubai, China oder Russland sehr gut bezahlen, Schalke 04 wählte sich Gazprom als Hauptsponsor, und auch im Tennis wurden große Turniere (wie der Damen-Grand Prix in Berlin) immer öfter von arabischen Öl-Potentaten vom Golf gesponsort. Die Weltranglisten im Tennis-Sport sind heuer von russischen Spielerinnen und Spielern - zumeist Kinder aus Oligarchen-Familien - besetzt.

Angestrengtes Wegschauen

Der Radsport, der als westeuropäisches Reservat galt, aber wollte genau diese Märkte und zudem den großen US-amerikanischen auch erschließen. Die große Anti-Doping-Säuberungswelle begann vor Jahren damit, dass sich im US-amerikanischen Radsportverband die Fraktionen umsortierten und der große Star Lance Armstrong Unterstützer und Fürsprecher verlor (obgleich im American Football oder im - in den USA beliebten - Profi-Bodybuilding bestimmte Medikamente noch erlaubt sind, die in Europa wegen Gesundheitsgefährdung verboten wurden).

Während die Verantwortlichen aus Politik und Radsport in Südeuropa eher alibihafte Gesetze und Razzien gegen Doping-Verdächtige durchsetzten, erkannte der Präsident des deutschen Radsport-Verbandes, Rudolf Scharping, bereits, woher der neue Wind weht und setzte auf einen klaren Anti-Doping-Kurs. Analog zu scheinheiligen Gesundheits-Kampagnen und den hysterischen Anti-Raucher-Gesetzen der EU wurde ein Null-Tolerance-Kurs in ganz Europa durchgesetzt, dem fast alle bekannten Rad-Stars zum Opfer fielen. Während Jan Ullrich finanziell bereits gut abgesichert war, wurde jüngeren Fahrer oft ihre Zukunftsexistenz geraubt, der italienische Champion Marco Pantani etwa nahm sich in einer Pension in Riccione das Leben. Dass alle Beteiligten des Radsport-Hypes der 90er - Sponsoren, Verbände, Medien, Trainer, Manager - von dem breiten Doping-System wussten und davon profitierten, dürfte mithin offensichtlich sein. Die publikumsattraktiven Leistungssteigerungen, die es in diesen Jahren gab, dürften ansonsten einem Wunder zu verdanken gewesen sein.

Der "Doping-Arzt" Fuentes räumte vor kurzem im Prozess gegen ihn ein, dass sein eigenes Doping-System weit über den Radsport hinaus installiert war, er selber hätte auch viele bekannte Fußballer unter den Kunden gehabt. Wie in den Medien breit berichtet wurde, bot er dem Gericht an, alle Namen, auch die von eingeweihten Funktionären, offenzulegen. Die Richterin in Madrid lehnte dies mehrmals ohne Begründung ab. Vor allem viele Sportärzte dürften Teil einer forcierten medikamentösen Leistungssteigerung im Spitzensport sein. In den letzten Monaten stand der Bayern-Spieler Breno in München vor Gericht, nachdem er nachts sein Haus angezündet hatte. Er gab an, unter Einfluss starker Psychopharmaka gehandelt zu haben. Diese hätte ihm das medizinische Team des Vereins unkompliziert und regelmäßig ausgehändigt, was dort gang und gäbe sei zur Leistungssteigerung.

Verwertungsoptimierung und Gewinnmaximierung

Der Bayern-Präsident Hoeneß inszenierte sich gerne als engagierter Bürger: Nach der Brunner-Prügelattacke rief er zu mehr Zivilcourage auf, in seinem Wohnort im Tegernseer Tal trat er als privater Sponsor lokaler (Sport-)Vereine und Einrichtungen auf, den pleitebedrohten linken Kiez-Club FC St. Pauli unterstützte er mit einem Benefiz-Spiel. Populismus und Charity - eine gute Mischung, um das Bild des sauberen Sports aufrechtzuerhalten.

Ähnlich inszenierte sich der Ex-Präsident des DFB, Theo Zwanziger: Er kämpfte gegen Homophobie, für den Fußball-Fußball und nach dem Bekanntwerden von Depressionsfällen unter Bundesliga-Profis gegen den exzessiven Leistungsdruck. Im Gegensatz zu seinen toleranten Statements war seine Amtszeit aber von ganz anderen Entwicklungen geprägt, von einem massiven Anstieg der Eintrittskartenpreise, von der Verlagerung auch von Top-Spielen ins Pay-TV, von der Separierung der Breitensport-Vereine von den millionenschweren Top-Clubs, die sich zum eigenen Interessenverband zusammenschlossen, um mehr Profit zu erwirtschaften.

Uli Hoeneß, erst als Bayern-Manager, dann als -Präsident, trieb diese Verwertungsoptimierung wie kein anderer voran, um mit den Clubs in Spanien und England mithalten zu können. Die Umsatzpotenzierung aber fordert selbst in der Elite Opfer: Real Madrid hat sich mit seinen Rekordtransfers in eine Schuldenkrise manövriert, die englischen Vereine - finanziert z.B. vom Putin-treuen Oligarchen Abramovitsch - konnten sich mit Geld keinen Erfolg kaufen.

Laut verschiedener Umfragen plädiert die Mehrheit der Deutschen für den Rücktritt von Hoeneß vom Präsidenten-Amt des FC Bayern. Die Steuerflucht ist als Skandal der Grund. Dabei wäre der eigentliche Skandal schon die Agenda gewesen, die Hoeneß dem modernen Fußballgeschäft aufoktroyierte: das reine Verwertungsprinzip - während sich Familien, die von Hartz IV leben müssen, nicht einmal Fußballschuhe für ihre Kinder leisten können. Die größer werdende Schere von Arm und Reich als Ergebnis auch von Steuerungerechtigkeit hatte er sportökonomisch und -politisch schon lange realisiert.

In der globalen Klassengesellschaft des modernen Elite-Sports aber ist selbst Uli Hoeneß nur ein kleiner Akteur und seine Millionen sind tatsächlich nur Peanuts: Wenn es um das ganz große Geld geht und das Vergnügungsprinzip von Brot und Spielen, dann schaut man in allen Ländern gern großzügig über die negativen Seiten des Leistungssports hinweg, während im Missverhältnis dazu andere Themen politisch und medial groß inszeniert werden: In den USA beispielsweise ist seit langem bekannt, dass aufgrund gesundheitlicher Spätfolgen kaum ein Footballspieler älter als fünfzig und zuvor weit überdurchschnittlich oft an Parkinson erkranken wird oder dass Vergewaltigungen im College-Bereich überproportional oft von College-Footballern und -Basketballern - deren Teams das Aushängeschild der Unis sind - verübt werden. In der Türkei wurde die Süperlig von einem umfänglichen Wett- und Finanzskandal erschüttert, in den auch die drei Top-Clubs Galatasaray, Besiktas und Fenerbahce verwickelt waren. Sogar Vereinspräsidenten wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt - und doch war ihr Geschäftsgebaren jahrelang eher ein offenes Geheimnis.

Genauso bekannt ist, dass fast alle Großverdiener des Sports auch in Deutschland ihren Wohnsitz in Steuerparadiese verlegen, was von der Politik kaum kritisiert wird: Von Boris Becker über Sebastian Vettel bis zu Michael Schumacher und Günther Netzer, der mit seinen TV-Sportrechteverwertungsgesellschaften Teil der undurchschaubaren FIFA-Elite ist. In Italien machte Schlagzeilen, dass der Nationalspieler Gattuso EU-Gelder von der sizilianischen Regierung erhielt, die für eine Tourismus-Image-Kampagne gedacht waren.

Fair Play?

Nur ab und an gibt es juristische Sanktionen: Der Motorrad-Star Marco Melandri wurde zu knapp zwei Jahren Gefängnis verurteilt wegen Steuerhinterziehung, der neunfache Weltmeister Valentino Rossi, in Italien ein Nationalheld, konnte eine größere Strafe für seine Steuerhinterziehung von 112 Millionen Euro mit einer Strafzahlung von 35 Millionen verhindern. In Mexiko oder China ist der Fußball komplett in der Hand von Tycoons: Alle Topteams gehören Milliardären. In Afrika, Osteuropa oder Mittelamerika haben selbst talentierte Jugendliche keine Chance, Profi-Fußballer zu werden, da sich nicht mal die Mitgliedsbeiträge für die Vereine leisten können, zu deren Spielen die Talent-Scouts aus Europa anreisen. Da wirkt es absurd, wenn die FIFA einen Kodex herausgibt, nachdem Politik (und damit Wirtschaftsinteressen) und Sport in der je nationalen Verbandspolitik eindeutig zu trennen seien.

Fair Play? Das zählt im Sport weder etwas auf dem Spielfeld noch außerhalb: Zur FIFA-WM gab die Regelkommission ganz offen die Order heraus, im Zweifel sollten die Schiedsrichter für Teams aus Afrika oder Asien pfeifen, damit sich die Fans dort als Teil des globalen Fußballs fühlen könnten, wichtige Märkte der Zukunft eben. Mit der Förderung des Breitensports nimmt man es aber nicht so genau: Mit einem Teil der WM-Milliarden-Erlösen in Südafrika etwa wollte die FIFA einen großen Fonds für Jugendvereine gründen, wie zuvor generös verkündet wurde. Daraus ist bis heute nichts geworden: es gäbe "organisatorische Schwierigkeiten".

Im Vorfeld von Olympia in Peking und Sotschi wurden und werden ärmere Einwohner vertrieben oder gar enteignet, um Sportstätten zu errichten, selbst im links regierten Rio de Janeiro ist Ähnliches angekündigt. Bei allen großen und profitträchtigen Veranstaltungen wie Olympia ist es auch üblich, bis zu zehntausend Volunteers einzusetzen, die ohne Honorar mitarbeiten. Geworben wird dafür mit dem Gemeinschaftsgefühl und dem Dabeisein. Gesundheitsgefahren lässt man dabei außer Acht, in der Formel 1 gab es mehrere schwere Unfälle, von denen auch Volunteers als Streckenposten betroffen waren, es gab sogar einen Todesfall. Die neueren Sicherungsmechanismen z.B. in den Autos schützen zwar die Fahrer, aber nicht die Hilfskräfte.

Die mutmaßliche Steuerhinterziehung von Uli Hoeneß ist also nicht die Ausnahme im Geschäft des Sports. Sie zeigt nur auf, nach welchen Regeln im heutigen Sport einzig und alleine wirklich gespielt wird: nach den Regeln der Reichen.