Bomben ins Blaue

Israels Geheimdienste wissen nur wenig über die Lage in Syrien. Dennoch hat die Luftwaffe Ziele dort bombardiert - eine gefährliche Aktion, warnen Kritiker

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Analysten und Mitarbeiter des israelischen Sicherheitsapparates warnen bereits seit langem, dass das Wissen über die Lage im Nachbarland Syrien und die dort agierenden Kampfgruppen gefährlich gering sei. Dennoch hat Israels Sicherheitskabinett am Wochenende mindestens zwei Luftschläge (Gezielte Militärschläge auf syrischem Terrain) gegen Ziele in Syrien angeordnet - in einer Situation, in der eine junge, unerfahrene Regierung in Israel auf eine unglaublich komplexe, kaum noch zu durchschauende Situation in Syrien trifft. Auf eine Eskalation dürfte Israels Führung in dieser Situation kaum eingestellt sein. Die Reaktionen im Land selbst sind dementsprechend verhalten.

Benjamin Netanjahu ist ein Mann, der die starke Pose liebt: Immer und immer wieder, schon seit er Politik macht, verweist er auf seine militärische Vergangenheit, und wenn dann Wahlkampf ist, dann lässt er sich als derjenige, dem Allereinzigen, inszenieren, der verhindern kann, dass zwischen Mittelmeer und Jordan die Hölle losbricht, der Iran die Bombe, der Sudan seine Migranten, die Syrer Granaten, und Hisbollah, Hamas, Islamischer Dschihad und Sonstige Raketen nach Israel schicken. Gerne lässt er dabei auch durchblicken, dass er der einzige Politiker sei, der auf seinem Feldzug um die Sicherheit des Staates nicht davor zurück scheue, US-Präsident Barack Obama, oder der türkischen Regierung oder der jordanischen die Stirn zu bieten.

"Bibi ist Generalstabschef, Mossad-Direktor und Premierminister in Einem; er weiß alles besser, und er ist mit Leuten umgeben, die ihm das stets das Gefühl geben, dass er Recht hat", sagt Meir Dagan, der bis 2009 Chef des Mossad war und nun einer der wortreichsten Kritiker der aktuellen Sicherheitspolitik ist: "Die Meinung der Experten geht dabei sehr oft unter - weil sie nicht dem entspricht, was man in einer bestimmten Situation gerade hören will."

In der Tat: Die Liste der Beschwerden ist lang. So klagen Mitarbeiter des Außenministeriums darüber, dass Netanjahu und sein ehemaliger Außenminister Avigdor Liebermann im Laufe der vergangenen vier Jahre nahezu jede verbündete Regierung vergrätzt haben. Und die drei Geheimdienste Mossad (Ausland), Schin Beth (Inland) und Aman (Militär) schicken Ex-Chefs wie Dagan vor, um der Öffentlichkeit das Klagelied von Budgetkürzungen und Personalabbau unter der Regierung Netanjahu zu singen.

Verhaltene Reaktionen auf die Militäreinsätze in Syrien

Denn das, so stets der Tenor, habe sehr reale Auswirkungen auf die Sicherheit des Landes: Man wisse nichts, sehr viel weniger, als man wissen könnte, über die Lage in Syrien. Denn es fehle das Personal. Und es fehle, dank Netanjahus gebotener Stirn, der gute Draht zu den Sicherheitsdiensten der USA und der Türkei, die beide ihre Geheimdienstkooperation auf ein Minimum zurückgefahren haben - erstere, weil immer die Gefahr besteht, dass Israel diese Informationen dazu benuzt, gegen den Iran los zu schlagen. Letztere, weil Israel das Nachbarland von Iran und Syrien zum Einen durch die Militäroperation gegen die Gaza-Hilfsflotte im Mai 2010 tief verärgert hat, und Ankara zudem kein Interesse daran hat, die Lage in Syrien weiter eskalieren zu lassen.

Dementsprechend verhalten sind auch die Reaktionen auf die Militäreinsätze in Syrien. Sie waren es, nachdem Israels Armee kurz nach den Wahlen das erste Mal zuschlug, und Netanjahu unverhohlen vorgeworfen wurde, er habe den Einsatz angeordnet, um seine Chancen in den extrem komplizierten Koalitionsverhandlungen zu erhöhen.

Und sie sind es auch jetzt, nachdem die Luftwaffe am Freitag und dann nochmals am Sonntag Ziele in Syrien angegriffen hat. Eine offizielle Bestätigung dafür gab es am Sonntag noch noch nicht; allerdings wurde der Luftraum über dem Norden Israels geschlossen. Insgesamt wird davon ausgegangen, dass es sich bei den angegriffenen Zielen um für die libanesische Hisbollah bestimmte Waffentransporte gehandelt hat.

Was passiert, wenn es zur Eskalation kommt?

Die Organisation, mit der Israel im Sommer 2006 in einen zerstörerischen Krieg verwickelt war, habe, sagen Sicherheitsexperten übereinstimmend, vor dem Bürgerkrieg im mit ihr verbündeten Syrien Raketen gelagert, um sie vor den UNO-Friedenstruppen, aber auch vor der libanischen Armee in Sicherheit zu bringen. Und nun, nachdem die Lage in Syrien zunehmend unüberschaubarer wird, bemühe sie sich, die Waffen wieder zurück in den Süden des Libanon zu transportieren. Ob das so ist, oder ob Syriens Präsident Baschar al Assad die Hisbollah mit, was eine andere Befürchtung ist, Chemiewaffen aufrüstet, dafür gibt es in keinem der beiden Fälle eine Bestätigung.

Wie für so vieles andere auch: Niemand wisse, sagt Ex-Mossad-Chef Dagan, wer die einzelnen Rebellengruppen sind, wie sie miteinander zusammen arbeiten, ob die Hisbollah wirklich noch auf Seiten der syrischen Regierung steht, und vor allem: Wie die Beziehungen all' dieser Gruppierungen, deren Zahl sich zudem auch noch ständig ändert, zu radikalen Organisationen im Ausland aussehen. Dagan: "Eines kann ich aber mit Bestimmtheit sagen: Es gibt eines, was diese Gruppen mehr hassen als die syrische Regierung: uns."

Wie viele andere aus dem Umfeld des Sicherheitsapparates deutet er ein Schreckensszenario aus: Was passiert, wenn es zur Eskalation kommt? Syriens Armee zurück schlägt, möglicherweise in Verbindung mit der Hisbollah? Ende Januar waren es die Koalitionsverhandlungen gewesen, die die Regierung nahezu Vollzeit in Anspruch nahmen. Dieses Mal hielt Regierungschef Netanjahu, als wäre nichts, an einem geplanten Besuch nach China fest, zu dem er in der Nacht zum Sonntag abreisen sollte; ob er tatsächlich reist, war am Abend noch unklar.

Falls er fliegt, verabschiedet er sich damit auf eine Zeit, während derer er auf Entwicklungen zu Hause nicht nur nicht reagieren kann, sondern auch per Gesetz nicht reagieren darf. Die Regierung wird in dieser Zeit vom stellvertretenden Regierungschef (nicht zu verwechseln mit dem Vize-Regierungschef, einem Titel ohne Bedeutung) geführt, eine Regierung, die zu einem erheblichen Teil aus Politik-Neulingen besteht - wie übrigens auch das Parlament, in das mit der letzten Wahl ("Bread and Butter" statt Krieg und Frieden) mehr als 50 der Abgeordneten zum ersten Mal in die Knesseth gewählt wurden, und die zudem auch noch so gut wie keine Zeit gehabt haben, sich einzuarbeiten.

Abwiegeln und Zweifel

Dennoch wiegeln Sprecher der Regierung ab: Es sei alles unter Kontrolle. Und anders als der Sicherheitsapparat ist die Zustimmung zum Militärschlag in der Politik groß. Die Militärschläge seien notwendig gewesen, heißt es unisono; Israels Regierung habe die Pflicht, die Grenzen und die Bevölkerung des Landes zu verteidigen.

Die Drohungen aus Damaskus, aus Teheran, und aus dem Süden Libanon, die nun zu hören sind, seien nichts weiter als "Geschwätz, dass man schon tausend Mal gehört hat, ohne das was passiert ist", sagte Handelsminister Naftali Bennett, Chef der Siedlerpartei HaBajit HaJehudi. Und der ehemalige Verteidigungsminister Benjamin Ben Eliezer sagte, falls es die Angriffe gegeben habe, dürften sie die Situation nachhaltig verändert haben.

Nur: Wie schon im Januar weisen auch jetzt die Kommentatoren wieder darauf hin, dass noch eine ganze Menge weiterer Waffen, ganz gleich ob chemisch oder konventionell, übrig geblieben sein dürften, und niemand genau wisse, wo welche schlafenden Hunde geweckt worden sein könnten - zu wenig sei über das Zusammenspiel der einzelnen Gruppierungen in Syrien untereinander, aber auch mit der Hisbollah, der Hamas und Iran bekannt.

Und dann müsse auch aus israelischer Sicht immer wieder die Frage nach dem gestellt werden, was nach dem Bürgerkrieg komme: In der Vergangenheit war es so, dass man in Israel mehr oder weniger geheim darauf gehofft hat, dass Syriens Regierung die Oberhand gewinnt, weil man Präsident Baschar al Assad eben kennt und ihn einschätzen kann. Über die Opposition hingegen weiß man wenig; über das, was nach ihrem Sieg passieren wird, noch weniger.

Zudem werden immer wieder Zweifel an den Beteuerungen der Politik laut, mit der Einführung des Iron Dome-Systems zur Raketenabwehr hätten sich die Grundvoraussetzungen für Konflikte grundlegend verändert; ein Situation wie jene während des Libanon-Krieges 2006, als tausende Raketen im israelischen Norden niedergingen, könne sich nicht wieder holen.

Iron Dome: Kein Allheilmittel

Nur: Wenn der Krieg im Gazastreifen im vergangenen November eine Erkenntnis gebracht hat, dann ist es die, dass der Iron Dome eben kein Allheilmittel ist. Zwar ist das System in sich ausgesprochen effektiv und fängt tatsächlich einen Großteil der Raketen ab, die es abfangen könnte. Aber die Zahl der Geschosse, die abgefangen werden könnte, ist durch die Zahl der Abwehrraketen im Iron Dome-System beschränkt, und weitere Batterien können nur schwer hinzu gefügt werden, weil es Monate dauert, zusätzliche Soldaten daran auszubilden.

Dementsprechend gelang es während des Gaza-Krieges den Kämpfern der Hamas immer wieder, das System zu überlisten, indem sie Dutzende Raketen gleichzeitig abschossen. Und bei einer weiteren Eskalation ist es nicht abwegig, dass gleichzeitig Raketen aus dem Südlibanon, aus Syrien, möglicherweise auch aus dem Gazastreifen und von der Sinai-Halbinsel aus abgefeuert werden. Ägyptens Militär hat dort nur kaum noch die Kontrolle, was dazu führt, dass sich einige der militanten Kleingruppen aus dem Gazastreifen Basen in der Wüstenregion aufgebaut haben. So wurden vor einigen Wochen Raketen auf Eilat abgefeuert.

Ankara ist sauer

Es ist auch die Sorge vor einer Eskalation, die die Reaktionen aus dem Ausland dominiert. Man beobachte die Entwicklungen mit großer Sorge, heißt es im türkischen Außenministerium: Die Gefahr, dass der Konflikt endgültig auf türkisches Gebiet übergreife, sei groß. Und ein Sprecher der Regierung mahnte am Sonntag öffentlich alle Beteiligten dazu, nichts zu tun, was aus dem Bürgerkrieg einen regionalen Konflikt werden lasse.

Übersetzt dürfte das bedeuten: Ankara ist sauer. Was sich auch daran ablesen lässt, dass am Samstag abend ein hochrangiger Mitarbeiter der türkischen Botschaft im israelischen Außenministerium vorstellig wurde. Offiziell handelte es sich dabei um ein "Arbeitsgespräch". Doch die türkische Seite macht keinen Hehl daraus, dass man gegen den Militärschlag gegen Ziele in der Nähe von Damaskus protestieren ließ.

Denn: Nach Jahren der Funkstille hatte sich Israels Netanjahu auf Drängen von US-Präsident Barack Obama gerade zu einer Entschuldigung für den Angriff auf die Gaza-Flotte durchgerungen, und damit die Tür für eine Wiederaufnahme für volle diplomatische Beziehungen und der Kooperation in Sicherheitsfragen geöffnet. Ein Grund dafür war, dass sich Washington erhoffte, dass beide Seite gemeinsam auf eine Stabilisierung der Lage in und um Syrien herum hinarbeiten.

Mit dem nicht abgesprochenen Luftschlag habe Israel diese Hoffnungen erschüttert und die Türkei damit in eine präkäre Situation gebracht, heißt es in Ankara: Man sei nun in einer Situation, in der man wieder in der Nähe Israels gesehen werde, sei mit einer Lage in Syrien konfrontiert, die man selbst auch kaum überschaue, und müsse deshalb befürchten, dass der Süden der Türkei zum Krisengebiet werde.

"Bitte auf weitere Alleingänge verzichten"

Eine ähnliche Gefühlslage ist auch in Washington zu hören. Zwar erklärte man dort offiziell, Israel habe das Recht sich zu verteidigen. Aber auch hier besteht kein Zweifel daran, dass man das Gegenteil von begeistert über den Angriff ist: An einer internationalen Kooperation in der Syrien-Frage führe kein Weg vorbei, sagt ein Mitarbeiter der US-Botschaft in Tel Aviv.

Und am Sonntag abend rief sein Chef, Außenminister John Kerry, in Jerusalem an. Er wurde nach dem Staatsbesuch Obamas in Israel damit beauftragt, in der Palästinenser- und der Syrien-Frage zwischen den Beteiligten zu vermitteln und pendelt seitdem zwischen Washington und Nahost hin und her, um eine gemeinsame Vorgehensweise zu koordinieren. Seine Aufforderung an Netanjahu nun: Er solle bitte auf weitere Alleingänge verzichten.