"Es ist Zeit, sich zu erheben"

Demonstrant am 1 Mai. Bild: W. Aswestopoulos

An eine Rettung über den aktuellen Eurorettungsschirm und die damit verbundenen Sparmaßnahmen glaubt in Athen niemand mehr

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Am Wochenende feierten die Griechen das orthodoxe Osterfest. Recht unorthodox wurde deshalb der 1. Mai schlicht per Gesetzeserlass verschoben. Die "Maifeier" soll nun am Dienstag stattfinden. Dass deshalb zum internationalen Tag der Arbeit in Athen und anderen griechischen Städten kaum etwas los war, hatte somit einen Grund. Es ist mitnichten so, dass die Griechen sich ihrem Schicksal gebeugt hätten, wie es in manchen Medien zu lesen ist.

Tatsächlich fehlt es zur Beschreibung der Lage im Land an brauchbaren Statistiken. Zwar ist bekannt, dass die Zahl der Selbstmorde seit dem Ausbruch der Krise dramatisch anstieg. Wie viele der, je nach Zählweise bis zu 4000 Selbstmorde seit Mai 2010 wirklich auf das Konto der Krise gehen, wird schlicht nicht statistisch erfasst. Erst jetzt werden die Zahlen von den Jahren vor der Krise statistisch ausgewertet. Demnach gab es bereits im Zusammenhang mit der Lehmann-Krise und der folgenden weltweiten Rezession einen dramatischen Anstieg der Selbstmorde ("Austeritätspolitik ist unwissenschaftlich und gefährlich").

Der Staat wies im ersten Quartal ein statistisches Kassenplus auf. Das stimmt die Europäer froh. Nicht bekannt wird, dass außer zahlreichen Angestellten des Privatsektors auch Beamte wie Ärzte und Pfleger dafür seit Monaten keinen Lohn erhalten. Schlimmer noch, ausgerechnet zu Ostern wurden die in der vergangenen Woche versprochenen Speisungen des unbezahlten, zum Feiertagsdienst verdammten Krankenhauspersonals ohne Vorankündigung gestrichen. Fast ein Drittel der Griechen hat überhaupt keinen Zugang mehr zum staatlichen Gesundheitsdienst. Die Unversicherten gehören zu den Ersten, welche die krisenbedingte Einschränkung der Menschenrechte buchstäblich am eigenen Leib zu spüren bekommen. Wer ohne Arbeit oder Einkommen ist, muss versuchen, ohne Medizin zu überleben oder aber auf milde Gaben hoffen.

Ein Kassenplus um jeden Preis. Das ist es wonach die griechische Regierung strebt. Sie verkündet bei jeder Gelegenheit, dass dies gemäß den Vereinbarungen mit den Geberländern zu einem weiteren Schuldenschnitt führen würde. Genau das, was Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble nicht mit sich machen lassen möchte. Eben drum versucht sich die Regierung von Premier Antonis Samaras bis zu den Bundestagswahlen im September zu halten. Danach, so hofft man, werde es eine Lösung der Krise geben.

An eine Rettung über den aktuellen Eurorettungsschirm und die damit verbundenen Sparmaßnahmen glaubt in Athen niemand mehr. Stattdessen wurschtelt sich die Regierung wortwörtlich durch. Dass dabei mehr zerstört als aufgebaut wird, versteht sich von selbst. Bei der traditionellen Karfreitagsprozession wurden die mitmarschierenden Politiker von den weiteren Besuchern gnadenlos ausgebuht und beschimpft.

Bild: W. Aswestopoulos

Proteste zum Osterfest statt am ausgefallenen Arbeitertag

Die Gläubigen hatten sich ihre Wut vom ausgefallenen 1. Mai für den Karfreitag aufgehoben. Ein ähnlich surreales Bild zeigte sich in Kolonaki, dem teuersten Stadtviertel Athens, zur Auferstehungsmesse. Pünktlich um Mitternacht in der Nacht zum Sonntag verkündete Erzbischof Ieronymos "Christos anesti" (Christus ist auferstanden). Während die Glocken läuteten und Ieronymos mit weiteren hochrangigen Kirchenvertretern die Psälme anstimmte, demonstrierte die vor der Kirche postierte Ehrenwache ihren Protest auf eine eigentümliche Art. Die stramm stehenden Kadetten der Marine stimmten die Nationalhymne an, was für alle hörbar über das Fernsehen übertragen wurde. Die meisten Griechen fühlen sich in der Eurokrise wie in einem besetzten Land. Sehr oft gibt es Vergleiche zum Zweiten Weltkrieg. Im Mittelpunkt der Kritik steht dabei die Kanzlerin. Die Nationalhymne hat gerade deshalb eine besondere Symbolfunktion.

1.-Mai-Demonstration in Athen. Bild: W. Aswestopoulos

Mittlerweile rufen bereits Bischöfe zum Aufstand auf. Bischof Nikolaos von Mesogaia übte über den kirchlichen Nachrichtendienst Romfea Kritik am Zustand der Gesellschaft, am vorherrschenden Hass und der geistigen Armut. Außer dieser Botschaft zur "Anastasi" (Wiederauferstehung) gab es jedoch eine zweite, "wenn wir nicht aufwachen, dann sind wir am Ende. Es wird keine Fortsetzung geben! Es ist Zeit, sich zu erheben", sagte er in seiner Predigt und rief damit unverhohlen zur Epanastasi (Aufstand) auf.

Weimarer Rezepte

Nicht ohne Grund wettert Nikolaos gegen den vorherrschenden Hass. Allgegenwärtig sind die Aktionen der rechtsradikalen Chryssi Avgi. Zur österlichen Reisewelle, bei der die Hellenen traditionell aus den Großstädten in ihre Dörfer flüchten, hatten die Rechtsextremen sich an Mautstationen postiert und teilweise die Mautzahlung behindert. Diese Aktion brachte ihnen die Zustimmung seitens der von der Zahlung befreiten Fahrer ein.

Alexis Tsipras demonstrierte am 1. Mai. Bild: W. Aswestopoulos

Als einzige Partei zeigen sie in Umfragen eine wachsende Zustimmung der Wähler, da die übrigen Parteien entweder zu sehr in den Sparkurs involviert sind oder aber wie SYRIZA und die Unabhängigen Griechen unter Abspaltungen leiden. SYRIZA steht ausgerechnet seitens des früheren Chefs Alekos Alavanos unter Druck. Alavanos, der Alexis Tsipras zum Parteivorsitzenden gemacht hatte, wettert nun gegen seinen politischen Ziehsohn. Seine Bewegung "Plan B" propagiert die Rückkehr zur Drachme.

Für die kommende Europawahl fürchten viele deshalb ein für das Land peinliches Ergebnis mit extrem hohen Prozentzahlen für die Chryssi Avgi. Bei Europawahlen und Kommunalwahlen gilt für die meisten traditionsbewussten Griechen als Gewohnheitsrecht, die Partei zu wählen, welche die etablierte Politik am meisten ärgert und daher als besonders systemkritisch gibt.

Armenspeisungen als PR-Mittel

Für die 2014 aus Kostengründen gleichzeitig mit den Europawahlen stattfindenden Kommunalwahlen rüstet sich bereits der amtierende Bürgermeister Athens, Giorgos Kaminis. Knapp 63 Prozent der Griechen sollen einigen Umfragen zu Folge ein Verbot der als neonazistisch eingestuften Chryssi Avgi befürworten. Was lag für den unter sinkender Beliebtheit leidenden Kaminis also näher, als mit einer offenen Konfrontation gegen die Extremisten Punkte zu sammeln? Demonstrativ verbot er eine "Essensausgabe nur für Griechen", welche die Chryssi Avgi am Kardonnerstag am zentralen Syntagmaplatz durchführen wollte.

Im fast menschenleeren Athen, aus dem die Meisten bereits in ihre Dörfer abgereist waren, hätte kaum jemand von dieser Aktion Notiz genommen, zumal sie am frühen Morgen stattfinden sollte. Die Partei versuchte es trotzdem und wurde von der Einsatzpolizei unter Tränengaseinsatz vertrieben. Im Fernsehen gab es dann die für die Partei nützlichen Bilder. Sie zeigte sich systemfeindlich, weil die Polizei gegen sie vorging. Als Gimmick gab es verzweifelte, mittellose Menschen, die sich PR-wirksam beschwerten, dass ihnen der Zugang zur Armenspeisung versagt wurde.

Kurzerhand organisierte die Partei die Essensausgabe bei ihrem Parteibüro am Athener Hauptbahnhof. Wenige Meter weiter hatte Kaminis seine kommunale Osteressensausgabe samt Geschenken für mittellose Kinder organisiert. Die Chryssi-Avgi-Anhänger erfuhren, dass der Bürgermeister höchstpersönlich anwesend war. Unter Benutzung seines Abgeordnetenausweises erlangte Giorgos Germenis Zugang. Der Rechtsextreme wollte dem Bürgermeister die Leviten lesen und hatte offensichtlich vor, das Stadtoberhaupt zu schlagen. Kaminis Wache griff ein und ein Handgemenge entstand. Dabei wurde ein anwesendes zwölfjähriges Mädchen von einem Fausthieb getroffen. Der abgedrängte Germenis soll sogar versucht haben, nach seiner Pistole zu greifen. Die meisten der rechtsradikalen Abgeordneten haben einen Waffenschein, weil sie sich als "potentielle Ziele linker Terroristen" sehen.

Mit der weiteren Beurteilung der Ereignisse muss sich nun die griechische Justiz beschäftigen. Germenis klagt den Bürgermeister und dessen Schutzpolizisten an, weil diese sich ungebührlich gegenüber einem Abgeordneten des Parlaments verhalten haben sollen. Kaminis hingegen reicht am Mittwoch, wenn die Staatsanwaltschaft wieder geöffnet ist, eine Anzeige wegen "versuchter Körperverletzung und Beleidigung" gegen den Abgeordneten ein. Erst Ende Mai kann dann das Parlament über eine Aufhebung der Immunität des Abgeordneten entscheiden.

Auch die Justizmühlen mahlen langsam im Land. Alles wird nur auf später aufgeschoben - bis es sich zum unüberwindlichen Hindernis auftürmt. Der Vater des verletzten Mädchens verzichtete Medienberichten zu Folge auf eine Anzeige. Offensichtlich ist er sich über die potentiellen Folgen einer solchen Anzeige bewusst. Denn festnehmen konnten die Polizisten den wütenden Abgeordneten auch dann nicht, als er versuchte, seine Waffe zu ziehen. Eine Festnahme eines Parlamentariers ist nur bei der Begehung eines Kapitalverbrechens möglich.