Die herbeigerechnete Roma-Flut

Die Medien hyperventilieren. Doch wenn man nachhakt, bleibt von den Horrorzahlen über die Sturmflut von "Sozialtouristen" wenig übrig

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In Deutschlands Medien herrscht Aufregung über eine vermeintliche Flutwelle bulgarischer und rumänischer Roma: Die explodierende "Armutseinwanderung" stelle deutsche Städte vor unlösbare Probleme, hört man. "Die meisten, die nach Deutschland kommen, sind Roma", behauptet die FAZ; nicht weniger als der soziale Frieden stehe auf dem Spiel. Der deutsche Innenminister dachte bereits laut über "gezielte Einreisesperren" nach, und auch Österreichs Innenministerin fordert nun Sanktionen gegen den "Sozialtourismus" (und das, obwohl Österreich, wie sie selbst freimütig einräumt, davon gar nicht betroffen ist). Das alles ist Panikmache, losgetreten von einem Positionspapier des Deutschen Städtetags und untermauert mit Zahlen, die alarmierend sind. Nur: Die Daten stimmen vorne und hinten nicht.

Das zeigen Recherchen des Mediendienstes Integration (MDI). Die Zahl von 147.000 Zuzügen aus Rumänien und Bulgarien im Jahr 2011 sei zwar nicht falsch. Unterschlagen werde dabei aber, dass zugleich auch eine beträchtliche Zahl bulgarischer und rumänischer Staatsbürger aus Deutschland fortgezogen sei. Berücksichtigt man die Zahl der Abwanderer, schrumpft die Zahl der Nettozuwanderung 2011 um 60 Prozent der kolportierten Zahl auf lediglich 58.350 Menschen. Hinzu kommt, dass in die Bruttozahl auch ein Teil der Saisonarbeiter mit eingerechnet wurde - Personen also, die sich in Deutschland gar nie auf Dauer niedergelassen haben.

Der Bundesagentur für Arbeit zufolge kamen allein 2011 rund 200.000 Saisonarbeiter und Schaustellergehilfen aus Bulgarien und Rumänien nach Deutschland, die teilweise auch in die Zuzüge eingerechnet werden. Das Bundesministerium für Arbeit hatte wegen eines steigenden Arbeitskräftebedarfs die Arbeitserlaubnis EU und das Kontingent für diesen Personenkreis erhöht. Der größte Teil dieser Arbeiternehmer unterliegt der Meldepflicht in den Gemeinden, allerdings gibt es in sechs Bundesländer Ausnahmen. Deshalb ist hier unklar, wie viele in der allgemeinen Zu- und Fortzugsstatistik erfasst wurden.

Mediendienst Integration

Symbolpolitische Ersatzhandlungen

Ein weiterer Fehler der Daten bestehe darin, dass diese Zahlen als Beleg für "Armutszuwanderung" herumgereicht wurden. Dabei seien zum Beispiel auch Tausende Studierende mit bulgarischer oder rumänischer Staatsbürgerschaft mit eingerechnet. Und auch die Beschäftigungsstatistik gebe keine Hinweise auf eine Welle von Armutsmigration: Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten wachse analog zur Zuwanderung.

Gegenüber dem MiGAZIN fasste der Migrationsforscher und Politikberater Klaus J. Bade die scheinrationalen Zahlenspiele wie folgt zusammen:

Solche Drohgebärden gehören ins Arsenal der symbolpolitischen Ersatzhandlungen, die in der Bevölkerung fahrlässig Abwehrhaltungen gegenüber unerwünschten Zuwanderungen bestärken. Die werden dann auf eine besonders diffamierte Gruppe projiziert, so als ob es, wie die FAZ titelt, "vorwiegend Roma aus Bulgarien und Rumänien" wären, die da ins Paradies in der Mitte Europas streben. Das ist falsch.

Unstatistik des Monats

Auch Wissenschaftler des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) haben die allerorts laut hinausposaunten Zahlen nachgerechnet – und die Berichterstattung über das Ausmaß der Armutseinwanderung aus Rumänien und Bulgarien zur "Unstatistik des Monats" gekürt. In der medialen Berichterstattung seien nämlich alle Zuwanderer aus den beiden Ländern pauschal als Armutsflüchtlinge klassifiziert worden:

Diese Darstellung vermittelt allerdings ein falsches Bild der Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien nach Deutschland. Daten des Mikrozensus zeigen, dass 80% der Menschen, die seit Beginn der EU-Mitgliedschaft im Jahr 2007 aus diesen beiden Ländern nach Deutschland gekommen sind, Erwerbsbeteiligte sind. Von diesen sind 22 % hochqualifiziert und 46 % qualifiziert. Bei diesen Zuwanderern handelt es sich häufig um Menschen mit Berufen, die wir in Deutschland dringend benötigen.

Sicherlich findet auch Zuwanderung von Migranten ohne Schule und Berufsausbildung statt, die hier in prekären und teilweise menschenunwürdigen Verhältnissen leben und auf staatliche Hilfe angewiesen sind. (...) Gerade in einer solchen Situation sollte man sich jedoch die Struktur der Zuwanderung aus den neuen EU-Mitgliedstaaten genau ansehen, um daraus eine für alle Beteiligten akzeptable Lösung zu entwickeln. Eine pauschale Klassifizierung aller Zuwanderer aus diesen Ländern als Armutsmigranten, die das Problem der Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme übertreibt, schadet da nur.

RWI

Zudem widerlegt eine Ende April im Beisein von EU-Kommissar László Andor präsentierte Studie aus Rumänien die Annahme, dass Roma unter den Auswanderern überproportional vertreten seien. Der Anteil der Haushalte, bei denen mindestens eine Person ins Ausland emigriert ist, ist demnach bei der Volksgruppe der Roma mit 19 Prozent exakt gleich hoch wie bei der Gesamtbevölkerung. Deutschland zählt dabei keinewegs zu den präferierten Auswanderungsländern der Roma; die verschlägt es, nicht zuletzt aus sprachlichen Gründen, vorwiegend nach Italien und Spanien.

Angriff aufs Sozialsystem?

Auch Rumäniens Botschafter Lazăr Comănescu rückte die Zahlen anhand der Daten der Bundesagentur für Arbeit zurecht und begründet die aktuelle Zuwanderung nach Deutschland vor allem mit der Arbeitsmarktöffnung für Akademiker:

Es gibt es zirka 6,05 Millionen Leistungsberechtigte nach Sozialgesetzbuch II. Davon sind ganze 13.961 Rumänen, also 0,23 Prozent. Da darf ich mich doch fragen, ob von diesen 0,23 Prozent eine Gefahr für den deutschen Sozialstaat ausgeht. Dass die Zahl der rumänischen Staatsbürger seit 2012, wie es heißt, alarmierend steigt, hat doch vor allem mit der Öffnung des deutschen Arbeitsmarkts für Akademiker im letzten Jahr zu tun!

Seit dieser Woche liegen nun auch die offiziellen Daten des Statistischen Bundesamts für 2012 vor. Demnach stieg die Nettozuwanderung ausländischer Staatsbürger im Vorjahr auf insgesamt rund 387.000 Personen, ein seit zwanzig Jahren nicht erreichtes Hoch. Doch dieses Plus ist nur zum geringsten Teil auf Rumänen und Bulgaren zurückzuführen. Obwohl auch die Nettozuwanderung aus Rumänien (45.684 Personen) und Bulgarien (25.044) 2012 weiter zunahm (bei den Abwanderungen aus Deutschland liegen die beiden Länder übrigens nach Polen auf Platz 2 und 3), entfallen lediglich 11,8 Prozent des aktuellen Zuwachses auf Rumänen und nur 6,5 Prozent auf Bulgaren.

In Summe entspricht der Zuwanderungssaldo aus Bulgarien und Rumänien, größtenteils qualifizierte und hochqualifizierte Arbeitskräfte, also nur 0,086 Prozent der deutschen Bevölkerung. Ein Grund zur Panik? Wohl kaum. Man möchte meinen, dass das einwohnerreichste Land der EU damit zurechtkommen müsste, ohne gleich ins mediale Hyperventilieren zu verfallen.