Konflikt um Deutungshoheit über die Bombenanschläge in der türkischen Grenzstadt

Die türkische Regierung macht dafür das syrische Regime verantwortlich, um die lange geforderte militärische Intervention zu erzwingen; Syrien wiederum weist die Schuld der türkischen Regierung zu

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Die Zahl der durch die beiden Autobomben am Samstag in der türkischen Grenzstadt Reyhanli Getöteten ist auf 46 gestiegen. Mehr als 140 Menschen wurden verletzt. Von den 38 bislang identifizierten Toten sind drei Syrer. Die türkischen Behörden haben neun Türken verhaftet, darunter den mutmaßlichen Anführer des Anschlags. Sie hätten Geständnisse abgelegt. Sehr viel mehr wurde allerdings nicht verraten.

Nach Innenminister Muammer Güler hätten die des Anschlags Verdächtigten über prosyrische Organisationen direkte Kontakte zum syrischen Geheimdienst. Vier der Verdächtigen würden einer Splittergruppe der linken Türkischen Volksbefreiungspartei-Front (THKP-C) und fünf der ebenfalls linken Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C), die sich im Februar für den Selbstmordanschlag gegen die US-Botschaft in Ankara bekannt hat. Der Vizepremier Beşir Atalay bestätigte dies gestern. Er wies jede Verwicklung mit syrischen Flüchtlingen oder der syrischen Opposition zurück, es gebe auch keine Hinweise auf al-Qaida. Der Sprengstoff sei aus Syrien eingeschmuggelt worden, die Autos wurden in der Türkei gekauft.

Die Türkei droht Syrien, falls sich der Verdacht erhärten lässt. Das syrische Regime weist den Vorwurf selbstredend zurück. Der Informationsminister bezeichnete die Anschläge als einen terroristischen Akt, den man verurteile. Die Türkei habe das Grenzgebiet zu einem Zentrum "internationaler Terroristen" gemacht. Die Türkei und andere Staaten seien dafür verantwortlich, was in Syrien geschehe, die türkische Regierung auch für die Anschläge. Er machte sie auch direkt dafür verantwortlich, damit Regierungschef Erdogan bei seinem Besuch von US-Präsident Obama mehr Druck ausüben kann.

Die Hisbollah, die auch mit Kämpfern das Assad-Regime unterstützt, verurteilt den Anschlag auf Zivilisten und macht dafür "internationale Geheimdienste" verantwortlich, die Unruhe stiften wollen. Der syrische Botschafter in Moskau, Riad Haddad, rief angesichts der Anschläge die Türkei und andere Länder dazu auf, sich im Kampf gegen den Terrorismus zu vereinen. Die Oppositionellen und Rebellen bezeichnet das syrische Regime allesamt als Terroristen. Die türkische Regierung, die sich schon lange auf die Seite der syrischen Opposition gestellt hat, den Rücktritt oder Sturz von Assad fordert und die Staatengemeinschaft zum Einschreiten auffordert, nutzt nach dem mittlerweile auch von der US-Regierung bestätigten Vorwurf, dass in Syrien Chemiewaffen zum Einsatz gekommen seien, die Anschläge aus, um den Druck zu verstärken, militärisch einzugreifen, auch wenn ein UN-Mandat wegen Russland und China völlig außer Reichweite ist. Wie der türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu gerade auch in Berlin wieder klar gemacht hat, wirft man den übrigen Staaten Tatenlosigkeit und damit eine Mitschuld vor.

Zudem finden gerade viele diplomatische Bemühungen zur Lösung der Krise statt, die Syrien nach Ansicht der türkischen Regierung torpedieren will, die aber die türkische Regierung auch in ihrem Interesse lenken will. Verabredet haben die russische und amerikanische Regierung eine internationale Konferenz, der anvisierte Termin Ende Mai wurde von russischer Seite schon einmal als "unmöglich" erklärt. Zuletzt wurden von der Nato auch bereits Patriot-Raketenabwehrsysteme in der Nähe zur syrischen Grenze stationiert. Die Zuweisung der Verantwortung an Syrien überrascht daher nicht, auch nicht, dass mehr Einheiten an der syrischen Grenze stationiert wurden.

Dass sofort jede Verwicklung von syrischen Rebellen oder der syrischen Opposition, selbst von islamistischen Gruppen entschieden zurückgewiesen wurde, verdankt sich einerseits den bereits zunehmenden Konflikten zwischen den vielen Flüchtlingen und der lokalen Bevölkerung, die man nicht weiter schüren will. Andererseits könnte man auch vermeiden wollen, dass die auch in der Türkei umstrittene Parteinahme für die syrische Opposition ein Motiv sein könnte, geschweige denn die Möglichkeit, dass die Anschläge von Türken selbst begangen wurden, die Stimmung gegen die syrischen Flüchtlinge machen wollen. Nach Medienberichten ist die Ablehnung der syrischen Flüchtlinge in Reyhanli nach den Anschlägen gewachsen. Die lokale Bevölkerung sieht sich benachteiligt. Türken sollen Syrer und syrische Autos angegriffen haben. Syrische Flüchtlinge verlassen die Stadt, weil sie sich nicht mehr sicher fühlen. In der Türkei leben 300.000 syrische Flüchtlinge, manchen sprechen sogar von mehr als 500.000 (Bombenanschläge in türkischer Stadt an der Grenze zu Syrien).

Zudem leben auch in der Türkei Alawiten, die auch das Rückgrat des Assad-Regimes bilden. Nicht ausgeschlossen, dass auch aus diesen Kreisen, mit oder ohne Unterstützung Syriens, der Anschlag erfolgt sein könnte. Indem die türkische Regierung trotz der neun verhafteten türkischen Staatsbürger als den Verdächtigen den Finger nur auf Syrien weist, verdankt sich sicher zumindest dem Umstand, die nationale Einheit zu wahren. Dazu kommt, dass das syrische Militär derzeit offenbar Erfolge erzielt und die Rebellen zurückdrängen kann. Dadurch könnte Assad erzwingen, an einer politischen Lösung beteiligt zu werden, was die türkische Regierung und natürlich auch die syrische Opposition vehement ablehnen.

Die deutsche Regierung will, auch im Hinblick auf die anstehenden Wahlen, in keinen militärischen Konflikt gezogen werden. Im "Bericht aus Berlin" sagte Verteidigungsminister de Maizière, dass er die Opfer bedauere, aber ein aktives Eingreifen lehnte er ab: "Unsere Einflussmöglichkeiten sind begrenzt, ein militärisches Eingreifen wäre sehr, sehr aufwändig und verlustreich. Wir sind weit weg von einem UNO-Sicherheitsrat-Mandat, das ist eine schlimme Entwicklung, die wir militärisch von außen nicht groß werden beeinflussen können." Außenminister Westerwelle verurteilte auch den Anschlag, versuchte aber ansonsten, Distanz zu halten. Zu den Vorwürfen, Syrien habe Chemiewaffen eingesetzt, habe man keine eigenen Erkenntnisse, sagte er. Die Lieferung von russischen Luftabwehrsystemen an Syrien halte er für "nicht sinnvoll". Ansonsten begrüßte er die geplante internationale Syrien-Konferenz.