"Wer hat die Grenzziehung zwischen Männern und Frauen wie gemacht?"

Die Soziologin Paula-Irene Villa über die Entstehung, die Ziele und die Fragestellungen der Gender Studies. Teil 1

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Die Gender Studies sind in Deutschland eine relativ junge Disziplin, deren Forschungsauftrag aber nicht immer unumstritten ist ("Gut gemeinte Absicht, die ihre selbstkritische Kontrolle verliert"). Ein Gespräch mit der Soziologin Paula-Irene Villa.

Frau Villa, im Zusammenhang mit welchen geschichtlichen Ereignissen und gesellschaftlichen Prozessen sind die Gender Studies entstanden und wie haben sie sich dann weiter entwickelt?

Paula-Irene Villa: Die Gender Studies sind aus der chronologisch etwas davor liegenden so genannten Frauenforschung entsprungen. Historisch entstand diese wiederum aus der zweiten Frauenbewegung in den 1970er und 1980er Jahren. Das ist der historische Kontext, aus dem sich dieses ganze Feld entwickelt hat.

Die ersten Texte im Feld der Frauen- und Gender Studies, die inzwischen auch kanonisch geworden sind, stammen aus den 1970er Jahren - für Deutschland sind das zum Beispiel viele historisch angelegten Arbeiten, die politisch artikulierte Probleme und Widersprüche aufgriffen, etwa die Frage nach der "Frauenarbeit" im Kapitalismus oder die nach der geschlechtlichen Sozialisation. Viele frühen Texte haben zunächst Themen in die Wissenschaft hineingetragen, die zuvor unsichtbar waren und als nichtige "Privatheiten" abgetan wurden - alles, was mit "Frauenleben" zu tun hatte nämlich.

So kam das Thema Geschlecht in die Wissenschaft. Der Übergang zu den Gender Studies bilden Arbeiten, die "Weiblichkeit" beziehungsweise Geschlechtlichkeit als Kategorie hinterfragen und differenzieren, indem sie zum Beispiel nach spezifischen historischen Situationen, Klassenkonstellationen oder dem Zusammenhang von Begehren und Geschlecht forschen. Sie gehen davon aus, dass Geschlecht in komplexen Prozessen sozial "gemacht" wird und dass man deshalb nicht von "der Frau" sprechen kann. Im Zuge der Frauenforschung und dann auch Gender Studies wurden auch viele Texte neu gelesen, die historisch älter sind. Texte aus der ersten Frauenbewegung, beispielsweise Simone de Beauvoir oder Betty Friedan. Politisch motivierte Interessen führten also dazu, dass ganze Wissensbestände hinterfragt, erweitert und verändert wurden.

Von Anfang an - das will ich gleich betonen - bestanden überaus umkämpfte, spannungsreiche und verschiedenartige Beziehungen zwischen Frauenbewegungen einerseits und der Akademisierung von intellektueller Auseinandersetzung mit Geschlechterverhältnissen andererseits. Davon abgesehen, waren ja die feministischen Strömungen der Zweiten Frauenbewegung untereinander auch recht heterogen. Ich mag diese Geschichte nicht erzählen als eine Entwicklung von doof-politisch damals, hin zu schlau-differenziert-akademisch heute, sondern es war von Anfang an eine recht spannungsgeladene Beziehung und ist es bis heute geblieben, wenngleich das Feld der Gender Studies wesentlich professionalisierter, institutionalisierter und akademischer ist als zum Beispiel die Frauenforschung der 1970er und 1980er Jahre.

"Heiße epistemische Kultur"

Wie stellen sich die Gender Studies im internationalen Zusammenhang dar?

Paula-Irene Villa: Die Zweite Frauenbewegung hatte in den jeweiligen regionalen Kontexten - im deutschsprachigen Raum, in den USA, Lateinamerika oder in England - jeweils eigene Nuancierungen und Färbungen. Das hat sich auch auf die jeweiligen vorherrschenden Themen und Paradigmen in der Forschung ausgewirkt. Beispielsweise ist in Großbritannien aufgrund der politischen Selbstwahrnehmung die Auseinandersetzung mit Rassismus und postcolonial perspectives ein ganz wichtiges Thema. Im deutschsprachigen Raum wurde sich lange und intensiv mit Klassen, Ungleichheiten und der Geschichte der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft auseinandergesetzt, um auch Geschlecht als strukturelles Verhältnis zu verstehen. In den USA hingegen war die Auseinandersetzung mit race sehr wichtig, in Frankreich wiederum war die Psychoanalyse sehr präsent.

Allerdings gab es im Feld der Frauenforschung, dann Gender Studies, schon früh transnationale Debatten und Rezeptionswege, so dass sich diese Strömungen - produktiv, aber nicht immer frei von Missverständnissen und Konflikten - vermengt haben. Das liegt auch daran, dass sich die Auseinandersetzung mit Gender (Geschlecht) aus einer Fülle an Disziplinen und Methoden speist. Das Besondere an den Gender Studies ist, dass sie eine "heiße epistemische Kultur" bilden, wie es Gudrun-Axeli Knapp mal formuliert hat.

Das heißt, als eine in sich ausgesprochen heterogene Wissenskonstellation, die intensiv debattiert und genau daraus ihre Produktivität bezieht. Ich würde so sagen: Gute Gender Studies wissen um ihre interne Vielfalt und erliegen nicht der Verlockung, diese zugunsten der einen Perspektive zu vereinheitlichen. Das würde nämlich dem Thema - Geschlecht - nicht gerecht werden.

"Differenz und (Un-)Gleichheit"

Welches sind die wichtigsten Themengebiete der Gender Studies?

Paula-Irene Villa: Das ist schwer zu sagen, weil Gender Studies tendenziell ein inter- oder transdisziplinäres Feld sind. Abstrakt formuliert geht es im Kern immer um die Auseinandersetzung mit Differenzen - was auch immer das heißen mag: Differenz als gesellschaftliche Semantik, als naturwissenschaftlich zu erklärende "Tatsache" von Natur, Differenz als soziale Konstruktion, als herrschaftsförmige Logik, als Basis für institutionelle und ökonomische Effekte und so weiter.

Die Auseinandersetzung mit der Geschlechterdifferenz selbst ist seit geraumer Zeit ein großes, interdisziplinäres Thema: Das heißt, eben nicht einfach davon auszugehen, dass es Männer und Frauen gibt, sondern vor allem die Grenzziehung zu untersuchen: Wer hat sie wie wann gemacht? Weshalb, wofür, was bedeutet sie? Wie kommt sie zustande? Welche Institutionen sind daran beteiligt? Welches Wissen wird dafür genutzt? Welche Medien bieten welche Grenzziehungen an? Wie wird dies kulturell verhandelt oder ökonomisch genutzt? Wo kommt sie an ihre Grenzen?

Die Auseinandersetzung mit Differenz ist also ein wichtiges Thema - und als dazugehöriges Pendant die Auseinandersetzung mit Gleichheit. Also: Was könnte Gleichheit bedeuten, durchaus politisch-normativ, aber auch als Frage der kultur-anthropologisch vergleichenden Studien: Was bedeutet Gleichheit oder Ungleichheit in verschiedenen Kontexten? Und als Kernfrage der sozialwissenschaftlichen Perspektiven: Inwiefern wird aus Differenz eine Ungleichheit generierende gesellschaftliche Struktur? Differenz und (Un-)Gleichheit sind also sicherlich große Klammern und Oberbegriffe, die je nach disziplinärer Perspektive unterschiedlich erforscht werden.

"Die Biologie, ist sehr viel differenzierter als die populärwissenschaftlichen Seiten der Tageszeitungen uns glauben machen will"

Wie bestimmt sich ihr Verhältnis zu den Naturwissenschaften, insbesondere zu Biologie, und wie zu den Sozialwissenschaften?

Paula-Irene Villa: Es ist ein neugierigeres und zugewandteres Verhältnis, als man von Außen meint. Es gibt tatsächlich einen wohlwollenden Austausch zwischen Natur- und Sozial- und auch Kulturwissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen im Feld der Gender Studies. Das hat vor allem damit zu tun, dass die Naturwissenschaften, insbesondere die Biologie, fachimmanent sehr viel differenzierter, nuancierter, auch zurückhaltender sind als die populärwissenschaftlichen Seiten der Tageszeitungen uns glauben machen wollen.

Also, wenn in populärwissenschaftlichen Artikeln steht: "Die Wissenschaft hat festgestellt, es gibt jetzt mal wieder irgendeine Hirnwindung oder irgendein Gen, das irgendwie geschlechtlich bestimmt ist", dann findet man das meist in den wirklich fachimmanenten Texten oder Modellen so nicht oder zumindest nicht in dieser groben und verallgemeinerten Form. Insofern lässt sich da über die Fächergrenzen hinweg ganz gut kooperieren - und das wird auch teilweise gemacht.

Es gibt zugleich - und das ist seit Jahrzehnten eines der produktivsten Felder der Geschlechterforschung - in Form der science- and technology studies eine wirklich interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Naturwissenschaften als soziale Praxis im weitesten Sinne, die also Wissenschaft nicht szientifistisch-naiv-empiristisch verstehen, sondern als Praxis fassen, die sich mit Natur auseinandersetzt (zum Beispiel Donna Haraway, Anne Fausto-Sterling, Evelyn Fox-Keller, Sandra Harding, Ludmilla Jordanova, Londa Schiebinger).

Auch im deutschsprachigen Raum gibt es einige Forscher und Forscherinnen, die mit einem Bein in den Naturwissenschaften und mit dem anderen Bein in der Beobachtung der Naturwissenschaften stecken und beispielsweise derzeit im Feld der Neurowissenschaften sehr engagiert sind: Was heißt und wie kommt diese Rede von männlichen und weiblichen Gehirnen zustande? Was bedeutet es überhaupt, wenn bestimmte Neurowissenschaften behaupten, dem Gehirn beim Denken zuzuschauen?

Diese Arbeit beinhaltet ein aus epistomologischen Gründen schwieriges Verhältnis, das auch von viel wechselseitiger Fehlwahrnehmung geprägt ist. Aber unter dem Radar der großen programmatischen Positionen beziehungsweise Paradigmen gibt es tatsächlich eine Fülle von transdisziplinären Forschungsprojekten. Das ist in den USA stärker ausgeprägt als hierzulande, aber auch hier gibt es derlei.

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