Mad Max im Zweistromland

Das um sich greifende Chaos in der arabischen Welt markiert die jüngste Phase der fortschreitenden Desintegration des kapitalistischen Weltsystems

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Die Wahrnehmung des Demonstrationsrechts im "postrevolutionären" Libyen kann zu einem ähnlichen Himmelfahrtskommando ausarten, wie es auch während der jahrzehntelangen Herrschaft des Revolutionsführers Muammar al-Gaddafi der Fall war. Ein Demonstrationszug, der in der libyschen Hauptstadt Tripolis gegen das überhandnehmende Milizwesen protestierte, wurde am 11. Mai brutal von Milizionären angegriffen. Die Freischärler hätten viele Demonstrationsteilnehmer zusammengeschlagen und etliche jüngere Männer verschleppt. "Wir haben keine Ahnung, wer sie mitnahm und wo sie jetzt sind", klagte ein Demonstrant.

Ähnliche Proteste gegen die Willkürherrschaft der schwerbewaffneten Milizverbände fanden auch in Bengasi und Tobruk statt. Die Milizen, die sich während des libyschen Bürgerkrieges 2011 formierten, um mit westlicher und saudi-arabischer Unterstützung die langjährige Herrschaft des exzentrischen und autoritären Staatschefs Muammar al-Gaddafi zu beenden, haben sich nach dessen Sturz und Ermordung nicht etwa aufgelöst - sie bestehen weiterhin als dominanter Machtfaktor fort. Aufbauend auf niemals überwundenen Stammesstrukturen haben die Milizverbände Libyen mit einem Flickenteppich regionaler Einfluss- und Machtbereiche überzogen.

Was im libyschen Bürgerkrieg tatsächlich unterging, war die Illusion von einem einheitlichen Staatsgebilde, das Ausdruck einer nationalen Identität und einer gewachsenen Nationalökonomie gewesen wäre. Libyen existiert de facto nicht mehr, übrig ist nur noch die Hülle eines Nationalstaates, in der unterschiedlichen Zentrifugalkräfte um möglichst viel Einfluss kämpfen, um sich und ihrer jeweiligen Klientel einen möglichst großen Anteil des Ölreichtums des Landes zu sichern.

Anfang Mai haben beispielsweise diverse bewaffnete Formation über zehn Tage die libyschen Außen- und Justizministerien mit schweren Waffen belagert, um ihren Forderungen nach angemessener Beteiligung am Machtapparat Ausdruck zu verleihen. Neben ehemaligen "heißblütigen Rebellenkommandeuren" seien an der Belagerung der Regierungsgebäude auch "Teilzeitaktivisten" und Anhänger "bewaffneter Gruppen aus diversen Regionen" Libyens beteiligt gewesen, berichtete die BBC. Die bewaffneten Gruppierungen, deren Betätigungsfeld vom extremistischen Islamismus bis zur organisierten Kriminalität reicht, ließen sich kaum unter staatliche Kontrolle bringen, schrieb der Standard Mitte Mai, der auf jüngste Bombenanschläge und den darauf folgenden Abzug von westlichem Botschaftspersonal und Firmenmitarbeitern aus Libyen verwies.

Libyen ist zu einem "failed state" geworden

Den Zustand eines libyschen "Staates", der nicht mal in der Lage ist, seine eigenen Ministerien militärisch vor willkürlich agierenden Milizen zu schützen, schilderte die israelische Libyenexpertin Yehudit Ronen in einem Mitte Mai gehaltenen Vortrag an der Universität in Tel Aviv. Die westliche Intervention habe Libyen in einem "schwachen Staat" verwandelt, der nun nicht mehr in der Lage sei, die Kontrolle über sein eigenes Territorium auszuüben, so dass nun de facto "bewaffnete Milizen die Macht an sich gerissen" hätten. Die von Libyen - das nun zu einem Zentrum des islamistischen Terrors mutierte - ausgehenden Schockwellen hätten die gesamte Sahelregion und Nordafrika destabilisiert, erklärte Ronen.

Nicht nur der drohende Zerfall Malis, der durch die Intervention Frankreichs vorläufig gestoppt wurde, stehe im kausalen Zusammenhang mit der Desintegration Libyens, auch "Staaten wie Niger, Algerien, Tschad und Nigeria müssen mit dem negativen Folgen des Chaos" im Gefolge des Sturzes der Ghaddafi-Diktatur fertig werden. Laut Ronen gebe es sogar Hinweise darauf, dass die nordnigerianische Terrorgruppe Boko Haram im Gefolge der libyschen "Revolution" gestärkt worden sei. Libyen werde weiterhin in einem "schwindelerregenden Strudel gewaltsamer Unruhe" verbleiben und auf "externe Hilfe" zum Aufbau von Sicherheitskräften angewiesen sein, lautete Ronens Fazit.

Die fortdauernde Unruhe und Instabilität in der westlichen Sahara, die eigentlich mit der französischen Intervention in Mail beendet werden sollte, wurde übrigens am 25. Mai erneut offensichtlich, als islamistische Milizen eine Armeebasis und die Uranmine im Niger angriffen, die den Nuklearbrennstoff für die französische Atomindustrie liefern.

Die westlichen Hoffnungen auf die Etablierung eines stabilen - und nach Möglichkeit dem Westen gegenüber freundlichen - Regimes in Libyen haben sich somit trotz aller Anstrengungen der "intentionalen Staatengemeinschaft" bislang nicht erfüllt. Trotz seines Ölreichtums droht das Land hingegen zu einem jener "gescheiterten Staaten" (Failed States) zu verkommen, wie sie bereits in vielen Regionen der "Dritten Welt" zu finden sind. Somalia, die Demokratische Republik Kongo, Afghanistan oder der Irak bestehen nur noch auf unseren Landkarten als geschlossene staatliche Gebilde fort, während sie in der Realität längst im Chaos der Anomie, einer normen- und strukturlosen Willkürherrschaft von Milizen, Banden und Rackets untergegangen sind.

In verschiedenen Ausprägungsstufen und Intensitäten breiten sich diese Regionen des anomischen Chaos in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten immer weiter aus, sie finden sich in großen Teilen des subsaharischen Afrikas, wie auch in Anfangsstadien in Mittelamerika und Mexiko, wo die Drogenkartelle (deren Geschäftsmodell dem der Taliban entspricht) längst das Machtmonopol des mexikanischen Staates ausgehöhlt haben. Die zentrale Organisationsform der Anomie - die in den Massenmedien zumeist fälschlich als "Anarchie" bezeichnet wird - stellt die Bande, das Racket dar.

Hierbei handelt es sich um die Urform der Herrschaft, die sich immer in Zusammenbruchsstadien eines untergehenden Gesellschaftssystems herausbildet: Es ist ein aus den zerfallenden Machtstrukturen hervorgehender Männerbund, der die totale Loyalität und Unterwerfung nach innen mit dem totalen Krieg nach außen kombiniert. Ausgehend von den lokalen Gegebenheiten usurpiert das Racket die Macht in einer bestimmten Region, es praktiziert eine Art Plünderungsökonomie, oder es tritt gegebenenfalls als eine willkürlich handelnde "Ordnungskraft" auf lokaler Ebene auf, während es zugleich die Ressourcen und sonstigen Einkommensquellen in der gegebenen Zusammenbruchsregionen zu monopolisieren versucht. Diese anomische Herrschaft der Rackets ist dabei kein temporäres Übergangsphänomen, wie Somalia oder die DR Kongo zeigen, die sich schon seit Jahrzehnten in diesem Zustand strukturloser Banden- und Gewaltherrschaft befinden.

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