"Für die sozio-ökonomische Interpretation der Daten sind die Generaldirektionen der Kommission zuständig"

Eurostat-Generaldirektor Walter Radermacher über Bilanzierungsstandards und Dateninterpretation

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Anlässlich der Brüsseler Eurostat-Tagung am 29. und 30. Mai (Der Atomausstieg gehört in die Staatsbilanzen!) sprach Telepolis mit dem Generaldirektor der in Luxemburg beheimateten Eurostat, dem ehemaligen Direktor des Statistischen Bundesamtes Walter Radermacher. Der hoch kompetente, großgewachsene Deutsche spricht exzellent Englisch und genießt in allen Staaten hohes Ansehen. Radermacher wurde 1952 in Walheim bei Aachen geboren. Der studierte Betriebswirt trat bereits 1978, also mit 26 Jahren in das Statistische Bundesamt ein. Die hier veröffentlichte Version wurde von ihm selbst korrigiert und freigegeben.

Eine Frage mochte Radermacher allerdings nicht beantworten: "Die bisherige Darstellung der Eurostat-Zahlen im Maastricht-Kriterium lässt die europäischen Staaten im Vergleich zu den USA erheblich schlechter dastehen. Welchen Vorteil bringt die Sichtweise des Maastricht-Kriteriums noch?"

Die Frage spielt auf eine seit April 2013 bestehende Kontroverse an, ob Eurostat nicht nur die Schulden- und Defizitdaten, sondern auch die Staatseinnahmen veröffentlichen soll, die für 2012 sehr positiv ausfielen. Dabei stehen sich zwei Berechnungsarten gegenüber:

In der Verordnung 223/2009 des Europäischen Parlaments wird in Punkt 5 den Ländern zugesagt, dass Mehrkosten, die durch von der Kommission beschlossene Statistikmaßnahmen entstehen, von der EU übernommen werden. Seit März 2012 möchte die Kommission, dass die Länder sich auf die Guidelines des IPSASB umstellen. Welche Vorteile entstehen dabei für die EU und die Länder?

Walter Radermacher: Zuerst sollten wir einiges richtigstellen. Nach unserer Kenntnis hat die Europäische Kommission (Eurostat) niemals vorgeschlagen, dass die Mitgliedsstaaten ihre Systeme auf das IPSAS-Regelwerk umstellen sollen. Im Gegenteil, die Europäische Kommission (Eurostat) schlägt eher ein europäisches System von Rechnungsführungsgrundsätzen für den öffentlichen Sektor (EPSAS) vor, welches auf einer starken EU-Governance basieren soll. Nichtdestotrotz stellen die IPSAS eine unbestreitbare Referenz für potentielle EU-weit harmonisierte Rechnungsführungsgrundsätze für den öffentlichen Sektor dar.

Des Weiteren gehen wir davon aus, dass die Vereinheitlichung der Rechnungsführungs- und Finanzberichterstattungsgrundsätze des öffentlichen Sektors mit denen des ESVG eine wesentliche Voraussetzung für die weitere Verbesserung und Sicherung der Qualität der statistischen Daten sind. Damit sind die Daten gemeint, die für die Koordinierung und Überwachung der Haushalte auf EU-Ebene (insbesondere im Rahmen des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit) herangezogen werden. Verbesserte Verwaltung des öffentlichen Sektors, Steuerung und Rechenschaftspflicht sind als weitere wichtige Vorteile anzusehen. Weiterhin würde die Harmonisierung der Rechnungsführung des öffentlichen Sektors den Finanzmärkten erlauben, die finanzielle Lage der verschiedenen staatlichen Stellen, die Schuldtitel emittieren, besser zu beurteilen. Die Harmonisierung würde auch größere Transparenz für das Funktionieren der internationalen Märkte für Finanzdienstleistungen herstellen, sodass die Investoren die Transaktionen auf der Grundlage einer besseren Einschätzung des Niveaus der damit zusammenhängenden Risiken eingehen würden.

Bildunterschrift: Walter Radermacher (links) sprach mit Alexander Dill (rechts) über die neuen Bilanzierungsstandards und über die Interpretation der Eurostat-Zahlen zu Schulden und Staatseinnahmen.

Die von der EU bezifferten Mehrkosten betragen zwischen 50 und 150 Millionen Euro je Land. Da ja alle Staaten funktionierende Statistikämter haben - gehen diese Gelder also an die externen Wirtschaftsprüfer, die das IPSASB-Handbuch erstellt haben?

Walter Radermacher: Als eine Größenordnung und basierend auf der Erfahrung der Länder, für welche Daten verfügbar sind, hat der Kommissionsbericht darauf hingewiesen, dass die möglichen Kosten für die Umstellung eines auf dem Kassenprinzip basierten Rechnungsführungssystems auf ein periodengerechtes Rechnungsführungssystem - dies für die Zentralverwaltung und ohne Berücksichtigung anderer Verwaltungsebenen - für ein mittelgroßes EU-Land bis zu 50 Millionen EUR betragen könnten. Das ist nur ein Richtwert, der zwar die Kosten für die Einführung der neuen Grundsätze und die dazugehörigen zentralen computergestützten Rechnungsführungsinstrumente, nicht jedoch die vollständigen Kosten der kompletten Rechnungslegungsreform, einschließen würde.

Für größere Mitgliedsstaaten, zum Beispiel jene mit autonomen regionalen Regierungssystemen oder komplexeren Regierungsstrukturen, könnten die Kosten viel höher ausfallen, insbesondere wenn der Übergang zu einem harmonisierten periodengerechten Rechnungsführungssystem mit weitgehenderen Reformen der Rechnungsführungs- und Finanzberichterstattungspraktiken kombiniert würde.

Zum zweiten Teil Ihrer Frage: Nach unserer Kenntnis, existiert weit mehr als nur ein Referenztext zu den IPSAS und diese Texte sind von verschiedenen Verfassern erstellt. Gleichwohl, wenn ich an Ihre erste Frage hinsichtlich der finanziellen Unterstützung der Kommission für die Mitgliedsstaaten, welche EU-statistische Vorschriften nach VO 223/2009 umsetzen, anknüpfen darf, dann muss man klarstellen, dass finanzielle Unterstützung in erster Linie für jene nationalen Verwaltungen vorgesehen ist, die die vorgeschriebenen statistischen Maßnahmen vollziehen. Grundsätzlich ist diese finanzielle Unterstützung nicht auf den Betrieb von statistischen Behörden als Ganzes oder auf andere Zwecke bezogen. Insbesondere werden wir nicht die Transaktions- oder gar die Produktionskosten für die Anwendung der Normen des öffentlichen Rechnungswesens tragen.

Befürchten Sie durch das IPSASB nicht eine Entmachtung von Eurostat wie der nationalen Statistikbehörden?

Walter Radermacher: Ganz im Gegenteil. Während der Bericht der Kommission für die bisher geleistete Arbeit des IPSASB Anerkennung ausdrückt, zielt unser Vorschlag eigentlich auf die Entkopplung der vorgeschlagenen EU-Strukturen von denen des IPSASB ab. Nichtsdestotrotz, da die IPSAS internationale Grundsätze darstellen sollen, denken wir, es sei im Sinne unseres Vorschlags, dass die künftige EU-Governance-Struktur aktive Verbindungen zum IPSASB und dessen Arbeit herstellen und aufrechterhalten sollte.

Der Skandal um Rogoff/Reinhart hat gezeigt, dass offensichtlich die Interpretation der Statistiken zu den Staatsschulden hochpolitisch ist. Wissen Sie, dass 2012 nur zwei von 27 EU-Staaten deutlich verringerte Einnahmen hatten? Aus der Eurostat-Meldung vom 22.04.13 ist das nicht ersichtlich. Warum werden nur die Misserfolge kommuniziert?

Walter Radermacher: Die Maastricht-Kriterien sind in der EU-Gesetzgebung festgelegt, ebenso wie die Vorgabe, dass Eurostat die Daten zum öffentlichen Defizit und Schuldenstand jedes Jahr im April und Oktober veröffentlicht. Die Pressemitteilung vom 22.04.2013, welche Sie erwähnen, dient dazu, die erste Datenmeldung zum öffentlichen Defizit und Schuldenstand für die Mitgliedsstaaten zu veröffentlichen. Ebenfalls sind viele zusätzliche Informationen in den Tabellen enthalten, wie beispielsweise die Daten für die Staatseinnahmen, die Sie erwähnen. Jedoch kann aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht jeder Indikator kommentiert werden.

Als Eurostat-User muss ich feststellen, dass ich keine Behörde kenne, die schneller und besser aktuelle Zahlen liefert als Ihre. Die Europäische Kommission scheint die Zahlen aber systematisch zu ignorieren. Was spricht dagegen, wenn Eurostat selbst mit interpretiert? Es kann sich ja immer noch jeder sein eigenes Bild machen.

Walter Radermacher: Die Rolle und Verantwortlichkeiten von Eurostat sind in der EU-Gesetzgebung festgelegt. Eurostat veröffentlicht europäische Statistiken ausdrücklich in einer unabhängigen und neutralen Weise. Für die sozio-ökonomische Interpretation der Daten sind die Generaldirektionen der Kommission zuständig. Indem die Daten jedem zugänglich sind, ermöglicht Eurostat jedem - wie Sie bereits erwähnt haben - sich sein eigenes Bild zu machen.

Vergleicht man die Zahlen von Eurostat zu den 27 EU-Staaten mit denen der USA, kann man eigentlich kaum mehr von einer Schulden- oder Finanzkrise in Europa sprechen. Verglichen mit den USA stehen die EU27 hervorragend da. Was spricht dagegen, die EU mit den USA zu vergleichen, anstatt nur Deutschland mit Griechenland?

Walter Radermacher: Als das statistische Amt der EU hat Eurostat die Aufgabe harmonisierte und vergleichbare Statistiken für die die EU, den Euroraum und die Mitgliedsstaaten bereitzustellen. Wir stellen ebenfalls Daten für die USA (und auch andere internationale Partner) in unseren wirtschaftlichen Pressemitteilungen bereit, wenn wir über vergleichbare Daten verfügen.