Je christlicher die Eltern, desto weniger Prügel fürs Kind?

Kriminologe Christian Pfeiffer über Gewalt und Religiosität und warum Freikirchler bzw. Evangeikale am ehesten ihre Kinder züchtigen

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In diesem Jahr soll ein Artikel gedruckt werden, der schon im Voraus für heftige Diskussionen gesorgt hat: Christian Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen und Dirk Baier, einer seiner beiden Stellvertreter, haben über "Christliche Religiosität und elterliche Gewalt" geschrieben. Der "Vergleich der familialen Sozialisation von Katholiken, Protestanten und Angehörigen der evangelischen Freikirchen" ist online schon auf der Website des NDR verfügbar.

Die beiden Wissenschaftler haben dafür zwei Befragungsstudien des KFN zum Teil neu ausgewertet: Eine deutschlandweite repräsentative Schülerbefragung aus den Jahren 2007 und 2008 sowie eine Erwachsenenbefragung aus dem Jahr 2011. Sie unterschieden nach evangelischer, katholischer und evangelisch-freikirchlicher Gemeindezugehörigkeit. Und sie differenzierten weiter nach dem Grad der Religiosität (nicht religiös, etwas religiös, religiös, sehr religiös).

Zwei Ergebnisse sind besonders interessant: Das erste betrifft die Eltern. Hier wird sichtbar, dass sich evangelische und katholische Amtskirchler hinsichtlich der Gewaltanwendung relativ ähnlich sind: Am wenigsten prügeln Eltern, die sich als mittel religiös einstufen. Sehr religiöse und gar nicht religiöse Eltern prügeln etwas mehr. Bei religiösen Freikirchlern wird ein höherer Anteil der Kinder geschlagen - und je gläubiger die Eltern sind, desto massiver prügeln sie ihre Kinder.

Christian Pfeiffer. Foto: Bischöfliche Pressestelle Hildesheim.

Das zweite besonders interessante Ergebnis betrifft die Jugendlichen. Je religiöser diese sind, desto seltener sind sie gewalttätig. Dies ist nicht erstaunlich. Aber dieser Zusammenhang ist bei freikirchlichen Jugendlichen schwächer ausgeprägt: Nicht religiöse Jugendliche sind zu 16 Prozent gewalttätig, sehr religiöse nur zu sechs Prozent. Bei freikirchlichen Jugendlichen sind es zwölf bzw. acht Prozent. Außerdem sind amtskirchliche Jugendliche um so zufriedener mit dem Leben, je religiöser sie sind - vor allem Katholiken. Bei Jugendlichen aus Freikirchen ist das nicht so.

Der Zusammenhang zwischen Religiosität und Gewalttätigkeit von Eltern war schon im Herbst 2010 nach der Auswertung der Schülerbefragung bekannt geworden - und schon damals hatte es massive Proteste von evangelikaler Seite gegeben. Daraufhin warteten Pfeiffer und Baier die Ergebnisse der Erwachsenenbefragung ab und untersuchten dann beide Befragungsstudien auf Freikirchler hin. Insgesamt haben sie für den neuen Artikel etwa 24 000 Fragebögen der Schülerbefragung - darunter 431 Freikirchler - und 5 500 Bögen der Erwachsenenbefragung - 124 Freikirchler - ausgewertet. Die Ergebnisse dieser Gesamtauswertung liegen im Artikel "Christliche Religiosität und elterliche Gewalt" vor. Wir haben Christian Pfeiffer dazu befragt.

Herr Pfeiffer, wie kamen Sie darauf, zwei ältere Studien auf den Zusammenhang von Religiosität und elterlicher Gewalt gerade bei Freikirchlern zu untersuchen? Das ist doch ein seltenes Forschungsfeld?

Christian Pfeiffer: Dies ist nicht nur selten, sondern unsere Studie ist sogar europaweit die einzige zu dieser Frage. Wir kamen auf diese Fragestellung durch einen Artikel in der Süddeutschen Zeitung. Darin werden Bücher von amerikanischen Pfarrern genannt, in denen Eltern systematisch dazu angeleitet werden, wie sie die Rute einsetzen. In Deutschland wurden von dem einen Buch innerhalb von drei Jahren 4 000 Exemplare verkauft. Das ist erschreckend. Dabei wurde in Deutschland schon im Jahr 2 000 das elterliche Züchtigungsrecht komplett gestrichen. Nachdem wir diesen Artikel gelesen hatten, haben wir unsere Datensätze zur Schülerbefragung daraufhin untersucht - und diesen Zusammenhang auch gesehen. Das wollen wir dann überprüfen. Damals bereiteten wir die Erwachsenenumfrage vor. In dieser haben wir dann zusätzlich nach Religion und Erziehung gefragt: Das Ergebnis war dasselbe.

Sie wurden heftig angegriffen, nachdem Sie die Ergebnisse veröffentlicht hatten. Die Gesamtzahl von insgesamt 555 Freikirchlern ist ja auch nicht so viel, außerdem gibt es ja auch Unterschiede zwischen den Freikirchen sowie innerhalb von Freikirchen.

Christian Pfeiffer: In der Tat sind keine differenzierten Aussagen über einzelne freikirchliche Gemeinschaften möglich. Das haben wir aber selber angemerkt. Da wäre eine weitere Studie wünschenswert. Und um aus einer Gesamtbefragung einen genügend hohen Anteil an Freikirchlern zu erhalten, also etwa 1.500 Personen, müsste man 150.000 bis 200.000 Jugendliche befragen. Das ist kaum machbar. Eine Lösung könnte darin liegen, dass die evangelisch freikirchlichen Gemeinden das selber durchführen. Ich empfehle, dass Freikirchen selber eine Forschung finanzieren und dann Gemeindetypen danach unterscheiden, in welchen am meisten geprügelt wird und welche normal sind. Dann können sie schwarze Schafe identifizieren und sagen, mit denen wollen wir nichts zu tun haben, das ist rechtswidrig.

Warum wird in Freikirchen mehr geschlagen? Ist das Machtmissbrauch, weil da die Eltern, respektive Väter, von vornherein mehr Macht haben?

Christian Pfeiffer: Der Ausgangspunkt für die Gewalt ist die Bibel: Wenn man sich am starren Wortlaut orientiert, ein Buchstabenfanatiker ist, dann findet man dort auch die Aufforderung, sein Kind mit der Rute zu züchtigen. Und solche eine Wortfixierung wird in Freikirchen durchaus ernst genommen.

Sie sind zum Ergebnis gekommen, dass freikirchliche Jugendliche eine deutlich stärkere religiöse Bindung haben als evangelische oder katholische Jugendliche aus einer der Amtskirchen. Wie kann das sein, wenn sie zu Hause mehr Schläge bekommen? Müssten sie dann nicht aus der Religion ausbrechen?

Christian Pfeiffer: Erstens führt die frühe Disziplinierung von Kind auf an dazu, dass die Kinder ihren Eltern gegenüber gehorsam sind. Zwar gehört zum Erwachsen-Werden, dass man im Alter von zwölf bis 14 oder 13 bis 15 sich unmöglich kleidet, frech und ungehorsam ist und provoziert. Nicht bei allen, aber oft. Aber wenn Eltern ihre Kinder nicht dialogisch erziehen, sondern mit Gewalt, dann ist die Auflehnung schwer. Zweitens sind freikirchliche Jugendliche stärker ins Gemeindeleben .integriert. Dadurch entsteht eine stärkere soziale Kontrolle, und sie haben weniger soziale Netzwerke außerhalb ihrer Gemeinde. So werden Kinder in Freikirchen aufgefordert, sich primär solche Freunde zu suchen, die auch Freikirchler sind.

Können Sie das genauer erklären? Geht das aus Ihrer Umfrage hervor?

Christian Pfeiffer: Nein, das weiß ich aus privaten Kontakten. Unser Sohn war ein Jahr in Neuseeland in einer freikirchlichen Familie. Ich bin gelegentlich in North Carolina, und dort mit jemand befreundet, der im Vorstand einer Freikirche ist. Und ich habe auch Freunde in Hannover, die Mitglieder einer Freikirche sind. Wir gehen in unserer Studie also davon aus, dass der Freundeskreis freikirchlicher Schüler eher in Freikirchen zu suchen ist.

Sie schreiben, dass freikirchliche Jugendliche öfter und heftiger geschlagen als evangelische oder katholische Jugendliche aus einer der Amtskirchen. Können Sie das genauer ausführen?

Christian Pfeiffer: Wir haben sehr konkret gefragt, ob sie mit Gegenständen geschlagen wurden, ob sie geprügelt wurden, oder ob sie "nur" eine Ohrfeige oder einen Klaps erhalten haben.

Ihrer Studie zufolge schlagen Eltern, je religiöser sie sind, desto weniger. Aber das gelte nur für evangelische und katholische Eltern.

Christian Pfeiffer: Bei evangelischen und katholischen Schülern ist der Anteil an völlig gewaltfrei erzogenen Schülern gleichbleibend hoch, nur sehr religiöse evangelische Eltern schlagen massiver. Anders in evangelisch-freikirchlichen Familien: Da nimmt der Anteil gewaltfrei erzogener Schüler mit zunehmender Religiosität linear ab, und der Anteil an Schülern mit schweren Gewalterfahrungen nimmt fast linear zu. Es liegen Welten dazwischen.

Auffällig war auch, dass etwa katholische Jugendliche, je gläubiger, desto stärker mit dem Leben zufrieden waren. Nicht jedoch Kinder aus Freikirchen. Aber wie sollen Kinder auch glücklich werden, wenn sie viel Prügel bekommen? Zufriedene Kinde sind auch erfolgreicher. - Was evangelisch-freikirchliche Eltern inszenieren, ist für den Lebensweg solcher Kinder nicht positiv.

Bisher haben wir über die Gewalt gesprochen, die von Eltern ausgeht. Aber Sie fragten auch nach Gewalt, die von Jugendlichen ausgeht. Bei allen - evangelischen, katholischen und freikirchlichen - Jugendlichen ist es so: Je religiöser sie sind, desto seltener sind sie gewalttätig. Aber dieser Zusammenhang ist bei Freikirchlern deutlich schwächer ausgeprägt. Warum ist das so?

Christian Pfeiffer: Der Zusammenhang liegt auf der Hand: Nach oben bücken - nach unten treten. Durch die repressive Erziehung wird die präventive Wirkung des Glaubens deutlich abgeschwächt.

Sie haben auch auf dem 18. Deutschen Präventionstag zur Verbrechensverhütung über das Thema der christlichen Erziehungskultur gesprochen. In diesem Vortrag ging es auch um die USA.

Christian Pfeiffer: In den USA stellen die Evangelikalen eine politische Macht dar. Dort werden nur 15 Prozent der Kinder völlig gewaltfrei erzogen - in Deutschland sind es inzwischen 63 Prozent.

Sie sehen den Grund dafür im christlichen Fundamentalismus? Manche Forscher wie Marcia Pally sehen Modernisierungstendenzen bei US-Evangelikalen.

Christian Pfeiffer: Das sind zarte Pflänzchen am Weg ... In den Südstaaten nennen sich teilweise über 50 Prozent der Bevölkerung evangelikal, hierzulande ist es gerade mal ein Prozent. Und gerade in den Südstaaten werden viele Schüler von ihren Lehrern mit dem Stock geschlagen. Das prägt den Nationalcharakter. Deshalb bemühe ich mich jetzt sehr darum, gemeinsam mit amerikanischen Kollegen ihre und unsere Erkenntnisse zu diesem Themenbereich in die amerikanischen Medien zu bringen. Es muss in den USA endlich mal einen starken öffentlichen Protest gegen diese Art von Erziehung geben.

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