Kaffee oder Essen für Unbekannte im Voraus zahlen

Immer mehr Bars und Cafés in Spanien machen mit und ihre Kunden bezahlen Kaffee, Frühstück oder ein Essen für unbekannte Bedürftige

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"Einen Milchkaffees und zwei ausstehende Kaffees bitte", bestellt Inmaculada Peréz im Madrider Café Comercial den Trunk, ohne den sie nicht in den Tag starten kann. Die Spanierin arbeitet als Verkäuferin in einem Geschäft nahe der Glorieta de Bilbao, wo sich das Comercial in der Hauptstadt befindet. Mit zwei "ausstehenden Kaffees" (cafés pendientes), lädt sie mit ihrer Bestellung zugleich zwei unbekannte Menschen zu einem Kaffee ein, die ihn gerne einen trinken möchten, aber kein Geld zum Bezahlen haben.

Teresa Sánchez überreicht der Verkäuferin ihren Milchkaffee und vermerkt mit zwei Strichen auf einer Tafel hinter dem Tresen, dass nun weitere zwei "pendientes" auf einen Kunden warten. "Wir haben einen Überschuss auf der Tafel, weshalb ich die pendientes auf einem zusätzlichen Zettel vermerken muss", erklärt Sánchez und strahlt. Sie arbeitet seit 25 Jahren im altehrwürdigen Literaturcafé. Es existiert seit 1887 im Zentrum der Hauptstadt, wo sich seither Künstler und Schriftsteller treffen.

Oft kann es sich Peréz bei ihrem schmalen Lohn von 960 Euro im Monat nicht leisten, zwei pendientes zu bezahlen, und das Comercial ist nicht billig. Ein Kaffee kostet hier 2,30 Euro, während er sonst für etwa die Hälfte zu haben ist. "Doch ich will meinen kleinen solidarischen Beitrag gegen die grassierende Armut leisten", erklärt sie. Früher kam sie nur selten hierher. Doch sie fand die Idee so gut, dass sie öfters auch in der Pause einen längeren Weg zurücklegt, um sie zu unterstützen. "Was passiert sonst mit all den Leuten, die sich den Gang in die Bar oder ins Café nicht mehr leisten können, was bei uns einfach zum Leben dazu gehört?"

Die schwere Krise hat zu sechs Millionen Arbeitslosen geführt und wie der Verkäuferin ist vielen klar geworden, dass auch sie schnell in die Lage kommen könnten, in der sie sich einen Kaffee nicht mehr leisten können. Im löchrigen spanischen Sozialstaat erhält nur noch gut die Hälfte aller Arbeitslosen noch Arbeitslosengeld oder 400 Euro Sozialgeld, das nur sechs Monate gezahlt wird und jederzeit ganz auslaufen kann.

Viele Kunden im Comercial, das für sein vielseitiges Engagement bekannt ist, beteiligen sich, um der sozialen Ausgrenzung zu begegnen, unter denen viele bei einer Arbeitslosenquote von fast 27% leiden. Es geht darum, anonym zu bleiben und sich nicht als großer Wohltäter aufzuführen, bekräftigen die Kunden. Fernando Vera, der das Café leitet, erklärt, dass es um Integration derer geht, die sonst schnell aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden: "Die Leute sind nicht auf der Straße, sondern kommen hierher, um einen Kaffee zu trinken."

Peréz ist längst gegangen und weiß nicht, dass einer ihrer Kaffees nun von José getrunken wird. Von seiner schmalen Rente - 640 Euro monatlich - leben nicht mehr nur er und seine Frau, sondern nun auch die Tochter mit ihren beiden Kindern. "Erst hat sie ihren Job vor drei Jahren verloren und dann die Wohnung, weil sie die Hypothek nicht mehr abzahlen konnte." Ein Einzelfall ist das nicht, denn seit die Immobilienblase geplatzt ist, wurden etwa 400.000 Familien in Spanien zwangsgeräumt. Da nun seit einem Jahr wieder fünf Mäuler gestopft werden müssen, bleibt ihm kein Cent mehr für den Gang ins Café übrig. Wie vielen Rentnern in Madrid reicht auch bei ihm das Geld oft nicht einmal für Medizin, seit die konservative Regierung eine Zuzahlung eingeführt hat.

"Ich habe lange gebraucht, um mich zu überwinden, das Angebot anzunehmen", sagt José, der aus Scham seinen Nachnamen verschweigt. Aber er überwand sie schließlich und übertrat im April erstmals die Schwelle des Comercial. Das fiel ihm noch schwerer, weil er nie Kunde des teuren Künstlercafés war. Doch eine Tafel vor der Tür wies ihn täglich bei seinen Sparziergängen gut sichtbar darauf hin, dass hier Menschen wie er gern von Besuchern des Kaffees eingeladen werden. "Wenn du willst, kannst du dich uns mit einem Café pendiente anschließen", steht darauf.

José kommt nun öfter zum Kaffeetrinken, Zeitunglesen und um sich zu unterhalten. Er will das Angebot aber nicht missbrauchen. "Vielen geht es ja noch viel schlechter", sagt er und verweist auf Samuel. Er sitzt neben ihm und genießt die Unterhaltung mit José und seinen Milchkaffee, den die Verkäuferin spendiert hat. Für den obdachlosen und arbeitslosen Einwanderer aus Ghana war dieser Kaffee im Winter oft die einzige Möglichkeit, sich aufzuwärmen und nicht zu verzweifeln.

"Es war ein Verrückter, einer der guten Verrückten, der 40 Euro für einen Kaffee auf den Tisch warf", erklärt Sánchez hinter dem Tresen, wie es zu der Aktion kam. "Stimmt so", habe er gesagt. Für den Rest sollte denen Kaffee ausgeschenkt werden, die ihn benötigten, aber kein Geld hätten. Die Geschäftsführung war von der Idee begeistert, daraus eine Aktion zu machen. Sie hat auch dem Café geholfen. Trotz der Krise wurde bisher niemand entlassen, die Umsätze seien, auch dank der pendientes, nur gering gesunken, erklärt Geschäftsführer Andrés Jiménez.

Bild: cafespendientes.es

Das Beispiel hat längst im ganzen Land Schule gemacht und das ist vor allem Gonzalo Sapiña zu verdanken. Der junge Katalane aus Barcelona hat Ende März die Webseite cafespendientes.es geschaffen: "Ich wollte zeigen, dass es für viele möglich ist, solidarisch zu sein." Dort können sich die Lokale registrieren, das Logo herunterladen und ausdrucken. "Fragen nach unserem ausstehenden Kaffee", steht dort über einer dampfenden Tasse Kaffee geschrieben. Die Logos werden an die Tür oder ins Schaufenster geklebt, um Kunden darauf hinzuweisen, dass auch in ihrem Lokal nach einem pendiente gefragt werden kann.

Mehr als 100 Kneipen und Cafés haben sich schon registrieren lassen und Sapiña hat sie auf seiner Internet-Karte eingetragen. Eigentlich stammt die Idee aus Neapel und wurde schon vor 400 Jahren geboren, erklärt er. Mit Ausbruch der Krise sei sie dort 2008 widerbelebt worden. Er sei im Internet über den "Caffè sospeso" gestolpert. "Ich entschied, eine Plattform für eine solch einfache und humane Sache zu schaffen." Schon in wenigen Tagen schlossen sich Dutzende Lokale an.

Einige gehen dabei längst über den Kaffee hinaus, weil viele Menschen Essen benötigen. So bietet zum Beispiel das Café Wiki-àpats auch Mittagessen an. Vor der Kneipe wird auch hier eingeladen und vermerkt wird täglich, wie viele Kaffees und Mahlzeiten bezahlt wurden und noch auf einen Kunden ohne Geld warten, erklärt Carmen Gonzaléz, eine der Besitzerinnen. Sie beschreibt, dass viele Menschen sich schämen zu betteln und es für sie so einfacher ist, die Hilfe anzunehmen, die ein anderer bezahlt hat. Schon lange warnt die Caritas, dass sich massiv Hunger in Ländern wie Portugal, Griechenland, Spanien und auch in Irland breitmacht. (Kinderarmut nimmt über EU-Sparprogramme massiv zu). Weil viele Kinder hungrig in die Schule kommen, hat die Regionalregierung nun beschlossen, neben Mittagessen in den Schulkantinen für 50.000 Kinder auch Frühstück anzubieten. In einigen andalusischen Regionen wie Jaén, Huelva und Cádiz haben schon mehr als 40% keinen Job mehr.

Wenn Kinder hungern, haben üblicherweise in Spanien auch die Eltern nichts zum Frühstücken auf dem Tisch, deshalb können in verschiedenen Bars die Kunden auch Unbekannte zum Frühstück, zum Brötchen, zu Tapas einladen. Im baskischen Bilbao wollte zum Beispiel auch die Fleischerei Rodo nicht nachstehen. Sie hat ihren Stand im Markt "La Ribera" im Zentrum. Hier können Kunden, wenn sie eine Frikadelle für einen Euro kaufen, einem Unbekannten eine ausstehende Frikadelle mitbezahlen. Die können frisch bei Rodo abgeholt und mit nach Hause genommen und gebraten werden. Er will denen, "die sich in einer schwierigen Situation befinden, zeigen, dass sie unterstützt und gemocht werden". Dass er auf der Webseite als Café geführt wird, nennt er einen "technischen Fehler", weil Fleischereien nicht vorgesehen sind.

Die Kaffee-Idee hat das europäische Festland verlassen und ist bereits nach Großbritannien geschwappt. Auch den Atlantik hat die Idee schon überwunden, sich in der Krise in der Nachbarschaft solidarisch zu zeigen. Nachahmer finden sich bereits in Argentinien, in Mexiko und auch im australischen Melbourne wird "suspended coffee" in diversen Lokalen angeboten.