"Man muss sich nichts mehr zuschulden kommen lassen, um verdächtig zu sein"

Der Physiker und Soziologe Dirk Helbing über drohende totalitäre Tendenzen, die Macht von Informationsplattformen und seine Hoffnung auf ein Zeitalter der Kreativität und Partizipation

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Dirk Helbing ist Professor für Soziologie an der ETH Zürich. Seine großen Themen sind das Informationszeitalter, Big Data und die Stabilität komplexer Gesellschaften. Er leitet die FuturICT-Initiative (Simulation der Zukunft)], die digitale Daten nutzen möchte, um gesellschaftliche Trends zu simulieren – und hat sich dabei intensiv mit den ethischen Fragen auseinandergesetzt, die auftreten, wenn man Daten auswertet, die Menschen im Internet hinterlassen. Im Interview erklärt er, welche Chancen und Risiken im Informationszeitalter liegen, weshalb eine Überwachungsgesellschaft auf Dauer nicht funktionieren kann und wie seine Vision für das Informationszeitalter aussieht.

Vor kurzem wurde bekannt, dass die NSA mit dem PRISM-Projekt in die Daten der größten amerikanischen Internet-Unternehmen wie Google, Facebook und anderen einsieht. Stehen wir am Beginn einer Diktatur der Daten?

Dirk Helbing: Wir befinden uns derzeit in einer Umbruchsituation, wie damals bei der Erfindung der Webstühle oder Dampfmaschinen. Darin liegen Chancen, aber auch Risiken – etwa dass sich totalitäre Tendenzen breitmachen. Vieles ist schon passiert, und wir haben es nicht bemerkt. Die Informationsplattformen, die entstanden sind, haben bereits jetzt eine unheimliche Macht, und wir sind in der Situation, dass wir vor den Informationsbehörden der Welt nackt dastehen.

Weil wir unsere Daten naiv und bereitwillig preisgeben?

Dirk Helbing: Es wird impliziert, dass wir unsere Daten preisgeben. Aber das ist nicht so. Selbst wenn man es nicht will – die Leute benutzen Kreditkarten und Google. Wenn Sie eine Google-Suche starten, wird die Abfrage mit Ihrer IP-Adresse gespeichert, jeder Computer hat einen individuellen Fingerabdruck. Im Grunde liegt ein Logbuch Ihres Denkens vor – was Sie interessiert, was Sie bewegt, das kann man alles nachvollziehen. Man weiß unendlich vieles über jeden Bürger, viel mehr, als es die Stasi über diejenigen wusste, die in der DDR als Staatsfeinde betrachtet worden sind.

Dirk Helbing. Bild: Ch. Mann

Ist es überhaupt möglich, diesen gigantischen, permanent wachsenden Datenberg zu analysieren?

Dirk Helbing: Ein großes Problem ist, dass die Algorithmen imperfekt sind. Man erkennt Muster, die es gar nicht gibt. Wenn man etwa nach zukünftigen Terroristen sucht, werden Menschen identifiziert, die kritisch denken. Man sucht nach bestimmten Stichwörtern, etwa "Bombe" oder bei der Drogenfahndung "Schnee", und wenn Sie solche Stichwörter eingegeben haben, kommen Sie auf eine Liste, vielleicht selbst dann, wenn sie einer Ihrer Facebook-Freunde eingegeben hat oder jemand, der Ihnen mal eine Email geschrieben hat. Die Bombenattentäter von Boston waren ja auch in einer Datenbank von Verdächtigen gespeichert, und als man den Polizeichef fragte, warum er nichts getan hat, antwortete er, fast schon verzweifelt: Es stehen so viele Leute auf diesen Listen.

Die Datenflut ist also auch ein Schutz vor Überwachung?

Dirk Helbing: Vielleicht. Allerdings muss man sich gar nicht mehr zuschulden kommen lassen, um verdächtig zu sein. In dem Moment, wo man dann eine missliebige Meinung hat, wird es immer genügend Daten geben, mit denen man fertig gemacht werden kann. Selbst wenn die Geheimdienste, wie sie es sollten, keine Daten über die eigenen Bürger sammeln, stehen sie doch im internationalen Austausch. Da darf man sich nichts vormachen. Zu meiner Überraschung hat man auch in Deutschland vor einiger Zeit beschlossen, dass die Telefondaten, Verbindungsdaten, Passwörter und auch Suchabfragen von der Polizei bald benutzt werden dürfen, ohne richterlichen Beschluss. So groß ist der Unterschied zwischen Europa und den USA nicht mehr. Die Frage ist, wo das hinführen soll.

Sie sagten ja, das neue Zeitalter habe Chancen und Risiken. Das hört sich jetzt an, als würden wir in ein negatives Szenario hineinschlittern ...

Dirk Helbing: Das künftige Informationszeitalter kann ein Zeitalter des Lichts und des Schattens sein: eine Überwachungsgesellschaft (Schatten) oder ein Zeitalter der Kreativität und Partizipation (Licht). Wir müssen grundsätzliche Entscheidungen treffen, auch was die institutionellen und rechtlichen Rahmenbedingungen angeht, und das müssen wir schnell tun, um mit dem ungeheuren Tempo, mit dem sich Informationssysteme entwickeln, Schritt zu halten.

Wir erleben derzeit, dass die zunehmende Vernetzung und Komplexität verschiedene Systeme destabilisiert, wofür die Finanzkrise ein Beispiel ist. Bei den Politikern schürt das Ängste, auch vor den eigenen Bürgern. Sie versuchen, die Systeme durch Überwachung und Bestrafung zu stabilisieren, schaffen damit aber eine Gesellschaft, in der man nicht leben will und die nicht funktioniert. In dem Moment, in dem die Überwachung die Leute verängstigt und davon abhält, Ideen umzusetzen, führt das in eine negative Spirale, unter der auch die Wirtschaft leidet. Der Staat verliert das Vertrauen der Bürger und damit die Kontrolle.

Welche Alternative sehen Sie?

Dirk Helbing: Komplexe Systeme stabilisieren sich am besten durch Selbstorganisation. Auch das erleben wir bereits, durch Ratingplattformen. Meine Vision ist eine Reputationsgesellschaft, die das Funktionsprinzip sozialer Gemeinschaften auf das "global village" überträgt. Selbstverständlich muss man noch lernen, dies so zu gestalten, dass es nicht so restriktiv ist, wie dörfliche Gemeinschaften sein können, sondern Diversität bewahrt. Wenn wir auf geeignete Prinzipien der Dezentralität, Selbstorganisation und Selbstregulierung bauen, anstatt eine Gesellschaft von oben herab zu steuern, liegen in der zunehmenden Komplexität und Vernetzung große Chancen.