Spitzenkandidaten buhlen um die Gunst der Industrie

Foto: Ulrich Grillo und Peer Steinbrück. Foto: Silvio Duwe

Merkel stellt ihre Wahlkampfgeschenke unter Vorbehalt - Industrievertreter lassen Peer Steinbrück abblitzen

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Der Wahlkampf nimmt langsam fahrt auf - und der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) nutzt seinen alljährlichen Tag der Deutschen Industrie, um den Spitzenkandidaten von Union, FDP, SPD und Grünen auf den Zahn zu fühlen. Laut BDI-Präsident Ulrich Grillo jedoch sind zumindest Teile der Politik mittlerweile vor allem eines: industriefeindlich. Im Kampf um die Stimmen der Industrievertreter ist dabei die amtierende Bundesregierung klar vorne. Besonders angenehm aus Sicht der Industrie ist Merkels erklärte Bereitschaft, ihre teuren Versprechen für die Wähler notfalls ohne mit der Wimper zu zucken zu streichen - und den Unternehmen so höhere Steuern zu ersparen.

Die Stimmung von BDI-Präsident Ulrich Grillo ist geteilt. Einerseits freut er sich darüber, dass die Bundesrepublik die Krise ganz gut überstanden habe. Auf der anderen Seite sieht er jedoch drohende Gefahr aus Teilen der Politik und der Gesellschaft. Diese setzten auf Wachstumshemmer - und Grillo meint damit nicht die Austeritätspolitik, in die die Bundesregierung unter dem Jubel eines großen Teils der Medien Europa treibt. Drei wesentliche Punkte, so der erst seit November letzten Jahres amtierende BDI-Präsident, machten der Industrie Sorgen und hemmten die Investitionen.

An erster Stelle nennt er die Energiewende, über deren Fortgang Unsicherheit bestehe. Vor allem aber würden hohe Strompreise die Industrie belasten, weshalb Grillo einen Strompreisstopp fordert. Entlastungen wie die Befreiung energieintensiver Betriebe von EEG-Umlage und Netzentgelten dürften nicht wegfallen. Energieintensive Betriebe zögerten nämlich bereits heute, in Deutschland zu investieren; in Teilen würden sie ihre Investitionen sogar bereits abziehen. Deutschland - ein Strom-Hochpreisland?

Ein Blick auf die aktuellen Zahlen von Eurostat zeigt allerdings: So dramatisch, wie die Industrielobby die Lage darstellt, ist sie keineswegs. Industriestrom in Deutschland kostete im Jahr 2012 im Schnitt 8,95 Cent pro Kilowattstunde. Im Vergleich zum Euroraum liegt Deutschland damit unter dem Durchschnitt - denn dort liegt der Durchschnittspreis bei immerhin 9,55 Cent. Ein kurzer Blick in die Vergangenheit macht zudem deutlich, dass sich die Energiepreise im Vergleich zur Eurozone aus Sicht der Industrie eigentlich erfreulich entwickelt haben.

Denn im Jahr 2005 lag der Industriestrompreis in der Bundesrepublik mit 7,8 Cent pro Kilowattstunde noch über dem Durchschnitt aller Euro-Länder, wo der Strom 7,13 Cent kostete. Dass Grillo die Bezahlbarkeit von Energie in Gefahr sieht und in diesem Zusammenhang ausgerechnet empfiehlt, in Zukunft auf Fracking zu setzen, ist besonders bemerkenswert: denn selbst Experten der Bundesregierung gehen davon aus, dass die Schiefergasvorkommen in Deutschland, selbst wenn sie wirtschaftlich förderbar wären, viel zu klein sind, um einen Einfluss auf die hiesigen Energiepreise zu haben (Berater der Bundesregierung halten Fracking für überflüssig).

Als zweites Problem hat Grillo drohende Steuererhöhungen und Umverteilungsmaßnahmen ausgemacht. Deutschland habe aber, so stellt er dem Mantra des schlanken Staates folgend klar, kein Einnahmen-, sondern ein Ausgabenproblem. Wenn der Staat mehr einnehmen wolle, dann müsse er auf Wirtschaftswachstum setzen. Eine Verteilungsdiskussion hält Grillo für überflüssig. Immerhin gebe es ja "für jeden" die Chance "auf Bildung und Aufstieg durch eigene Leistung". Damit sei Deutschland "gerechter als viele andere Länder", so Grillo in einem Interview mit der "Zeit", welches online nicht verfügbar ist.

Mit der Realität hat das freilich nichts zu tun, selbst konservative Medien berichten immer wieder, dass nahezu alle Untersuchungen zu diesem Thema das genaue Gegenteil belegen Für Grillo ist es jedoch wichtig, die bestehenden Probleme klein zu reden. Denn wo kein Problem ist, muss sich auch keiner der BDI-Mitglieder an der Lösung der Probleme beteiligen.

Empfohlenes Allheilmittel: Stärkung der Industrie

Schließlich gehört für Grillo auch die Euro- und Verschuldungskrise zu den Hauptproblemen. Den BDI-Präsidenten stört es, dass die Bürger aufgrund der Krise vermehrt daran zweifeln, ob es sinnvoll ist, auch weiterhin auf die Kraft der Märkte zu vertrauen. Die Bürger wollen Grillo zufolge mittlerweile einen höheren Einfluss des Staates auf die Wirtschaft. Doch genau jene Staaten, in denen der Staatseinfluss groß war, hätten die Krise verursacht, behauptet er. Dass der Ausgangspunkt der Krise im Euroraum jedoch in der US-Finanzkrise liegt, die erst durch völlig deregulierte Kapitalmärkte möglich wurde, erwähnt Grillo mit keiner Silbe.

Für ihn liegt das Allheilmittel für die derzeitigen Probleme in der Stärkung der Industrie. Für Deutschland fordert er einen ausgeglichenen Haushalt sowie Investitionen statt Diskussionen über Sozialleistungen. Nötig sei eine Industrieagenda 2020. Auf gar keinen Fall dürfe es Mindestlöhne, eine Deckelung von Managergehältern, ein Frackingverbot oder Frauenquoten geben.

Grillo zufolge zeige der Reformkurs in Europa Erfolge - die Selbstkritik des IWF an seiner eigenen Reformagenda lässt den BDI weitgehend kalt. Das sei eine "typische IWF-Reaktion", erklärte BDI-Hauptgeschäftsführer Markus Kerber auf Nachfrage von Telepolis. Die Medizin sei richtig, lediglich die erste Dosierung zu hart gewesen. Daraus habe man aber mittlerweile gelernt.

Reformen nach Oma-Art

Wirtschaftsminister Philipp Rösler und Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer, allesamt als Wahlkämpfer für die im Herbst anstehende Bundes- und Landtagswahl unterwegs, gaben sich vor den Industrievertretern im Berliner Tempodrom besondere Mühe, den Eindruck einer geschlossenen Mannschaft zu vermitteln. Bei dem Bild, welches Schwarz-Gelb in den letzten vier Jahren vermittelt hat, kann das zwar als Show gesehen werden. Doch die Inszenierung findet Gefallen, zumal alle drei mit ihren Vorstellungen weitestgehend auf einer Linie mit Grillo liegen.

Teamchefin Merkel. Foto: Silvio Duwe

Rösler, der die besondere Aufgabe hatte, den Reigen zu eröffnen, erklärte die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Euro-Länder für alternativlos. In Europa sei man bereit, Schulden zu senken, Reformen zu machen und die Lohnzusatzkosten zu senken. Dies sei positiv. Als Ideengeber für seine politischen Ziele nannte Rösler seine Oma. Die habe ihm schon beigebracht, das man Geld einnehmen muss, bevor man es ausgibt. Oberstes Ziel sei daher die Haushaltskonsolidierung. Für 2014 versprach Rösler einen ausgeglichenen Haushalt, 2015 würden Schulden abgebaut, und ab 2016 könne man dann überlegen, was man mit den Überschüssen macht.

Dass mittlerweile selbst der IWF anerkennen musste, dass eine derart sture Sparpolitik krisenverschärfend wirkt, ignoriert Rösler genau so geflissentlich wie auch Seehofer und Merkel. Zumal der FDP-Chef auch keine Konsolidierung über höhere Steuern erreichen will. Die rot-grünen Steuerpläne nannte er einen "Raubzug durch die Mitte der Gesellschaft".

Rösler, Seehofer und Merkel erklärten unisono Investitionen in Bildung für dringend notwendig, was beim BDI mit Hinblick auf den stets an die Wand gemalten Fachkräftemangel durchaus auf offene Ohren stieß. Ebenso einig waren sich jedoch auch alle drei, dass Haushaltskonsolidierung die oberste Priorität habe - vor Steuersenkungen und vor zusätzlichen Ausgaben.

Auf den ersten Blick erscheint diese Aussage ausgerechnet aus dem Mund der Bundeskanzlerin merkwürdig - immerhin hat Merkel noch vor kurzem mit Wahlkampfgeschenken in Höhe von über 28 Milliarden Euro auf sich aufmerksam gemacht. Beim BDI löste dies bereits leichte Sorge aus, auch die Union könne nach der Wahl die Steuern erhöhen, um zumindest einen Teil der Versprechen in die Tat umzusetzen.

Rösler; Foto: Silvio Duwe

Doch die Kanzlerin hat da ganz andere Pläne, und kann so die Unruhe schnell wieder glätten. Denn sowohl Steuererhöhungen als auch neue Schulden schloss Merkel ausdrücklich aus. Lediglich dann, wenn die Konjunktur so gut läuft, dass aus sie ihre Wahlkampfgeschenke aus steigenden Steuereinnahmen bezahlen kann, sollen der erhöhte Kinderfreibetrag, die Berufsunfähigkeitsrente für Mütter und weitere soziale Maßnahmen umgesetzt werden.

Grillo, der sich gegen mehr Umverteilung entschieden wehrt, dürfte die Rede der Kanzlerin genossen haben. Lediglich einen Dissens zwischen ihm und Merkel gibt es: die Position beim Mindestlohn,. Grillo lehnt ihn komplett ab, Merkel will branchenspezifische Lohnuntergrenzen. Doch mit diesem Mindestlohn Light wird wohl auch der BDI am Ende leben können.

Schwerer Stand für Steinbrück und Göring-Eckardt

Mit dem SPD-Spitzenkandidaten Peer Steinbrück oder der Grünen Katrin Göring-Eckardt hingegen können die Industrievertreter erkennbar wenig anfangen. Und das, obwohl sich beide ebenso redlich bemühen, den Erwartungen zu entsprechen. So fordern beide - ganz auf BDI-Linie, einen marktwirtschaftlichen Ausbau der Erneuerbaren Energien anstelle des bestehenden EEG-Gesetzes. Steinbrück nennt das EEG-Gesetz gar "Innovationsbremse Nummer 1". Auch bei dem Ziel, die Haushalte zu konsolidieren, sind sich beide einig.

Göring-Eckardt; Foto: Silvio Duwe

Doch selbst der wirtschaftsnahe Steinbrück, der vor dem BDI nochmals ausdrücklich die Agenda 2010 lobt, wenngleich mit der Einschränkung, sie habe in manchen Punkten zu Fehlentwicklungen geführt, und zugleich die zurückhaltende Lohnentwicklung in Deutschland als Erfolg hervorhebt, erscheint den Wirtschaftsvertretern nicht glaubwürdig genug. Der Grund dafür ist seine Forderung nach Mindestlöhnen ebenso wie seine Pläne für eine höhere Einkommenssteuer, sowie die Wiedereinführung von Vermögens- und Erbschaftssteuer. Da hilft auch seine Beteuerung nichts, dass er dank hoher Freibeträge den Unternehmern nicht die Substanz nehmen will.

Das Schaulaufen der Spitzenkandidaten auf dem BDI-Parteitag macht damit das Dilemma, in welches sich die SPD bei der Auswahl ihres Kandidaten manövriert hat, überdeutlich. Bei der Stammwählerschaft kann Steinbrück nicht punkten, zu stark ist die Erinnerung an seinen neoliberalen Kurs unter Gerhard Schröder. Und auch die Wirtschaft setzt wohl lieber auf das schwarz-gelbe Original.

Angela Merkel hingegen kann es sich leisten, ihre Wahlkampfversprechen schon nach wenigen Tagen auf einer öffentlichen Veranstaltung faktisch wieder einzukassieren, ohne dass dies ihre Wiederwahl auch nur im Ansatz gefährden könnte.