Kampf um den Gezipark: Keine Ruhe nach dem Sturm

Foto: Fabian Köhler

Fast 24 Stunden dauerten die Straßenschlachten zwischen türkischen Demonstranten und Polizisten. Nun bauen die Aktivisten ihren zerstörten Park wieder auf - und die Barrikaden gleich mit. Denn der nächste Sturm kommt bestimmt

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Es regnet am Mittwochmorgen im Istanbuler Gezipark. Erschöpfte Aktivisten sitzen vor ihren Zelten und blicken zum ersten Mal seit zwei Wochen auf halbleere Wiesen. "Ein Sturm ist über uns hereingebrochen", klagt Meral. Sie meint nicht das Unwetter, welches am Morgen den letzten Rest Tränengas aus der Luft wusch.

Es waren die gewaltsamsten 24 Stunden der letzten zwei Wochen, die Istanbul am Dienstag und Mittwochmorgen erlebte. Tausende Demonstranten lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei. Das "Ende der Toleranz", von dem der türkische Premierminister zuvor gesprochen hatte, führte zum Beginn massiver Gewalt. "So etwas habe ich noch nie erlebt", sagt Hassan mit roten Augen.

Die Einkaufsstraße Istiklal ist in der Nacht zum Zentrum des Protests geworden. Blumenkübel, Abwasserrohre, selbst ein aus dem Boden gerissenes Wachhäuschen werden zu Barrikaden gestapelt. Aus dem Dunkel dahinter fliegen unterdessen unaufhörlich Tränengasgranaten. Selbst Passanten sieht man nur noch mit Atemmaske.

Fußallfans wie der 24-jährige Beşiktaş-Anhänger Hassan gelten als Art Elitetruppe des Protests. Von "radikalen Randgruppen" spricht Istanbuls Gouverneur in der Nacht. Doch das Bündnis aus Menschen, die die ganzen Nacht über in den Istanbuler Stadtteil Beyoğlu strömen, ist vielleicht das vielfältigste in der Geschichte der Türkei: Von zahllosen sozialistischen und linksradikalen Gruppen bis zu muslimischen Organisationen. Die Fahnen von kurdischen Organisationen sind ebenso zu sehen, wie die von türkischer Nationalisten und Kemalisten. Längst haben ihre Forderungen nichts mehr mit dem Einkaufszentrum zu tun, welches im Gezipark gebaut werden soll. Mehr politische Freiheiten, weniger Einfluss der Religion. Wie das genau aussehen soll? "Darüber reden wir, wenn Tayyip weg ist", sagt der Anarchist Kazim.

Neben der Beschneidung bürgerlichen Freiheiten und der massiven Polizeigewalt protestieren sie auch gegen die Rolle der Medien. Tagelang hatten die staatsnahen Fernsehsender die Proteste ignoriert. Am Mittwoch verurteilte die türkische Rundfunkbehörde RTÜK vier regierungskritische TV-Anstalten für ihre Berichterstattung zu Geldstrafen. Kaum ein Übertragungswagen auf dem Taksim-Platz, der nicht mit Protestslogans beschmiert ist.

Als einer von ihnen am Dienstagabend in Flammen aufgeht und der dunkle Qualm über ganz Istanbul zu sehen ist, bejubeln dutzende Passanten den Einsatz des Polizei-Wasserwerfers. "Geht doch bitte nach Hause" lautet nicht nur die zynische Ansage aus den Lautsprecherwagen der Polizei, sondern auch die Forderung vieler Menschen im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu. Mehr als die Hälfte der türkischen Bevölkerung lehne die Forderungen der Demonstranten mittlerweile ab, gab am Mittwoch das türkische Sozialforschungsinstituts Andy-Ar bekannt. Bloß 7,5 Prozent sprachen sich für die Fortsetzung der Proteste aus.

Foto: Fabian Köhler

"Die Eskalation war geplant"

Doch selbst innerhalb der Regierungspartei AKP kritisieren einige den Kurs des Ministerpräsidenten. Die "Taksim-Plattform", in der sich die Mehrzahl der Gruppen im Gezipark zusammengeschlossen hat, koordiniert Touren von türkischen Politikern durch den Park. Auch AKP-Politiker sollen sich am Mittwoch die zerstörten Zelte angesehen haben. Von einem angeblich geplanten Treffen mit Erdogan weiß man hingegen nichts. "Wir würden auch nicht hingehen, wenn es das Angebot gäbe", sagt einer der Organisatoren.

Grund für die Ablehnung von Gesprächen ist vor allem die massive Polizeigewalt: "So unfähig können sie nicht sein. Diese Eskalation war geplant", wirft Kazim der Polizei vor. Er ist am Mittwochmorgen damit beschäftigt im Camp einen Versorgungsstand zu reparieren. Medikamente, Tränengasmasken und Kekse werden hier eigentlich verteilt. Nun liegt alles verteilt zwischen zerrissenen Zeltplanen und gebrochenen Gestängen. Stundenlang lässt die Polizei am Dienstag einige gewalttätige Demonstranten gewähren. "Keiner von uns weiß, wer das war, und es wurde scheinbar keiner von ihnen festgenommen", sagt Kazim. "Die Polizei wollte, dass es zu Unruhen kommt, um einen Vorwand zu haben, gegen uns vorzugehen", fügt er hinzu. Die Vermutungen bestätigen auch Fotos, auf denen zu sehen ist, wie zwei Demonstranten scheinbar Polizei-Funkgeräte in den Taschen tragen.

Foto: Fabian Köhler

Zum Teil geht der Plan auf: Trotz gegenteiliger Versprechen reißt die Polizei am Dienstagabend Teile des Parks ab. "Wir haben Glück, dass niemand totgetrampelt wurde", erinnert sich Kazim. Mit Schallgranaten löst die Polizei zwischenzeitlich auf dem Taksim-Platz eine Massenpanik aus. Tausende Demonstranten flüchten in den sowieso schon überfüllten Gezipark. "Danach haben sie uns auch noch mit Tränengas eingedeckt", sagt Kazim über die Stunden, in denen die Sanitätstruppen des Camps fast minütlich Verletzte durch den Park trugen. Wie viele Verletzte es in dieser Nacht gab hat niemand gezählt. 5000 seien es seit Beginn der Proteste, sagt der türkische Ärzteverband.

"Lange kann ich diesen Terror nicht noch ertragen", sagt auch Meral. Am Mittwochmorgen wollen nicht alle mit dem Protest weitermachen. Viele haben in der Nacht aus Angst ihre Zelte abgebaut, die Gestänge für den Barrikadenbau gespendet. Andere protestieren schon wieder für den Rücktritt Erdogans: "Tayyip istifa". Am Taksim-Platz kehren unterdessen die ersten Touristen zurück, klappen ihre Schirme zusammen, posieren vor Wasserwerfern. Der Regen hat aufgehört am Gezipark. Der Sturm dauert an.

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