Warum gibt es eigentlich trotz der Branchenkrise immer mehr Hochschulausbildungsgänge für den Journalismus?

Weil die angehenden Journalisten den Zeitungen nicht mehr zutrauen, sie gut auszubilden?

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Mit Medien verbindet man Journalismus, und mit Journalismus Journalisten. Dabei ist etwa in einem Zeitungsunternehmen nur jeder sechste fest angestellte Mitarbeiter Journalist (Redakteur oder Korrespondent), so der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDZV). Die meisten Beschäftigten dort arbeiten in den verschiedenen Verlagsabteilungen - Verwaltung, Anzeigen, Vertrieb - und in der Technik.

Für die meisten Zeitungsberufe absolviert man eine "ordentliche" Ausbildung. Nur für den Journalismus nicht. Jedenfalls nicht unbedingt. Journalist ist ein so genannter "freier" Beruf: "Weil unsere Verfassung die Pressefreiheit garantiert, ist auch der Zugang zum Journalismus frei und darf weder staatlich geregelt sein, noch von der Absolvierung vorgeschriebener Ausbildungsgänge abhängig gemacht werden." So der BDZV. Wer den Beruf ergreifen will, kann sich also einfach Journalist nennen und drauflos schreiben. Und hoffen, dass seine Artikel gekauft und gedruckt werden. Das klappt allerdings nur selten.

Die meisten Journalisten haben ein Redaktionsvolontariat absolviert. Meist nach einem Studium, wobei der Studiengang fast egal ist. Ein geistes- oder gesellschaftswissenschaftliches Fach, eine Naturwissenschaft oder Jura sind gute Voraussetzungen. Laut BDZV haben über 70 Prozent der Berufsanfänger bei den deutschen Zeitungen ein Hochschulstudium abgeschlossen (Stand: 2005). Andere besuchen eine Journalistenschule - der BDZV listet zehn eigenständige und fünf verlagsgebundene Schulen auf. Wieder andere studieren Journalismus. Hier ist das Angebot sehr unübersichtlich und reicht von Journalistik bis Kommunikationswissenschaft; Ersteres bereitet auf den Beruf des Journalisten vor, Letzteres will den Kommunikationsprozess erforschen.

Die Branche ist in der Krise - und die Anzahl der Bewerbungen an Journalistenschulen nimmt ab. Zumindest ist sie an der Deutschen Journalistenschule in den vergangenen Jahren um ein viertel gesunken. Ihr Leiter, Jörg Sadrozinski, begründet dies mit der schlechten wirtschaftlichen Lage, gibt aber zu bedenken, dass es für die 45 Ausbildungsplätze zwar nicht mehr 2000, aber immerhin noch 1500 Bewerbungen gebe.

Merkwürdigerweise gibt es trotz dieser Krise aber immer mehr Journalismus-Studiengänge. Und (wahrscheinlich) immer mehr Journalisten, die dort eine Ausbildung absolviert haben. Wie viele es genau sind, lässt sich schwer schätzen - selbst der Zeitungsverlegerverband weiß nicht, was man wo genau studieren kann. Laut BDZV listet der Medienstudienführer insgesamt mehr als 400 Medienstudiengänge auf - laut Medienstudienführer selbst sind es aktuell über 600 Medienstudiengänge und Weiterbildungsmöglichkeiten. Von diesen sind 95 Journalistik-Studiengänge (darunter allerdings auch Stimmgestaltung und Ähnliches).

Warum gibt es so viele Medienstudiengänge? - Ist das Angebot mit der Nachfrage gestiegen?

Es könnte natürlich sein, dass die 500 Leute, die sich nicht mehr bei der Deutschen Journalistenschule bewerben (und die 1455 weiteren, die nicht genommen werden) früher aufgegeben hätten - heutzutage jedoch an einer Hochschule Journalistik oder Kommunikationswissenschaft studieren. Und es gibt ja noch mehr Journalistenschulen: Womöglich absolvieren jetzt alle Abiturienten, die sich früher bei einer Journalistenschule beworben hätten, aber es heutzutage nicht tun (sowie die Abiturienten, die dort abgelehnt wurden) heutzutage an einer Hochschule einen journalistischen Studiengang. Möglich, aber irgendwie eine absurde Vorstellung.

Wollen also trotz Branchenkrise immer mehr junge Leute Journalist werden?

Oder wollen sie in den Bereich Public Relations gehen, und lernen darum vorher Journalismus?

Vielleicht beides. Eine größere Erhebung ist mir nicht bekannt, sie wäre interessant. Noch kann man nur Vermutungen anstellen. Ein ganz anderes Erklärungsmodell als die genannten bietet ein Ansatz aus der Politikwissenschaft (der allerdings nicht empirisch überprüft ist, weil es dazu an Zahlen fehlt).

Der Varieties-of-Capitalism-Ansatz

In den vergangenen ein bis zwei Jahrzehnten entstand in der Politikwissenschaft der Varieties-of-Capitalism-Ansatz: Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus hatte man erst gedacht, die Geschichte gehe nicht weiter und alle Länder würden gleich - und auf die gleiche Art kapitalistisch. Dann, im Jahr 2001, gaben Peter Hall und David Soskice das Buch Varieties of Capitalism: The Institutional Foundations of Comparative Advantage heraus.

Hall und Soskice verglichen verschiedene kapitalistische Staaten mit ihren Systeme und Institutionen und kamen zu dem Schluss, dass es unterschiedliche Arten von Kapitalismus gibt, "Varieties of Capitalism" bzw. "Spielarten des Kapitalismus". Ihr Ansatz ist in der Politikwissenschaft viel diskutiert. Eigentlich bezieht er sich auf die Produktionsbranche, aber er kann vielleicht Phänomene in der Medienlandschaft erhellen. Die beiden Autoren behaupten, dass es, grob gesagt, zwei unterschiedliche Arten von Kapitalismus gibt, die sich einander nicht angleichen, sondern sich selbst bestärkende Systeme sind: Einen liberalen (zum Beispiel in den USA oder in England) und einen koordinierten (etwa in Deutschland). Beide Varianten unterscheiden sich in der Unternehmensführung, in den Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, der Unternehmensfinanzierung und den Firmenbeziehungen.

Ein weiterer Unterschied zwischen ihnen besteht in den Ausbildungssystemen:

In liberalen Ländern wie den USA erwerben zukünftige Arbeitnehmer ihre Qualifikationen eher nicht im Unternehmen, sondern an allgemeinbildenden Einrichtungen wie Schulen und Universitäten. Darum kann man in diesen Ländern viele Studiengänge belegen, die in anderen Ländern betriebliche Ausbildungen wären. Der Staat trägt über die Finanzierung von Schulen und Universitäten einen Teil der Kosten - aber auch die Studierenden zahlen sehr viel, vor allem in den USA (allerdings sind dort auch die Einkommen höher und es gibt viele Stipendien).

Die Unternehmen selbst haben dagegen keinen rechten Anreiz, Mitarbeiter auszubilden, weil nicht nur Unternehmer, sondern auch Mitarbeiter flexibler sind und schneller kündigen. Absolventen sind Generalisten, die sich schnell an neue Herausforderungen anpassen. So entstehen in liberalen Ländern wie den USA besonders viele neuartige Produkte, für die Unternehmen Arbeitnehmer brauchen, die sich schnell spezialisieren können. In den letzten Jahrzehnten waren das beispielsweise Software- und Internet-Angebote.

In koordinierten Ländern wie der BRD treffen Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf ein Geflecht von Übereinkünften. Es gibt eine duale Ausbildung, Arbeitnehmer lernen in Unternehmen und in Berufsschulen der Arbeitgeberverbände. Sie lernen viel Allgemeines - und alles, was nötig ist, um die speziellen Produkte "ihres" Unternehmens herstellen zu können, außerdem Betriebsgeheimnisse. Darum entstehen in koordinierten Ländern besonders viele Produkte, die schon erfunden wurden, aber immer weiter verbessert werden, wie etwa Autos. Und es liegt häufig im Interesse der Arbeitgeber, dass die Arbeitnehmer lange im Betrieb bleiben.

Was hat das mit den Medien zu tun?

Nun handelt es sich bei der Zeitungsbranche nicht um eine Produktions- sondern um eine Dienstleistungsbranche. Es geht im Journalismus nicht um die Erfindung neuer, auch nicht um die Verbesserung bestehender Produkte, sondern darum, Themen zu entdecken, zu recherchieren und zu schreiben. Auch sind Betriebsgeheimnisse nicht wichtig (außer vielleicht bei sehr langen Recherchen).

Dennoch gibt es gerade im Bereich der Ausbildung eine starke Parallele zum Modell des koordinierten Kapitalismus (zumindest in der Vergangenheit): So haben Journalisten traditionell ein Volontariat absolviert. Auch das ist eine duale Ausbildung zwischen Redaktion und Schulungen- Letztere organisieren die Zeitungsverlage, koordiniert etwa über ihren Branchenverband BDZV. Und Journalistenschüler absolvieren ihre Ausbildung (wenn sie nicht ohnehin eine verlagsgebundene Journalistenschule besuchen) als eine duale Angelegenheit zwischen Schule einerseits und Verlagspraktika und -hospitanzen andererseits.

Journalismusstudenten dagegen absolvieren keine duale Ausbildung in der Verantwortung der Verlage. Sie sind eher auf sich allein gestellt - aber auch unabhängiger. Dies entspricht eher dem liberalen Kapitalismusmodell.

Dass angehende Journalisten sich heutzutage so anders entscheiden als früher, spiegelt den Wandel in der Medienlandschaft wider. Diese wandelt sich vor allem nach US-Vorbild und durch US-Trends - man denke nur an Online-Auftritte der Zeitungen und soziale Netzwerke. Die Zeitungen sehen sich einer Herausforderung durch digitale Medien gegenüber: Einer Studie von Booz & Company im Auftrag von Google zufolge profitieren Medienkonzerne zwar insgesamt vom digitalen Wandel1, aber Presse- und Musikverlage bilden eine Ausnahme. Diese beiden Mediensparten legen nicht zu.

In den USA kann man seit Jahren beim Zeitungssterben zusehen. Auch in Deutschland machen viele Medien dicht (zum Beispiel dapd, FTD, Amica, Park Avenue, Vanity Fair, Maxim), außerdem gehen fast bei allen Zeitungen und Zeitschriften (abseits der Zeit, der Landlust und ihrer Epigonen) die Auflagen deutlich zurück - in den letzten fünf Jahren am Kiosk z.B. beim Focus um 48 %, beim Stern um 40 % und beim Spiegel um 36 %. Das herkömmliche Geschäftsmodell scheint zu zerfallen. Aber es gibt neue Akteure, neue Angebotsformen, innovative (digitale) Geschäftsmodelle. Dadurch ändern sich Wertschöpfungsstruktur und Wettbewerb im Nachrichtenmarkt:

Die Medienbranche in Deutschland wird liberaler und unkoordinierter.

Da ist eine breitere Ausbildung nützlich, als sie ein Volontariat bietet. Angehende Journalisten wollen sich nicht nur mit Text und Layout auskennen, sondern auch mit Videojournalismus und sozialen Netzwerken. Nur: Was machen die Journalisten, die das können. Werden sie bei den Zeitungen Arbeit finden?

Merken die Verlagshäuser und Zeitungen überhaupt, dass sie sie brauchen? Wenn sie es noch nicht einmal geschafft haben, in ihren Ausbildungsangeboten auf ihre eigene Zukunft zu reagieren, dann, nun ja, dann schaufeln sie sich ihr eigenes Grab. Und sie haben selber Schuld - wer schließlich sollte die Geschäftsmodelle mit Leben füllen, wenn nicht die eigenen Mitarbeiter?

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