Neue Nervenzellen im Gehirn

Auch das Gehirn von erwachsenen Menschen bildet täglich neue Nervenzellen, doch diese haben eine stark verringerte Lebensdauer - vielleicht der Preis dafür, dass Menschen ein so hohes Lernvermögen haben.

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Entgegen landläufiger Meinung vermehren sich Nervenzellen auch noch im Gehirn eines erwachsenen Menschen. Hunderte von neuen Zellen integrieren sich täglich in die Nervenbahnen und bleiben dort jahrelang aktiv. Das Wachstum beschränkt sich auf einen kleinen Teil des Gehirns, der wichtig für das Lernen ist. Doch auch die Todesrate ist hoch - im Laufe des Lebens sterben mehr Zellen ab, als neue hinzu kommen. Mathematische Modelle und Versuche mit Mäusen deuten an, dass der erhöhte Zellumsatz ein wichtiger Teil des Lernprozesses sein könnte.

Als die Großmächte ihre Atombomben-Versuche noch überirdisch durchführten, verteilten sich große Mengen des radioaktiven Kohlenstoff-Isotops C-14 in der Atmosphäre. C-14 gelangte in die Nahrung, wurde von Menschen aufgenommen und fand auch seinen Weg in das Erbgut von Gehirnzellen. 1963 wurden die überirdischen Versuche schließlich verboten, und damit verschwand auch C-14 allmählich aus der Atmosphäre. Was blieb, waren die radioaktiven Spuren im menschlichen Gehirn.

Am Karolinska-Institut in Stockholm gelang nun ein technisches Meisterstück. Forscher isolierten einzelne Nervenzellen aus dem Gehirn von verstorbenen Menschen und analysierten die radioaktiven Spuren im Erbgut - exakt genug, um deren Alter auf 1,5 Jahre genau zu bestimmen, wie sie in Cell schreiben. Das Ergebnis war eindeutig: Viele Nervenzellen waren jünger als die Menschen, aus denen sie stammten. Ein klarer Beweis dafür, dass auch erwachsene Menschen ständig neue Nervenzellen im Gehirn bilden.

Die Neubildung von Nervenzellen findet allerdings nur in einem kleinen Bereich des Gehirns statt: dem Gyrus Dentatus, einem Teil des Hippocampus. Täglich werden dort etwa 700 neue Nervenzellen eingebaut, und da gleichzeitig andere Zellen sterben, werden pro Jahr etwa 2 % der Neuronen im Gyrus Dentatus ausgetauscht.

Doch dieser Austausch trifft nicht alle gleich, und so gibt es im Gyrus Dentatus zwei unterschiedliche Gruppen von Nervenzellen. Die eine Gruppe ist langlebig und begleitet den Menschen von Geburt bis Tod, während die andere Gruppe - etwa ein Drittel der Zellen - regelmäßig ersetzt wird. Die Zellen dieser Gruppe sind verhältnismäßig kurzlebig und haben eine Halbwertszeit von sieben Jahren - bei den langlebigen Nervenzellen liegt dieser Wert zehnfach höher, bei siebzig Jahren.

Warum braucht das Gehirn Nervenzellen, die nur wenige Jahre leben und regelmäßig ausgetauscht werden?

Die Antwort könnte in der Funktion des Hippocampus liegen: Er spielt eine wichtige Rolle beim Lernprozess und trägt dazu bei, dass Elemente aus dem Kurzzeit-Gedächtnis in das Langzeit-Gedächtnis überführt werden.

Viele Forscher haben sich Gedanken darüber gemacht, wie dieser Lernprozess ablaufen könnte. Zu ihnen gehört auch Gerd Kempermann aus Dresden, der mit seiner Arbeitsgruppe ein vereinfachtes mathematisches Modell entwickelte, das die Vorgänge im Hippocampus simulieren sollte. Dieses Modell sagt voraus, dass für ein effektives Lernen drei Prozesse ineinander greifen müssen: die ständige Neuverknüpfung der Nervenleitungen, der regelmäßige Austausch von Zellen, und die Bildung neuer Nervenzellen.

Neue Nervenzellen haben dabei einen entscheidenden Vorteil: Sie sind deutlich wandlungsfähiger als ihre alteingesessenen Kollegen. Das Gehirn kann somit flexibler reagieren, den Lernprozess optimieren und sich besser auf Veränderungen in der Umwelt einstellen.

Versuche mit Mäusen unterstützen Kempermanns Hypothese. Wenn er die Neubildung von Nervenzellen mit einer chemischen Substanz verhinderte, konnten die Mäuse keine ausgefeilten Suchstrategien entwickeln, um eine verborgene Plattform in einem Wassertank zu finden. Ihre Lernfähigkeit war also deutlich eingeschränkt.

Kempermann geht noch weiter und sagt, dass die neugebildeten Nervenzellen eine Rolle bei der Ausbildung von Individualität spielen. Seine Arbeitsgruppe hielt 40 genetisch identische Mäuse in einer Art Labyrinth, das aus verschiedenen Ebenen und mehreren Tunneln bestand. Anfangs verhielten sich alle Mäuse ähnlich, doch nach drei Monaten stellten sich deutliche Unterschiede ein, wie die Wissenschaftler in Science berichten: Manche Tiere waren sehr neugierig und wanderten ständig herum, andere waren eher zurückgezogen und blieben an einem Ort.

Am Ende des Versuchs wurden die Gehirne untersucht: Neugierige Mäuse hatten auch mehr neue Nervenzellen im Hippocampus. Kempermann fand also eine direkte Verbindung zwischen der Ausprägung individueller Eigenschaften - Wanderlust versus Ortstreue - und den neugebildeten Verknüpfungen im Gehirn.

Im Menschen ist der Gyrus Dentatus deutlich wandlungsfähiger als in der Maus. 700 neue Nervenzellen am Tag - das ist eine verschwindend geringe Zahl, wenn man sie mit den 100 Milliarden Zellen des menschlichen Gehirns vergleicht. Dennoch könnten diese Zellen ein Teil der Erklärung sein, warum wir Menschen ein so hoch entwickeltes Lernvermögen aufweisen.