Türkische Polizei bestellt 100.000 Tränengaskanister nach

Für Erdogan sind die Protestierenden weiter "Terroristen, Anarchisten, Unruhestifter", während die Polizei den "Demokratietest" bestanden habe, immerhin sollen die Stehenden, wenn die brav sind, nicht verfolgt werden

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Wenn das Gericht, das schon vor dem Beginn der Proteste einen Baustopp für die Bebauung des Gezi-Parks verhängt hatte, dieses doch genehmigen sollte, will die regierende AKP die Bürger von Istanbul entscheiden lassen. Regierungschef Erdogan hatte ein Referendum schon früher ins Spiel gebracht. Wenn nun Vize-Parteichef Hüseyin Çelik erklärt, man werde sich dann der Entscheidung der Menschen beugen, dann weiß er auch, dass es längst schon nicht mehr allein um den Erhalt des Gezi-Parks geht.

Çelik warb um Zurückhaltung bei den Protestierenden und forderte sie auf, ihre Demonstrationen friedlich zu machen, was heißt, andere nicht zu stören. Er wies dabei auf die Verluste hin, die der Wirtschaft und dem Tourismus schon entstanden seien. Es ist genau diese paternalistische Haltung, die vielen auf den Geist geht und die Erdogan und die AKP-Mitglieder auch damit begründen, dass sie die Mehrheit der Menschen vertreten.

Ein schönes Beispiel dieser Haltung, die einerseits Proteste niederknüppelt und auf Terroristen, Staatsfeinde, ausländische Interessen, Medien oder Schurken schiebt, ist andererseits der Rat an die Protestierenden, dass sie nun aufhören sollen. Mittlerweile hat Erdem Gündüz, der "Duran Adam", der Stehende, eine Welle der Nachahmung hervorgerufen (Das Schweigen der Demonstranten auf dem Taksim-Platz). Am 17. stand er mehrere Stunden auf dem Taksim-Platz und schaute den Staatsgründer Ata Türk an, ein stiller Vorwurf, ein leiser Protest, den jeder versteht - und den die Regierung kaum verbannen kann, obgleich sie zu Beginn erste Nachahmer schon einmal festgenommen hatte. Jetzt versprach der Vize-Regierungschef Bülent Arınç, man werde den Stehenden, der 8 Stunden nicht aufs Klo ging, nicht belangen - und auch andere nicht, die friedlich so protestieren. Ob man ihm glauben wird, ist eine andere Sache, schließlich hatte er auch schon versprochen, keine Polizisten auf den Gezi-Park zu schicken. Auch Arınç kann die paternalistische Geste nicht lassen. Da nun die Demonstrationen friedlich wurden und sich stehend ausdrücken, habe man auch keine Einwände dagegen, also Einwände in Form von Tränengas, Wasserwerfern und Gummigeschossen: "Aber diejenigen, die diese Proteste ausführen", so sagte er weiter, "sollten nicht den Verkehr behindern und sie sollten vor allem nicht ihre eigene Gesundheit gefährden. Sie sollten nicht acht Stunden stehen, sondern nur 8 Minuten und dann weiter ihren Tätigkeiten nachgehen." Wenn es nicht so ernst wäre, könnte man über die Haltung eines autoritären Vaters schmunzeln, der sich nachsichtig gibt und vorschreibt, wie die Kinder ihren Protest ausführen dürfen, damit sie nicht weiter stören.

Sicherheitshalber kauft die Polizei aber schon massenhaft Tränengas auf und besorgt sich weitere Wasserwerfer und gepanzerte Fahrzeuge. 100.000 Tränengaskanister sollen nach Medienberichten bestellt werden und 60 weitere Wasserwerfer. In den drei Wochen seit Beginn der Proteste hat die Polizei exzessiv Tränengas eingesetzt, 130.000 Tränengaskanister haben Polizisten auf die Protestierenden verschossen, 150.000 hatte man für 2013 eingekauft. Da sind also nicht mehr viele übrig.

Regierungschef Erdogan hatte am Dienstag noch einmal das Vorgehen der Polizei als maßvoll bezeichnet. Schließlich sei der Einsatz von Tränengas ein "natürliches Recht der Polizei. Haben sie eine Kugel abgeschossen? Haben sie Schusswaffen eingesetzt?" Damit gibt er zu erkennen, dass alles unter dem Einsatz von Schusswaffen nicht kritisiert werden kann. Die Polizei haben "den Demokratietest erfolgreich angesichts einer umfassenden und systematischen Bewegung der Gewalttätigkeit bestanden", erklärte er, was sicher viele wieder als bestenfalls zynisch betrachten werden. "Die Polizei wurde so dargestellt, als hätte sie Gewalt angewendet. Wer wendete Gewalt an? All die Terroristen, die Anarchisten, die Unruhestifter." So wird es mit der Ruhe nichts, wenn es nur die Erdogans auf der einen Seite und die Bösen auf der anderen gibt.