Sollte Snowden nach Ecuador fliehen?

Noch ist unklar, wo der Elektro-Spionage-Whistleblower Zuflucht finden wird. Trotzdem werden bereits Qualitäten möglicher Asylländer debattiert

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Die jüngste Geschichte Edward Snowdens gleicht einem Agentenkrimi aus dem Kalten Krieg. Nachdem der 30-jährige umfangreiche Informationen über das US-Interspionageprogramm Prism, das britische Pendant Tempora und Cyberattacken der USA auf chinesische Netzwerke öffentlich gemacht hat, setzte sich der ehemalige Vertragstechniker des US-Geheimdienstes NSA nach Hongkong ab. Es gelang ihm auch diese Stadt zu verlassen, ohne dass die USA seiner habhaft wurden. Gestern Nachmittag um 17 Uhr landete er in Moskau, nachdem die Behörden in Hongkong eine Auslieferung an die USA abgelehnt hatten. Seine weitere Route ist unbekannt.

Angeblich soll seine Route über Havanna zu einem südamerikanischen Zielort führen. Unklar ist indes, wie er weiterreisen kann, nachdem die US-Behörden seinen Reisepass annulliert haben. Nach jüngsten Berichten des Reporters der Nachrichtenagentur AP, Max Seddon, blieb Snowdens Platz auf dem Flug nach Havanna heute leer.

Die Diskrepanz zwischen der politisch-gesellschaftlichen Realität und der Selbstdarstellung westlicher Mächte

Der Fall des nun bekanntesten US-amerikanischen Whistleblowers nach dem inhaftierten Militär Bradley Manning belegt nicht nur das ungeheure Ausmaß der Internetüberwachung durch westliche Hegemonialmächte. Es stellt auch das geopolitische Gefüge auf den Kopf und wirft Fragen nach gesellschaftlichen Realitäten auf. Noch tun sich hiesige Medien sichtlich schwer mit dem Umstand, dass der Aktivist bei seiner Flucht die Hilfe Russlands, Kubas, Venezuelas und womöglich Ecuadors nutzt.

Also ausgerechnet von Staaten, die von den USA immer wieder wegen Menschenrechtsverletzungen gebrandmarkt werden. Doch genau darauf zielt der Aktivismus von Personen wie Bradley Manning, Julian Assange und nun Edward Snowden ab, die ihre Freiheit, ihre Sicherheit und Leben riskieren. Es geht ihnen darum, die Diskrepanz zwischen der politisch-gesellschaftlichen Realität und der Selbstdarstellung westlicher Mächte aufzuzeigen.

Derweil harrt Snowden auf dem Flughafen Moskau-Scheremetjewo aus. In der Nacht von Sonntag auf Montag mietete er nach Angaben russischer Medien ein Zimmer im futuristischen "V-Express"-Hotel im Transitbereich. Nach der Schlappe in Hongkong üben die USA massiv Druck aus, dass die russischen Behörden den Whistleblower ausliefern, damit er in den USA vor Gericht gestellt werden kann.

Inzwischen haben das Außenministerium und das Justizministerium über Sprecher Stellung bezogen. Die obere Regierungsebene hält sich zurück, doch US-Senatoren drohen etwaigen Zielländern. Dabei dürfte sich in Washington die Erkenntnis durchgesetzt haben, dass eine Auslieferung des Gesuchten nur noch schwer zu erreichen ist.

Moskau zurückhaltend, Peking empört

Der Sprecher des russischen Präsidenten Wladimir Putin, Dmitri Peskow, gab sich am Sonntag demonstrativ gelassen. Russische Behörden hätten keine Informationen über die Reisepläne Snowdens gehabt, sagte er. Es habe zuvor auch keinen Kontakt gegeben. Der Moskauer Auslandssender Russia Today wies indes darauf hin, dass Russland nur ein Durchreiseland sei. Ohne ein gültiges russisches Visum dürfe der Flüchtige den Transitbereich nicht verlassen. Natürlich aber ist der Fall Snowden neben aller juristischen Argumentationen auch und vor allem ein politischer Fall.

Allein schon deswegen ist es unwahrscheinlich, dass Russland den Mann während dessen Durchreise an die USA ausliefert. Manch ein russischer Nationalist dürfte selbst einem Asylgesuch Snowdens in Moskau nicht abgeneigt sein. Die russische Tageszeitung Kommersant verweist in diesem Zusammenhang auf die Drohungen US-amerikanischer Senatoren. Von dieser Seite hieß es, ein Beitrag Russlands zur Flucht des Whistleblowers werde nicht unbeantwortet bleiben. "Aber in Moskau werden diese Anschuldigungen und Vorwürfe ruhig aufgenommen, hier fürchtet niemand das Aufkommen eines neuen Konflikts mit den USA", kommentiert der Kommersant.

Deutliche Worte fand indes die sonst eher zurückhaltende chinesische Regierung. Die Regierung sei "tief besorgt" über die von Snowden preisgegebenen Informationen über Cyberattacken der NSA auf chinesische Netzwerke und Institutionen. Die ganze Welt profitiere von den Enthüllungen des ehemaligen Vertragsmitarbeiters, schreibt die englischsprachige China-Website Global Times.

Die Redaktion fordert zugleich, China müsse Lehren aus dem Fall ziehen: Snowden habe "Innenansichten der US-Übergriffe auf Grundrechte und die Cyperspionage der USA in der ganzen Welt offengelegt". Dies lasse Washington moralisch in einem schlechten Licht erscheinen. China müsse in der Konsequenz die eigene IT-Sicherheit stärken.

Ecuador im Visier

Derweil steht der Scheremetjewo-Flughafen in Moskau im Zentrum des internationalen medialen Interesses. Am Sonntag traf der Botschafter Ecuadors in Moskau, Patricio Chávez, auf dem Airport ein. Offenbar war der Diplomat angewiesen worden, über ein Asylgesuch des Snowdens zu beraten. Ecuadors Außenminister Ricardo Patiño hatte einen entsprechenden Antrag während eines Vietnam-Besuchs zuvor über den Kurznachrichtendienst Twitter in Englisch und Spanisch bestätigt.

Ecuador hatte sich bereits als mögliches Zielland für den flüchtigen Whistleblower angeboten. Es wäre der zweite Datenaufdecker, der in dem südamerikanischen Land Zuflucht findet. Vor einem Jahr bereits hatte sich WikiLeaks-Mitbegründer Julian Assange in die ecuadorianische Botschaft in London geflüchtet. Dort sitzt er bis heute fest, weil die britischen Behörden ihm die Ausreise verweigern.

Inzwischen wurde auch bekannt, dass WikiLeaks dem ehemaligen NSA-Mitarbeiter bei seiner Flucht geholfen hat. In einer Stellungnahme der Enthüllungsplattform heißt es, er sei "auf einer sichere Route" nach Ecuador unterwegs. Russia Today berichtete, Snowden werde am heutigen Montagnachmittag mit dem Flug SU 150 nach Havanna weiterreisen und dann mit der Verbindung V-04101 nach Caracas. Der Reporter der Nachrichtenagentur AP, Max Seddon, berichtete dem widersprechend, dass der gebuchte Platz 17A frei geblieben ist. Befindet sich Snowden also noch in Moskau? Und steht das im Zusammenhang mit der Annullierung seines US-Reisepasses?

In westlichen Medien wird die Wahl des Ziellandes indes harsch kritisiert. Snowden fliehe zum "Presse-Knebler", hieß es in einem Autorenbeitrag der deutschen Website Spiegel Online, der nur knapp auf die Vorwürfe eingeht. Tatsächlich hatte die Regierung von Ecuadors Präsidenten Rafael Correa harte Auseinandersetzungen mit privaten Medienkonzernen, die sich ebenso wie in Venezuela und Bolivien mehr als politische Akteure denn als Medien verstehen.

Doch solche Fragen dürften für Snowden im Hintergrund stehen: Für den 30-jährigen steht zunächst eine sichere Zuflucht vor den US-Behörden im Vordergrund. Ecuador und andere beteiligte lateinamerikanische Staaten sehen in dem Fall eine willkommene Revanche: In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten gab es kaum einen rechten Diktator, Putschisten oder Terroristen aus der Region, der nicht von den USA aufgenommen wurde. Nun drehen diese Staaten den Spieß um.